Sonntag, 24. März 2013

Atonales Früherlebnis



 
Tapfer gegen den abermaligen völligen Verlust meines Taschengeldes ankämpfend schlich ich mit 12 Jahren eines Tages zwar zitternd vom schlechten Gewissen, aber wie immer trotzdem in den Kiosk in der wahnsinnigen Hoffnung, irgendetwas dort drin könnte mich doch noch vor den Kauf und Verzehr der Gummibärchen retten.

Und tatsächlich hatte Margitta, die Kioskinhaberin,  diesmal etwas, was noch nie zuvor hier war. Ein großer Stapel Langspielplatten, wenn auch diese Woche noch, wie sie betonte, nur von einem Musiker: Tschaikowski und dessen tolles  Klavierkonzert. Noch besser aber war der Preis, der mir gleich fünfmal von gedruckten Schildchen entgegensprang. Zwei Mark und fünfzig. Das war es! Ich musste diese Platte kaufen und schon würde sich mein Leben zum Besseren wenden. Ich hätte sogar noch zwei Mark übrig, um Dorchen meine Schulden zu bezahlen. 

Die Krönung war: es sollte eine Einführung in die Musik sein. Zu der Platte gab es ein Din-A-Heft mit großen Bildern, Noten und kleinen Texten. Ohne weiter nach zu denken, erstand ich das ganze, fühlte wohlige Schauer statt Zittern und Angstschmiere auf der Gänsehaut. Ich würde ab sofort zum besseren Menschen werden, eintreten in die wohlgeformte Welt von Tante Mathilda und Opa Augustin, vielleicht selber eines Tages wie sie am Klavier sitzen und zum vornehm leisen Applaus Melodien durch den Raum schweben lassen. 

Zu Hause legte ich die Platte auf und vertiefte mich in das Heft. Nach dem ich es durch gelesen hatte, fühlte ich mich bereit. Ich war sicher, jetzt etwas zu wissen, was die anderen nicht einmal erahnten. Einen ganz neuen Kosmos sah ich vor mir auftauchen und vor allem viel, viel Ruhe in meinem Herzen.

Dann hörte ich mir Tschaikowski an und wartete auf die Hauptmelodie, die sich kämpfend entwickeln sollte, wartete auf die Erfüllung der kleinen Texte, rätselte herum, ob das jetzt das Adagio oder Premissimo oder ähnliches war.

Während des Wartens nickte ich ab und zu ein und verzappelte mich in den Geräuschen der Instrumente.

Nur der Rhythmus des Orchesters blieb bei mir am nächsten Tag und so etwas Ähnliches wie Pauken und Trompeten. Darüber berichtete ich weder Heinz, noch Kalle oder gar Dorchen, der vielleicht dank seines theaterlichen Vaters am ehesten Verständnis gehabt hätte, verschloss sich ihm doch die Bretterwelt trotzdem genauso wie mir die der klassischen Musik.

Trotzig wiederholte ich in den nächsten Tagen den Versuch, kaufte wieder bei Margitta statt Gummibärchen die nächste Lern-Klassik, wobei Margitta mich etwas befremdet ansah. Wahrscheinlich hatte sie keine Ahnung von Klassik und hätte mich lieber bei den Gummis und Lackritzen behalten. Vielleicht hatte sie auch nur Furcht, den kleinen Gummibär-Süchtigen als Kunden zu verlieren, denn was sonst sollte passieren, wenn diese komische Plattengeschichte zu Ende ginge und sie für mich nichts mehr der Art zu bieten hätte?

Diesmal jedenfalls hieß der Komponist Brahms und nach dessen Anhörung war mir ungefähr so übel wie nach den Gummibärchen und so beschloss ich, es ab jetzt bei Tschaikowski  und Negerküssen zu belassen. Schlecht wurde mir zwar weiterhin bisweilen, dafür findet man in dieser Welt ja viele Möglichkeiten, aber musikalisch habe ich mich nie wieder erholt.

Daher gibt es bei mir weder Schallplatten noch ähnliche, spätere Tonträger und im Radio verfolge ich nur samstags die Bundesliga. Demzufolge entwickelte sich bei mir auch kein Hang zum Tanzen, worüber ich sehr, meine Frau am wenigsten froh war. Dass sie nur heimlich und wenn ich außer Haus war, Musik hören durfte, ginge ja noch, da fände sie ja Mittel und Wege genug, aber dass ich nicht einmal zu Familienfeierlichkeiten bereit war mit ihr wenigstens ein bisschen zu „Schwofen“, das erschiene ihr unerträglich und halte sie für besonders hartherzig, egoistisch und dämlich! Wie das ausging nach ein paar Jahren, lässt sich ja denken.
Merkwürdigerweise habe ich trotz aller meiner Abneigung beide Lern-Schallplatten behalten und eines Tages kam mein Bruder, um bei dem alten Junggesellen mal nach dem Rechten zu sehen, so drückt der Stiesel sich immer aus, nur weil er angeblich glücklich verheiratet fünf Kinder großzieht. Der nun fand die Platten und zog sie ohne auf meinen Protest sonderlich Rücksicht zu nehmen hervor und nahm ausgerechnet die Scheibe von Brahms aus der Hülle. Gut, dass ich keinen Schallplattenspieler mehr besessen habe seit jeden Einkäufen bei Margitta.
„Du, die haben Dich beschissen!“ sagte er plötzlich.
„Wer, warum, ist doch nur ‚ne Platte, Brahms heißt der Kerl.“
„Eben, auf der Hülle steht Brahms.“
„Ja und, was ist daran Betrug?“
„Na, daran nicht, vielleicht ist es ja auch nur ein Versehen, jedenfalls ist das hier nicht die Musik von Brahms.“
„Kannst du die etwa schon beim Anfassen und Hinsehen hören?“
Der Besser-Wisser-Bruder ging mir bereits wieder auf den Nerv.
„Nein, grummel doch nicht immer gleich so! Es steht auf der Platte: Arnold Schönberg heißt der Komponist! Wusste gar nicht, dass Du dich für atonale Musik interessierst?“
„Wovon redest Du? Was für Musik?“
Ich habe beide Platten sofort nach dem Weggang meines Bruders zerbrochen und in den Mülleimer geworfen. Laut seiner Erklärung wäre Schönberg auf keinen Fall etwas für den Einstieg in die klassische Musik gewesen, schon gar nicht für einen so von Musik ahnungslos gebliebenen Jungspund wie mich damals.

Da saß ich nun mit meinem Leben ohne Musik, ohne Tanz, ohne Frau, und das alles wegen einem atonalen Schönberg in einer Hülle von Brahms. Ich konnte es nicht fassen.

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