Freitag, 17. Mai 2013

Besuch bei der Nachbarin



Es ist wahr, steht in ihren Augen, bewegt sich mit ihren Blicken durch die müden Wände zu den Räumen, spricht aber nicht davon, wozu auch, wo es alle wissen, jeder sie hier kennt, gehörte ihnen doch alles seit Jahrhunderten, hatten sich abgequält mit dem Boden, später war das Holz dazu gekommen, als man es durfte, sie sah es, ohne unsere Siedlungsgedanken, Ergebnisse aus Magazinen wie „Schöner wohnen“ oder „Mein Garten“, sah auch unsere Kinder nicht, sah sich selbst, dann die ihren spielen, streiten, aufwachsen, Schultornister auf dem Rücken, Kleider auftragen, selbstgenähte, später bei der Schneiderin. Da seufzte sie leise. „Alle tod, auch die Schneiderin.“ Wie sie hieß, woher sollte das einer von uns wissen, war bevor wir mit unseren Baggern hier ankamen.

Ihr Bett war das ihrer Mutter, dunkel von den Jahren, hoch am Kopf, niedrig zum drüber weggucken an den Füßen, wegen den Mägden, damit die sehen konnten, die Arbeitsbefehle entgegen nehmen, dann nur noch eine, die Magd, bis keine mehr da war, nur das Bett, vielleicht auch vor Scham mittlerweile mehr schwarz als braun, gute Eiche aus der Gegend, da drechselten die Drechsler noch, zimmerten die Zimmerleute und bauten solche Betten die Schreiner. Überall, jedes Dorf voller Werkstätten. „Kannengießer“, murmelte die Alte, „Beckenbauer“, „Rossschmiede“, „Besenmacher“ und heute, nur noch „Stubenhocker!“
Wir sahen uns, sie, uns an, ein Scherz von ihr? Ein böser Hinweis auf unsere Tätigkeiten?
Die Nacht strich über ihr Gesicht, aber ihre Hand gebot uns zu bleiben. Wir schwiegen das Gespräch zusammen, sahen alles in ihren Blicken, den Wind der Jahre mit ihr vorüber ziehen, wie sie das Geld bekamen, immer mehr, immer zu schnell verkauft, geärgert, weil der Bauer nebenan, der schon immer größer war, reicher war, schlauer, viel mehr bekam, wie sie beschlossen nicht aus zu wandern wie die Verwandten aus dem Nachbardorf, nach Amerika, dort verstorben, viel vererbt, mehr hörte man nicht, sie aber, hiergeblieben, Holzhandel aufgezogen, der älteste Sohn taugte nur nicht recht für das Geschäft, hier im Haus wie schon immer die Sorgen, die Pfanne dagegen erst auf dem Herd, dann auf den Tisch mit den Spiegeleiern und Bratkartoffeln, die selbst eingemachten Gurken im Glas daneben. Bissen für Bissen, Jahr für Jahr, sicher auch mit Schnaps hinterher, vorher oder ganz ohne, einfach aus der Flasche, ja auch mal am Morgen, genügend Brennereien rings um, sogar berühmte, später sehr berühmte, konnte man ja wohl nichts dagegen haben.
Unsere Häuser ließen ihren Blick nicht durch, zu wenig Kraft, wollte wohl auch nie
wirklich, nichts sehen von dem, was da bei uns warum auch immer anders ging. Warum wir unsere älteste Tochter nicht am Morgen in der Scheune fanden, der alten Scheune an der Straße immer noch zitternd bei Sturm und Wind, dort in der Mitte nahe der Leiter. Warum unser ältester Sohn nicht sein Blut vergoss im Sandkasten daneben, die Schrotflinte neben sich im wildwuchernden Gras, das schon lange keiner mehr mähte von ihnen, gab ja kein Vieh mehr dafür. Und jetzt unser Besuch, der Grund unseres Erscheinens, die jüngste Tochter, erhängt im Flur, wo ihre Mutter sie finden musste, sie, die nie fortging, die Tochter alles besorgen ließ, sich nicht mehr unter die Leute traute, hier, wo doch eigentlich alles ihr Land war, ihr Reich, aber wo nicht mal ihr Name der Siedlung geschenkt wurde wie bei den Pottkerdieks neben an, dieser Bauer hatte natürlich seinen Namen dafür geben dürfen, trotz seiner paar Kühe im Stall, den paar Legehennen auf dem Hof und hatte alles so umgebaut, als wäre er nie Bauer sondern dies ein Adelssitz gewesen, während sie hier nur innen die Ställe zu Wohnungen gemacht hatten, für die Kinder zum Leben, was aber wohl nicht gereicht hatte, waren dahin gegangen wie die schönen alten Bäume, eines und einer nach dem anderen, hatte sich so nicht mehr raus getraut, war nur mit dem Taxi zum Arzt gefahren, weil ihre Tochter unpässlich war, die mit ihrer Migräne und dem Kotzen immer, wollte dann auch die Pfanne nicht auf dem Tisch, ja und dann hing sie da, unübersehbar und doch ist sie dagegen gestolpert, hatte den Boden betrachtet, die alten Fliesen, sehr sauber hielt ihre Tochter das Haus ja wirklich nicht, und dann war sie auch die Tochter los. Da hatte sie nicht zum ersten Mal den Verdacht, dass das alles von ihm kam, von ihm, der vielleicht gerne gefallen war vor Stalingrad, nichts Held, nur Flucht, wie seine Kinder. Brauchte ja nicht mal einen Strick zu nehmen. Diesen Rest erzählte sie warum auch, zwar leise aber verstehbar, ließ uns Fremde teilhaben an etwas, was sie doch wissen musste, für uns nicht mehr Verstehbares, aus der finsteren Erzählzeit dieses Landes, oft genug im Schulbuch vor die Nase gelegt und abgefragt bekommen. Was waren das nur für …wer wollte richten, so hier und jetzt denken also besser nur nicken, schweigen ihren Blicken durch die Staubbahnen zur Wand folgen, zum Fenster, so wie er gerade an uns vorbei durch die schmale Kammer strich, bei wie immer verrammelten Fenstern zur Terrasse hin, auf der sie früher ab und zu aber auch schon sehr selten saß, wenn die Enkelkinder in dem Sandkasten mit der Katze spielten und dabei Kartoffeln schälte. Diese, die uns hereingelassen hatten, stumm, leere Gesichter, blass, viel zu jung noch immer für all das hier.
„Viele sind wir ja nicht mehr. Und mir hat der Arzt an dem Tag gesagt, ich könnte noch über hundert Jahre alt werden. Über hundert!“ Sie kam plötzlich hoch, bellte es, sah uns starr an und lachte und lauter und lauter, lachte, schrie dazwischen „Wozu, warum? Warum ich?“ und lachte weiter, hörte sich an wie heiseres Hundebellen, ja, wie das des alten Schäferhundes im Schuppen, den sie einschläfern mussten, bellte, lachte, biss geradezu mit ihrem Lachen uns hinaus, hörten es noch in unseren Häusern, obwohl wir sofort die Jalousien herunter ließen.

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