Freitag, 3. Mai 2013

Unser Abenteuer im Leben



Also hier, liebe Mitbewohner dieses altehrwürdigen Seniorenheims, hier ist mein Abenteuer des Lebens, das erste Mal erzählt:

In der Straße hing wieder dieser süßlich strenge Geruch der Werften mit ihrem Löten, Schmieröl und Metallbearbeiten und der Kaffeefabriken, Duft meiner Nächte, wenn ich nicht schlafen konnte, vor allem jetzt im Mai, da die Tage wärmer wurden und auch die Restwärme in den Nächten stieg. Da wanderte ich besonders gerne um den Pudding, wie wir hier sagten. Alle drei Wochen trieb es mich so rum, Folge der Nachtschichten, wenn danach die Spätschicht kam. Dafür konnte ich morgens ausschlafen.

Ich versuchte stets so leise wie möglich unser Haus zu verlassen, diese Nummer 25, von Schwiegereltern mit Adolfs Geld erbaut und ratenmäßig noch vor dem Ende des Krieges abbezahlt. Damit ist klar, wir waren die Ungeraden und die auf der anderen Straßenseite die Geraden. Dazwischen die Kopfsteine mit Farbflecken von Bierkutschen, die gestern zu unserer Freude durchkamen und reichlich Pferdeäpfel da ließen für unsere Gärten.

Leise musste ich sein, schliefen doch in den Zimmern auf das ganze Haus verteilt meine Schwiegermutter, mein arbeitsloser Schwager ohne Aussicht auf eine Frau, meine Schwester mit ihrem wachsenden Babybauch, den noch keiner sehen sollte, meine drei Kinder, 8, 10 und 14 Jahre. Ja, eines ist gestorben im Kindsbett, wäre nun 12 Jahre alt. Und natürlich meine Frau, die nun alleine unser Ehebett warm hielt.

Mehr Personen als Zimmer, trotz der Kammern auf dem Dachboden. Leider, andererseits sah es hier in allen Häusern so aus. Zwar zogen jetzt die Kinder in die großen und modernen Hochkästen am Stadtrand mit Badezimmer und Balkon, noch aber wollten wir hier geborenen lieber weiter hier ausharren. Wer wusste, was noch käme? Hier wusste man, was man hatte.

Einige Häuser waren regelrecht verwaist, nur noch die Großeltern, zum Beispiel hier die Meyerdierks, Witwe, dort die Beermann, auch verwitwet, und da die Hasenklee, Mann schon Pflegefall. Ihre Häuser waren gut zu erkennen an den Zäunen der kleinen Vorgärten, ihre dicken Lackmäntel werden jedes Jahr erneut übergestrichen um glänzend den Vorbeikommenden an zu lächeln. Eine Oberfläche wie eine Berglandschaft, verkratert, versplittert, nirgends eine glatte Fläche.

Und wir anderen freuten uns über die Parkfläche, bei Feiern standen die Autos bereits in zweier Reihen und durch die Kinder, die schon in Ausbildung waren, wurde es noch enger.

Ich ging gerne hier durch, vor allem nachts, wo auch die dicke Martha schlief und nicht am Zaun mit ihren neugierigen Kugeläugchen herumhängen und mich anquatschen konnte. Ganz sicher war ich mir trotzdem nicht, ob sie nicht doch hinter der Gardine lauerte, sobald unser Pförtchen leise quietschte. Ihr Mann fuhr zur See und so quälte sie ihre Schwiegertochter, ebenfalls eine Seemannsbraut, ließ sie schuften und machte sich mit ihrem Enkel ein bequemes Leben. Ihm sah man es auch an, wuchs im Umfang ihr entgegen, während seine Mutter irgendwie es schaffte immer schmaler und dünner zu werden. Vielleicht hoffte sie, eines Tages ganz unsichtbar werden zu können. Wenn die Männer da waren, klang es auch nicht lustiger bei denen, nur lauter.

Wir Familien hatten neue Zäune aus glattem, grauem Metall, tauschten aus, ließen nicht mehr streichen oder reparieren. Auch pflanzten wir anders als die Witwen. Büsche, die nur im Herbst geschnitten werden mussten, etwas Rasen vorne, viel Rasen hinten, wo früher noch Kartoffeln in der Erde steckten, Bohnengestänge bis zu den Balkonen reichten. Und wir guckten Farbe, während die Witwen sich weiter mit Neckermann Drehknopf und schwarz-weiß begnügten. Radio spielte bei uns nur noch am Tag und wir saßen auch nicht mehr mit gefalteten Händen um den Couchtisch gequetscht davor. Schwester und Schwager guckten bei ihm in den kleinen Transportalen mit Zimmerantenne. Ja, es hatte sich viel geändert für uns und jedes Jahr stiegen die Löhne, in dem Jahr über 10%.

Trotzdem konnte ich nachts nicht gut schlafen und so dachte ich auch an die, die weniger Glück hatten, wie Paul, der Sohn von Inge Harms, in den glühenden Stahl gefallen und nun als unförmiges Gussstück auf dem Werksgelände aufgestellt, neben all den anderen, die wie er einmal nicht aufgepasst hatten. Für die Werksleitung war die Ursache immer ähnlich: „Selbstverschulden durch Alkohol oder Leichtsinn, Missachten der Vorschriften“. Zu viele Überstunden zählten nicht dazu.

Und die machten wir alle reichlich. Unsere Sparguthaben wuchsen, nur von Autokäufen und Mobilaraustausch etwas geschmälert. Urlaub in Italien, mal nach Amerika, alles war möglich geworden.

Ja, und Heinz, dem fehlte der rechte Arm, abgesägt in der Schlosserei, Willy, der witzige Willy, Hand zerquetscht in der Rührmaschine der Bäckerei an der Ecke. Da hatte der junge Ernst noch Glück gehabt, nur zwei Fingerkuppen weg. Mit den Stumpen rührte er gerne den Frauen den Kaffee um, was die schimpfen und kreischen ließ, dachten die Fremden doch, er hätte seine Kuppen in ihrem Kaffee versenkt.

Mir ging es dagegen also richtig gut. Familienvater, Schweißer mit gutem Einkommen, mehr als jeder Bürofutzi den ich kannte, wohnten natürlich nicht hier, waren als erstes in die dem Himmel näheren Neubauten gezogen, entsprach ihren den ganzen Tag sauberen Klamotten und weißen Hemden wohl mehr.

Bei uns dagegen: etwas beengtes Wohnen, dafür Garten am Wochenende mit neuen Liegestühlen, Wasserklosett, jedes Jahr ein neues Auto. Was wollte Mann mehr. Und für die Ruhe hatte ich ja die Nacht.

Bis Addo auftauchte in der Nacht. Addo, dessen Eltern ihn nach dem Gröfaz genannt hatten, Hitler Adolf, was ihnen weder Leid noch Kummer im Krieg ersparte. Haus in Trümmern, Vater gefallen, erfroren in Russland, genaues unbekannt. Sie wegen eines Witzes vom Blockwart denunziert im Knast, Addo im Heim. Erst nach dem Krieg ließ man sie nach etlichen Behördengängen wieder zusammen. Da war es wohl zu spät, auf jeden Fall für Addo. Der kam bis zu diesem Tag nicht mit seinem Leben zurecht. Hatte dabei schon längst vergessen, dass er eigentlich Adolf hieß und nach wem.

Ich traf ihn in eines nachts in der „Langen Kante“ an, der einzigen Stadtkneipe, die durchgehend offen haben durfte, neben vier kräftigen Zuhältern sitzend, je zwei links und rechts von ihm.

Addo und ich kannten uns von der Straße als Nachbarskinder, waren in den Rotten auch mal zusammen unterwegs gegen die Kinder der anderen Straßen losgezogen. Waren uns aber nie näher gekommen, lag vielleicht auch am Altersunterschied und daran, dass ich in der 13 als Pflegekind angekommen und bei Hermann und Luise, einem kinderlosen älteren Ehepaar aufgewachsen war, die mich vor allem abschirmten, wo nach ihrer Meinung mir unzulässige Gefahren drohen könnten. Kurz, ich galt als Feigling und Sensibelchen mit Hang zum Petzen. Bestimmt keine Empfehlung für eine Freundschaft mit dem jüngeren Addo, der keiner Klopperei aus dem Wege ging und jeden Tag neue Ideen mitbrachte zum Toben und Spielen.

Ich kam gerade dazu, als Addo kurz davor stand eine gescheuert zu bekommen von Gustavo, dem links von ihm, so eine Art Revierkönig im Viertel der kleinen Hütten und dunklen Zimmer, kurz Rotlichtviertel genannt, obwohl es eher violett leuchtete in der Nacht am Hafen. Auch die „Lange Kante“ war eine solche Bretterbude, in ihrer Mitte wuchs eine große Buche durch das Dach und als Boden galt die dunkle, nackte Erde, in die sich unzählige Kippen verkrümelten. In Anbetracht einer drohenden Schlägerei suchte ich mir gerade meine Ecke für solche Gelegenheiten und wollte schon auf dem Baumstumpf Platz nehmen, die hier als Hocker dienten, da kam Addo schon angeflogen auf diese graue Erde, bekam davon ins Gesicht und in den Kragen, was ihm weniger Kummer bereitet haben dürfte als der gezielte Fußtritt vom „bunten Peter“, der zweite Revierförster für die Mädels draußen an den Bordsteinen.

Leider sah Addo mir in diesem Moment direkt in die Augen, flüsterte „Hallo“ und krabbelte auf mich zu. Ich winkte vorsichtshalber entwarnend zu den Zuhältern rüber, die beruhigt uns ihre Rücken zukehrten und über das Geschäft prahlten. Konnten sie auch, der Peter hatte draußen einen roten Porsche wie Jerry Cotton und Gustavo fuhr einen Ferrari wie sein Idol Günter Netzer. Die anderen beiden gaben sich mit Masaratis zufrieden. Man konnte gut mit ihnen auskommen, ich jedenfalls, gut musste mal ne Runde mehr blechen oder Zigaretten für sie aus dem Automaten im Türeingang ziehen, was für sie natürlich unter ihrer Würde war, aber dann grüßten sie freundlich und gaben auch mal einen aus. Keiner von uns anderen wäre je auf die bescheuerte Idee gekommen, sich mit denen an zu legen. Warum auch? Die hatten ihr Geschäft, wir unseren Job. Und ohne deren Angebot hätte es in manchen Häusern noch mehr Terz gegeben. Also, was solls. Noch schwangen in uns allen die Lieder von Freddy und Hans Albers nach, Hafenromantik und wir lebten hier schließlich am und vom Hafen.

Addo machte sich andere Gedanken.
„Kannst Du mir hochhelfen?“
Ich konnte, hätte es aber besser bleiben lassen sollen, wenn ich an später dachte. Addo war an diesem Abend wie verwandelt, stellte viele Fragen, frotzelte und witzelte kein einziges Mal, hörte richtig zu und brachte mich ins Erstaunen und in die Bredouille, ihn von da an ständig bei meinen Nachtspaziergängen an den Fersen zu haben. Vorbei war es mit der Ruhe, den Gedanken, dem einfach mal Umgucken, Zuhören und Hinschauen.
Die Nacht schritt voran und beim ersten Mal ließ er mich ohne Gegenwehr meinen Heimweg antreten.

Mit der Zeit bekam ich mit, dass alle hier besser über Addo informiert waren als ich. In der Fremdenlegion soll er angeheuert haben und dann zur Bundeswehr geflohen sein. Gesessen hätte der auch schon und auf keinem Fall Geld geben, auf „Nimmer Wiedersehen“! Den Führerschein hätten sie ihm abgenommen als er im Vollsuff einen Panzer der Kaserne entführt und in das Haus seiner Angebeteten gefahren hätte, die danach noch mehr froh gewesen wäre, nicht auf diesen „Onkel Schnatter“ reingefallen zu sein.

Es gab also gute Gründe ihm aus dem Weg zu gehen, was nicht so einfach war, da man nachts alle Schritte hören konnte, ungeachtet der Arbeitstöne von den beleuchteten Werften und Kaffefabriken, in denen die Nachtschichten noch mehr Kohle brachten. Glück hatte ich, wenn ich ihm in die „Lange Kante“ entkam, denn dort hatte er nach der Nacht unserer Wiederbegnung Lokalverbot bekommen weil er seinen Deckel nicht bezahlen konnte und Gitta und Trude, die beiden Wirtinnen einfach keine Lust mehr auf seine Angebereien und Streitereien mit den Gästen hatten. Vielleicht hatten aber die Revierförster ihnen auch bedeutet, dass er ihnen auf den Sack ginge.

Viele meinten in der Firma, Gitta und Trude wären ein Paar, „hässlich und hässlich“ sagten die, die es nicht besser wissen konnten oder wollten. Dabei sahen wir alle reichlich schräg aus, sichtbare Folgen des Krieges und der Hungerjahre danach. Einige hatten Schwämme im Gesicht, anderen waren die Lippen gespalten worden oder ein Auge entfernt, Zähne waren auch nicht gerade unser Stolz und viele hinkten, hatten bescheuerte Angewohnheiten oder Zuckungen bekommen. Manche waren aufgepumpte Masse wie Ludwig Erhard, andere ließen Fett und Speck einfach keine Chance an ihren Knochen Halt zu finden. Auch unsere Frauen waren nicht gerade Kandidatinnen für Pin-Up-Kalender. Trotzdem galten Gitta und Trude als die Hässlichen.

Die von uns, die zwischen durch mal von Gitta oder Trude nach oben gelockt worden waren, hielten darüber hinterher stets die Klappe, galten die beiden ja nicht gerade als tolle Eroberung. Nur der Rottler, der freute sich noch immer, dass er mit beiden sein Stündchen hatte haben dürfen und schwärmte leise von ihren Liebesfähigkeiten und „echt geilen Körpern“, so was hätte er noch nie gehabt. Aber der galt ja auch als Kommunist, war unter Adenauer im Knast, vorher bei den wilden Streiks auf der Werft dort rausgeflogen, ein paar Jahre zur See gefahren und hatte dann beschlossen, an Land zu bleiben, echtes Kind unserer Straße, ging jeden tag, wenn ein Hilfsjob zu Ende war zum Arbeitsamt im Hafen, nahm jede Arbeit an und galt trotzdem als Frohnatur, ein echtes Stehaufmännchen.

Wenn man Gitta und Trude so hinter der langen Theke hin und her wuseln sah, beide grobknochig, Hakennasen, wilde Flecken auf den Wangen, Struppelhaare ohne Versuche der Bändigung, die eine blond, die andere schwarzhaarig, mit Stimmen wie aus einem tiefen Brunnen, Kleider wie aus dem Bestand des roten Kreuzes, mochte man sich so etwas wie die Andeutungen vom Rottler gar nicht vorstellen. Wir schätzten ihr Alter auf ungefähre Mitte vierzig, sicher war aber keiner. Wer sie zum ersten Mal erlebte, konnte leicht auf die Idee kommen, die beiden seien Schwestern, so sehr ähnelten sie sich in den Bewegungen, Stimmen und Aussehen. Aber in Wahrheit waren sie dies nicht und keiner von uns wusste wie sie das Schicksal hierhin geführt hatte und es zu ihrem Kneipendasein gekommen sein mochte.

Als in einer Nacht mal nichts los war und sie Zeit zum Reden hatten, erzählte mir Trude, sie seien sich in Stukenbrock, einem Strafgefangenenlager, eigentlich KZ der Nazis,  begegnet und nach ihrer Befreiung zusammen weiter gezogen, weil sonst niemand mehr auf sie gewartet hätte und so seien sie in unsere Stadt gekommen, hätten diese Hütte billig bekommen und seitdem wäre dies ihr zu Hause. Und ja, sie seien zufrieden, besser als ihr Nuttendasein im 3.Reich an der Front. Ja, das hätten die Nazis damals so organisiert, als Truppenbetreuung. In Frankreich sei das gewesen und da hätten sie Kontakt mit Leuten der „Roten Kapelle“ bekommen und für die Resistance gearbeitet bis sie verraten wurden. Ihr Angebot nach oben, habe ich aber abgelehnt. Danach wurde ich von beiden eine Weile misstrauisch angesehen und wenig beachtet.

Ich entkam Addo trotzdem natürlich nicht, eine um die andere Nacht stellte er mich, und so wehrte ich Vorschläge ab wie Besuche der dunklen Hinterkammern, der Mitnahme von zwei Mädels in meinem Wagen, einen Bruch in den neuen Supermarkt von „Kaisers Kaffee“, auch zum Fischmarkt nach Hamburg mal eben wollte ich nicht und leihen wollte ich auch nicht, tat es aber doch , immer nur kleine Beträge, waren eh weg.

Das ging so bestimmt 2 bis drei Monate und ich flüchtete bereits in weit entlegene Viertel, um ihn nicht treffen zu müssen. Da passte er mich direkt in der nächsten Seitenstraße bei den Zollhäusern ab.

„Ich brauche Dich! Du musst mitkommen! Bitte, kostet Dich auch nichts und kein Bruch! Ehrenwort“.

Er stand direkt vor mir, klein, kräftig, ungewaschene Discoklamotten, viel zu dünn für die Nacht mit nackter Brust und Goldkettchen.

Ich dachte nur: „Armer Addo. Arme Hermann und Luise, wenn die mich jetzt mit ihm sehen müssten! “ Und versuchte weiter zu gehen.

Aber er ließ mich einfach nicht vorbei, nervte, tat auf Mitleid, ließ mich einfach nicht vorbei, dass ich schließlich doch fragte, was denn los sei.

„Du hast doch diese Münzen, diese Olympia-Taler, die von denen Du neulich gequatscht hast?!“

Ja hatte ich und wusste nicht, warum ich ihm dies eigentlich erzählt hatte. Vielleicht weil ich über meine Schwiegermutter verwundert und verärgert zugleich gewesen war, denn diese hatte mir die Serie von 5-Mark Stücken mit Olympia-Motiven geschenkt, obwohl ich überhaupt keine Münzen sammelte, auch kein großer Sportfan und mir der Spektakel der gerade in München ablief, ziemlich egal war. Und so hatte ich in der Nacht auf der Suche nach einem Gesprächsthema mich wohl mit dem Restfrust im Bauch verplappert..

„Kannst Du die holen, sofort?!“

Klang mehr wie ein Befehl als wie eine Frage. Ich sträubte mich, wollte plötzlich auf keinen Fall mich von den Münzen trennen, auf jeden Fall sie nicht in Addos Taschen verschwinden sehen. Aber der Kerl hatte einfach das Talent mich zu überreden und das, obwohl er mit keiner Silbe verriet, was er damit vorhatte. Gingen wir also zurück zu mir, bat, beschwor ich ihn bei der Ecke und nicht vor unserem Haus zu warten, holte sie tatsächlich heraus als wäre ich von ihm hypnotisiert worden, ging neben ihm wie ein Schlafwandler und kochte innerlich über meine eigene Dummheit und Schwäche.

Wir gingen nicht weit, nur bis zu dem schwarz-weiß gefliesten Striptease Lokal in der Nebenstraße, das hier seit Kriegsende seine Dienste anbot weit weg vom Viertel der Bordschwalben und ihrer Förster. Kein Mensch wusste wovon die lebten und wer dort hinging. Ich kannte niemanden. Alle im Viertel vermuteten Geldwäsche und Drogengeschäfte dahinter.

Addo drückte den verrosteten Knauf, der wohl als Klingel diente. Es kam mir vor, als würde er morsen. Vielleicht ein Geheimcode für besondere Gäste. Eine Weile geschah nichts und ich hoffte schon, ich könnte mich mit den Münzen rasch verziehen, als ein Hüne von Kerl in Motorradkluft die Tür öffnete, kurz auf die Straße sah und uns rein schob.

„Ihr werdet erwartet. Der Boss dachte schon, wärst mal wieder stiften gegangen! Pass auf, dass Du Dir nicht mal den Hals brichst!“

Ich versuchte in dem schmalen Gang und den sich danach öffnenden dunklen Raum etwas zu erkennen. Stange auf einer Minibühne, wie erwartet und das war wohl zugleich der Tresen, davor Apfelsinenkisten mit Kissen. Dicke Scheinwerfer hingen schwer von der Decke herab, beleuchteten schwach die rauchgeschwängerten dicken Samtkordvorhänge in violett und rot an den Wänden, die hier als Tapete dienten und wohl auch als Schallschutz. Es roch nach Schweiß und Urin, wahrscheinlich stand die Tür zum WC auf.

Der Hüne führte uns in einen weiteren kleinen Gang und klopfte an eine mit dunkelgrünem Kunstleder gepolsterte Tür, dessen Nieten golden glänzten. Von ihm kam offensichtlich der hier in der enge fast unerträgliche Schweißgeruch. Einen Moment lang war ich versucht zu glauben, es könne sich um Angstschweiß handeln, aber ein Blick in sein trockenes Gesicht sagte mir, dass es wohl an mangelnder Körperhygiene lag.

Den Anblick, der sich uns hinter dieser Tür bot, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es war, als treten wir in einen billigen Amifilm aus Cappones Zeiten. Hier war alles in helles, richtig grelles Licht getaucht. Wir betraten einen richtigen Thronsaal mit Leoparden Fellen links und rechts der mit goldfarbenen Decken geschmückten Bühne, auf den Fellen lagen in Lebendgröße zwei Leoparden aus Porzellanwie die Sphinxen vor den Pyramiden, dazwischen saß aufrecht ein kleiner Mann auf einem Thron wie zu König Richards Zeiten, ganz unpassend aber dazu mit offenem Hawaihemd, wohl damit man seine Haare und die darauf ruhende Goldkette sah, an deren Ende irgendein Gebilde tapfer Edelsteine versuchte festzuhalten. Dieser Schmuck ruhte auf einem regelrechten Kugelbauch, den man fast für einen dunkel verschmierten Globus halten konnte. Offensichtlich versuchte das Wesen vor uns seine Haut mit Piz Buin zu bräunen, was aber zu einer Fleckenkarte geführt hatte mit einem Braun wie beim Dünnschiß. Den Mann schien das nicht zu stören, im Gegenteil, er sah uns selbstbewusst und wie bereits von seinem Türsteher angedeutet, etwas ungeduldig an. Neben ihm standen noch so zwei Kawenztypen in Lederkluft, behängt mit schweren Ketten und die stemmten, warum auch immer, ihre Fäuste in die hervorquellenden Hüften. Hinter dem Thron befand sich eine von den scheußlichen Fototapeten mit Südseemotiv für Arme.

Ich dachte nur, wenn Hermann und Luise mich hier sehen müssten, oder meine Familie, was würden, ja müssten die über mich denken? Als unser Hadeswächter auch noch die Tür hinter uns schloss und sich dann breitbeinig hinter uns, allerdings mehr hinter Addo als hinter mir, aufgestellt hatte, wurde mir klar, dass wir hier nicht so einfach wieder rauskämen.

Addo zeigte sich zu meiner Überraschung von allem völlig unbeeindruckt und bat mich nur, dem Häuptling vor mir, er nannte ihn tatsächlich „King Dschordsch“, die Münzen zu zeigen. In diesem Moment war mir völlig egal, was mit denen geschah, möge er sie mir doch entreißen oder was auch immer. Hauptsache wieder heil raus hier.

Dann fing das Wesen vor mir an zu sprechen. Die Stimme musste er einer Kreissäge gestohlen haben. Fast hätte ich mir vor Schreck die Ohren zugehalten, was sicherlich seinen Belzebuben vor mir nicht gefallen hätte, ihm wahrscheinlich noch weniger.

„Und Du kannst unbegrenzt davon besorgen für 5 Mark den Satz?“

Nein natürlich nicht, nicht mal einen, schließlich hatte ich den hier nur geschenkt bekommen. Erschrocken sah ich zu Addo und was tat der Kerl? Der nickte und so nickte auch ich. Was sollte mir schon geschehen, im Moment glaubten die ja wohl nicht, dass ich auf der Stelle ein paar Tausend Sätze präsentieren könnte. Hoffte ich zumindest.

„Bis wann?“

Ja, bis wann, ich sah weiter zu Addo. Der nickte mich jetzt energisch an, als wolle damit behaupten, ich hätte einen Plan und könnte den spielend in die Tat um setzten.

„Ich kann nur welche besorgen, mit dem Verkauf kann ich nicht dienen!“

Zeit schinden, Zeit schinden. Zeit schinden.

Alle schienen mich neugierig an zu sehen, als wäre ihnen so etwas wie ich noch nie untergekommen. Dann beendete die Kreissäge das Schweigen.

„Ist doch klar. Keine Sorge! Das Verkaufen übernehmen wir.“

Im B-Film lachten die dann immer grässlich. Es war ein B-Film. Sie lachten grässlich.

„Also bis wann?“

Ja, gute Frage, vor allem ob jemals überhaupt. Ich überlegte, sah Addo an, der sah mich langsam nervöser werdend an und die sahen uns an. B-Film eben.

„In Ordnung, bis Freitag! Geht das für Dich klar?“

Immer, klar ging das klaer, Hauptsache nicht heute und hier und jetzt.

„Freitag geht klar.“

Woher hatte ich bloß diese mickrige Stimme plötzlich auf der Zunge rumkrabbeln?

„Addo?!“

Der zuckte leicht zusammen, grinste aber schon wieder.

„Freitag, rodscher! Wie viel?“

Lange Sätze kannten die hier offensichtlich nicht oder mochten sie nicht.

„Hugo?“

„10.000 geht klar. Sind da!“

Der Hugo neben ihm war offensichtlich der Kassenwart von diesem Verein. Aber die wollte er mir doch wohl nicht mitgeben jetzt für die Münzen? Oder doch?

„Aber nicht an Addo! Nur an den Typen, der brennt bestimmt nicht damit durch, nicht wahr Onkelchen?!“

Hörten B-Filme nicht irgendwann auf? Onkelchen? Addo neben mir nickte mal wieder.

„Aber wenn doch, dann lieber Addo …. Komm mal her, ja ganz, so ja, also Addo, dann puhlen wir Dir Dein Gehirn mit ein paar feinen Kugeln aus Deiner hohlen Schale! Klar?“

„Klar!“ Irre, wie Addo lügen konnte direkt in das Gesicht dieses kleinen Möchtegern Napoleons.

Und dann gab mir Hugo 10.000 Mark und der Erzengel Gabriel dieses Strip-Lokals brachte uns zurück durch die kleinen Flure und Räume zur Tür, hieb Addo kräftig auf die Schulter und gab ihm auch noch eine Kopfnuss, so dass Addo eine Platzwunde auf der Stirn bekam und dann standen wir wieder in der klaren Nacht, ließen uns vom Mond bescheinen und in meiner Hand zitterten tausend Riesen.

Kaum waren wir ein paar Schritte gegangen meinte Addo „Halbe Halbe“ und streckte seine Hand aus.

„Auf keinen Fall“, rief ich. „Leiser“, flüsterte Addo, „willst Du alles, biste bescheuert?“. „Nein,“ antwortete ich nun auch leise, „gar nichts. Ich will Null von dieser Kohle! Verstehst Du? Nimm sie und hau ab damit!“

Addo strahlte, nahm das Geld und verschwand hastig an der nächsten Straßenecke. Seitdem haben wir uns weder gesehen, noch habe ich je wieder von ihm gehört. Mit mulömigen Gefühl schlich ich durch das Viertel, immer in der angst sie könnten irgendwo auf mich lauern. Schließlich aber beruhigte ich mich etwas und als ich vor unserer 25 stand, war ich ziemlich sicher, dass sie mich nicht bis hierhin verfolgt hatten. Das war mein letzter Nachtspaziergang.

Seitdem wälzte ich mich schlaflos neben meiner Frau hin und her, begann Bücher in der Nacht zu lesen im Wohnzimmer und sah mich auch tagsüber noch Monate danach nach ihren Gestalten um. Die Straße mit ihrem Lokal mied ich völlig.

Mit der Zeit kam mir die ganze Geschichte immer absurder vor, gab es wirklich solche Deppen in dem Milieu? Wenn ich tatsächlich so billig an die Sätze herangekommen wäre, warum sollte ich dann ihnen den Gewinn überlassen? Völlig bescheuert. Ich habe bis heute nie davon erzählt, niemanden, irgendwann tatsächlich an einen schlechten Traum gedacht.

Natürlich merkte meine Familie in den nächsten Tagen und Wochen eine Veränderung bei mir. Sie gewöhnten sich daran und fragten nie. Recht schnell begann ich meiner Frau auseinander zu setzen, dass unser Erspartes langen müsste für ein eigenes Haus. Sie war begeistert und bald schon machten wir Pläne, erkundigten uns, Ende vom Lied, wir bauten außerhalb der Stadt in einer neuen Pendlersiedlung, zogen dort ein und die anderen blieben bei Schwiegermutter bis sie starb. Danach verkauften wir das Haus an eine große Familie von rußlanddeutschen die mit noch mehr Personen als wir damals einzogen und ohne Murren ein stattliches Sümmchen zahlte.

Wir fühlten uns wohl in unserer Siedlung und dachten kaum noch an unsere alte Straße zurück. Hier hingen nirgendwo röhrende Hirsche über den Sofas oder schwarzhaarige Zigeunermädchen von Woolworth. Hier hingen Farbtupfer auf weißen Raufasertapeten, standen richtige Regale und Schränke und keine kleinen Bücherborde für fünf Bücher und ein Bild. Nur unsere Nachbar kennen wir kaum, viele gar nicht. Addos tauchten hier nicht auf und man hörte es auch nicht, wenn Ehemänner heimkamen und wieder das Regiment übernahmen.

„So, das war mein Abenteuer, mein einziges in meinem Leben, bisher jedenfalls. Und jetzt bin ich neugierig auf Eure Geschichten.“

„Oh, vielen Dank, das war ja richtig spannend. Aber gleich ist Abendbrot und danach wollen wir uns doch den Dia-Vortrag von Herrn Huber ansehen und hören.„

„Schon wieder!“ Alle im Chor.

„Italien, Italien habt ihr noch nicht gesehen. 1951, mit dem Käfer und Zelt in Rimini! Müsst ihr sehen, mit FKK!“

„Herr Huber!!!“

„War’n Scherz.“

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