Der Mai traf ein mit vielen Wolken, schlimmer noch, mit Regen
und ohne Aussicht auf Besserung. Der Garten halbfertig, ansonsten aber alles
bereit unsererseits für den Beginn des hoffentlich endlich mal wieder etwas
länger anhaltenden Sonnenscheins des Sommers.
Und meine im 6ten Jahrzehnt müde gewordenen,
überstrapazierten Knochen zwickten und knirschten nörgelnd und erwartungsvoll in
mir rum. Sogar meine Haut schwitzte und juckte protestierend von dem
Kältebetrug der Jahreszeit. Körper und Seele hatten von Regen, Kälte,
Dunkelheit mehr als genug in diesem Jahr. So kam im Geiste absolut unfreiwillig
aber mehr als hartnäckig der alte Rudi-Carrell-Song in mir hervor und nervte
wie schon in jenem berüchtigten ausgebliebenen Sommer: „Wann wird endlich
Sommer?!
Und dann traf ich ihn, den Sommer! Meinen Sommer wie in
Kindertagen, noch mehr wie in meinen letzten Jugendtagen, meinem Sommer endloser
Wärme, Hoffnung und Freude. Sommer der Zukunftgewißheit, der Unendlichkeit von
Kraft und Leben und der Gewissheit von garantierter Erfüllung tiefster
sehnsuchtsvollster Wünsche. Mit dem Vertrauen auf die eigene Kraft und Überlegenheit
des Geistes.
Einen Sommer, der einen durchwärmt und mit genügend Hitze ausstattet
für die kälteren Jahreszeiten, der einen füttert für den Rest des Lebens, der
einen begleitet bis zum Abschied von diesem Leben, immer noch ein wenig Wärme
im Krug, immer noch ein wenig Sonnenschein davon in der Seele, das, wofür sich
dieses Leben auf jeden Fall gelohnt hat.
Ich traf ihn, er traf mich, bei ALDI, gleich am Eingang, wo
die Korbwagen mit den neuesten Lebensmittelangeboten stehen. Traf mich mit
einem Berg von prall gefüllten Tüten. Der Preis darüber war mir sofort egal.
Wie damals. Wie dort auf den Wiesen des Werdersees in meinen letzten Sommerferien
als Schüler. Die gleichen Bilder, Logos, Namen, die mir sofort wieder den Geschmack
jener Zeit auf die Zunge trieben, in den Gaumen setzten, die Seele tanzen ließ,
die Sehnsucht hervor trieb, die Sehnsucht und die Gefühle jener Tage im
Sonnenschein, in geblendeter Unendlichkeit des Jungseins, an jener Schwelle von
noch gut, naiv, fürchtig, brav, Teil des Kanons der Kindheitsversprechungen,
der Unschuld, was immer das auch sei, und dem Wagnis neuer Taten, neuer Worte
und Gesten, still schon Protest genannt, laut auch mal Wut entbrannt in kurzen
Momenten, noch nicht lang oder hart genug, alles zu verlieren, was vorher war
und die Jahre trug und ausstattete mit den ersehnten Gaben.
Ich traf ihn und packte sofort ihn in meinen Einkaufswagen.
Ich überfüllte den fast mit den Tüten. Wollte so viele wie möglich haben,
wollte endlich Sommer. An der Kasse hielt sich der Preis in Grenzen, zog ich
also fröhlich und etwas erleichtert zu meinem Wagen davon. schmiss dort mit Genuss
alle Tüten hinein.
Während der Fahrt nach Hause konnte ich mich nur mit Mühe
beherrschen, dem Sommer an den Leib, an die von mir einst so heiß geliebte Frucht
zu gehen. Aber zu Hause angekommen riss ich sofort die erste Großpackung auf,
ungeachtet des Regens, der unseren Garten in einen See zu verwandelnd schien. Ich
packte alles aus, sortierte auf dem Tisch die Köstlichkeiten längst versunkener
Tage: „Ahoj-Brause-Tüten“, „Frigeo-Brause-Bonbons“ und vor allem die „Frigeo-Brause-Brocken“.
Alle diese wunderbaren Begleiter meiner damaligen Sommerstunden.
Von den Brause-Brocken verschwand sofort einer in meinem Mund
und der machte meinen Gaumen zu einem Sommer-Revival-Festival. Und ich sah sie wieder,
blond. kräftiger Busen, goldener Glanz der Sonne in ihren Härchen auf dem
Körper, hörte ihre sanfte Stimme, sah ihre Augen, nahm den nächsten Brocken,
hoffte auf weitere Erinnerungen, während in meinem Mund der Sommer längst
vergangener Jahre sein Halili blies.
Ich meinte die Wiesen wieder riechen zu können, meine e8instmals
jung und frische Haut erahnen, die warmen Strahlen aus dem Himmel jener Tage, denn
meine Seele schrieb plötzlich wieder Hoffnungsmelodien. Sah den hoffnungsvollen
Jungen im Wasser plantschen, zur Vogel-Insel im See schwimmen, sah seine Träume
von Abenteuern und Selbstbeweihräucherung, fühlte seine vom Fernseher und
Büchern angestachelten Gedanken, sah ihn verloren für den normalen Alltag, für
die normale Mühsal der Pflichten und Erwerbsmöglichkeiten, spürte wieder seine
Freude auf Unmögliches, auf die Liebe, auf Erfüllung und dem Ende alles
Leidens. Aber wie der Brause-Brocken schwand im Mund, schwand auch die Erfüllung
und die Kraft für das ersehnte, so viel besser geglaubte Leben. Und wie damals
schob ich mir den nächsten, auch vom kleinsten Taschengeld damals leicht
erschwinglichen Drogenschlingel erwerbbaren Genuss in den Mund, der alles
wieder erkannte und der die gleichen Instrumente zu spielen begann wie damals.
Nur die Tüten „Brause-Pulver“ rührte ich noch nicht an. Denn
mit ihnen begann der Ausstieg aus jener Zeit, verlor der Jugendliche damals
seine Unschuld, sein Gefühl, für das was richtig und was nicht, verlor seine
Orientierung, die Stützen seiner Kindheit. Es war ein Übergang, an den ich mich
genau erinnern kann, muss, weil es so war und nichts mehr blieb, von dem Jungen
aus der Vor-Brause-Zeit. Weil alles schmutziger wurde und viel schwerer zu
entscheiden, ab zu wägen, weil nichts mehr vorgeben schien.
Natürlich hatte ich damals den Blechtrommler vom Graß auf
ihrem Bauchnabel nachgespielt. Natürlich hatte ich unten zwischen den Beinen
ein neues, bisher mir unbekanntes Leben verspürt und in das Spiel des Sommers
mit eingeführt. Natürlich war das Brausepulver nur noch Helfer auf dem Weg in neue
Ziele geworden, reichte mir das Prickeln am Gaumen plötzlich nicht mehr aus.
Es war der Sommer der Entscheidung, nur dass ich das
überhaupt nicht auf dem sprichwörtlichen Schirm gehabt hatte. Es begann mit
harmlos wie andere Sommer auch entsprechend dem Einkommen meiner Familie mir
der billigen Brause, endete aber mit ganz anderen prickelnden Gefühlen, die
mich von da an mein ganzes Leben begleiten sollten, nicht nur das, auch nerven,
foltern, sehr weit entfernen von jenen glücklichen „Frigeo-Brausen“.
Und so hatte ich inzwischen fast vergessen, was Sommer einst
mir waren und welche Rolle diese „Frigeo-Brausen“ dabei gespielt hatten. Erst heute
bei ALDI traf es mich wie ein Schock, wenn auch positiv, trieb mich zurück in
jene Gefühle, die vor langer Zeit meine Sommer ausgefüllt hatten. Brachte mir
so die Gefühle der Unbeschwertheit zurück, der Unschuld, des leichten
Genießens, der sanften Abwechslung, wenn der Sommer bereit ist mit zu spielen.
Schenkte mir einen Sommer mitten in einem herbstlichen Mai.
Mit dem Inhalt der ALDI-Frigeo-Tüten bin ich auf jeden Fall gut gewappnet für
das was dieser angebliche Sommer 2013 noch für uns bereit hält.
Sogar meine Knochen halten still beim Genuss der Brause. Und
wenn ich die „Frigeo-Brause-Bonbons“ lutsche, sehe ich mich wieder auf dem schmalen
Handtuch liegen, die einzelnen Stücke heraus nehmen, dann aber, später, aus den Figuren herausdrücken, Plastikfiguren,
sogenannte „Spender“, die den Verzehr auf angenehme Art und Weise verzögerten, „Highlights“
während der vielen Stunden auf dem Gras der Wiese des Werder-Sees in der Erwartung
auf mehr.
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