Tapfer gegen
den abermaligen völligen Verlust meines Taschengeldes ankämpfend schlich ich mit
12 Jahren eines Tages zwar zitternd vom schlechten Gewissen, aber wie immer trotzdem
in den Kiosk in der wahnsinnigen Hoffnung, irgendetwas dort drin könnte mich doch
noch vor den Kauf und Verzehr der Gummibärchen retten.
Und
tatsächlich hatte Margitta, die Kioskinhaberin, diesmal etwas, was noch nie zuvor hier war.
Ein großer Stapel Langspielplatten, wenn auch diese Woche noch, wie sie
betonte, nur von einem Musiker: Tschaikowski und dessen tolles Klavierkonzert. Noch besser aber war der
Preis, der mir gleich fünfmal von gedruckten Schildchen entgegensprang. Zwei
Mark und fünfzig. Das war es! Ich musste diese Platte kaufen und schon würde
sich mein Leben zum Besseren wenden. Ich hätte sogar noch zwei Mark übrig, um
Dorchen meine Schulden zu bezahlen.
Die Krönung
war: es sollte eine Einführung in die Musik sein. Zu der Platte gab es ein
Din-A-Heft mit großen Bildern, Noten und kleinen Texten. Ohne weiter nach zu
denken, erstand ich das ganze, fühlte wohlige Schauer statt Zittern und
Angstschmiere auf der Gänsehaut. Ich würde ab sofort zum besseren Menschen
werden, eintreten in die wohlgeformte Welt von Tante Mathilda und Opa Augustin,
vielleicht selber eines Tages wie sie am Klavier sitzen und zum vornehm leisen
Applaus Melodien durch den Raum schweben lassen.
Zu Hause
legte ich die Platte auf und vertiefte mich in das Heft. Nach dem ich es durch
gelesen hatte, fühlte ich mich bereit. Ich war sicher, jetzt etwas zu wissen,
was die anderen nicht einmal erahnten. Einen ganz neuen Kosmos sah ich vor mir
auftauchen und vor allem viel, viel Ruhe in meinem Herzen.
Dann hörte
ich mir Tschaikowski an und wartete auf die Hauptmelodie, die sich kämpfend
entwickeln sollte, wartete auf die Erfüllung der kleinen Texte, rätselte herum,
ob das jetzt das Adagio oder Premissimo oder ähnliches war.
Während des
Wartens nickte ich ab und zu ein und verzappelte mich in den Geräuschen der
Instrumente.
Nur der
Rhythmus des Orchesters blieb bei mir am nächsten Tag und so etwas Ähnliches
wie Pauken und Trompeten. Darüber berichtete ich weder Heinz, noch Kalle oder
gar Dorchen, der vielleicht dank seines theaterlichen Vaters am ehesten Verständnis
gehabt hätte, verschloss sich ihm doch die Bretterwelt trotzdem genauso wie mir
die der klassischen Musik.
Trotzig
wiederholte ich in den nächsten Tagen den Versuch, kaufte wieder bei Margitta
statt Gummibärchen die nächste Lern-Klassik, wobei Margitta mich etwas
befremdet ansah. Wahrscheinlich hatte sie keine Ahnung von Klassik und hätte
mich lieber bei den Gummis und Lackritzen behalten. Vielleicht hatte sie auch
nur Furcht, den kleinen Gummibär-Süchtigen als Kunden zu verlieren, denn was
sonst sollte passieren, wenn diese komische Plattengeschichte zu Ende ginge und
sie für mich nichts mehr der Art zu bieten hätte?
Diesmal
jedenfalls hieß der Komponist Brahms und nach dessen Anhörung war mir ungefähr
so übel wie nach den Gummibärchen und so beschloss ich, es ab jetzt bei
Tschaikowski und Negerküssen zu belassen.
Schlecht wurde mir zwar weiterhin bisweilen, dafür findet man in dieser Welt ja
viele Möglichkeiten, aber musikalisch habe ich mich nie wieder erholt.
Daher gibt es
bei mir weder Schallplatten noch ähnliche, spätere Tonträger und im Radio
verfolge ich nur samstags die Bundesliga. Demzufolge entwickelte sich bei mir
auch kein Hang zum Tanzen, worüber ich sehr, meine Frau am wenigsten froh war.
Dass sie nur heimlich und wenn ich außer Haus war, Musik hören durfte, ginge ja
noch, da fände sie ja Mittel und Wege genug, aber dass ich nicht einmal zu
Familienfeierlichkeiten bereit war mit ihr wenigstens ein bisschen zu „Schwofen“,
das erschiene ihr unerträglich und halte sie für besonders hartherzig,
egoistisch und dämlich! Wie das ausging nach ein paar Jahren, lässt sich ja
denken.
Merkwürdigerweise
habe ich trotz aller meiner Abneigung beide Lern-Schallplatten behalten und
eines Tages kam mein Bruder, um bei dem alten Junggesellen mal nach dem Rechten
zu sehen, so drückt der Stiesel sich immer aus, nur weil er angeblich glücklich
verheiratet fünf Kinder großzieht. Der nun fand die Platten und zog sie ohne
auf meinen Protest sonderlich Rücksicht zu nehmen hervor und nahm ausgerechnet
die Scheibe von Brahms aus der Hülle. Gut, dass ich keinen Schallplattenspieler
mehr besessen habe seit jeden Einkäufen bei Margitta.
„Du, die
haben Dich beschissen!“ sagte er plötzlich.
„Wer, warum,
ist doch nur ‚ne Platte, Brahms heißt der Kerl.“
„Eben, auf
der Hülle steht Brahms.“
„Ja und, was
ist daran Betrug?“
„Na, daran
nicht, vielleicht ist es ja auch nur ein Versehen, jedenfalls ist das hier
nicht die Musik von Brahms.“
„Kannst du
die etwa schon beim Anfassen und Hinsehen hören?“
Der
Besser-Wisser-Bruder ging mir bereits wieder auf den Nerv.
„Nein,
grummel doch nicht immer gleich so! Es steht auf der Platte: Arnold Schönberg
heißt der Komponist! Wusste gar nicht, dass Du dich für atonale Musik
interessierst?“
„Wovon redest
Du? Was für Musik?“
Ich habe
beide Platten sofort nach dem Weggang meines Bruders zerbrochen und in den
Mülleimer geworfen. Laut seiner Erklärung wäre Schönberg auf keinen Fall etwas
für den Einstieg in die klassische Musik gewesen, schon gar nicht für einen so
von Musik ahnungslos gebliebenen Jungspund wie mich damals.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen