Eigentlich ist ja nichts an ihr dran. An dieser Straße, und
auch nicht an den anderen Straßen, die sie umgeben. Ihre Häuser locken keine
Antiquitätensammler hinter den Vitrinen hervor, kein Reisebus käme auf die Idee
hier Touristen auszuladen, ihre Zeit in dieser Stadt ist nur halb so alt, wie
die der in ihr wartenden Großväter und Großmütter, ist also zu frisch, um sie
in genießbaren Anekdoten und Geschichtchen genießen zu können oder um Respekt vor
längst vergangenen Tagen zu erwecken.
Aber die Raten für die Häuser sind schon länger abgetragen,
einige von den ersten Ratenzahlern haben das sogar noch er- und überlebt.
Längst schon sind neue Kredite getilgt worden, für das Dach, einen Ausbau,
Badezimmer oder Balkon. Es ist eine Straße wie hunderte, eher noch zigtausende
im Land, von den darin Geborenen meist nur noch genutzt als Besucherräume mit
Kaffee und Kuchen, das schlechte Gewissen nach der Flucht von hier zu
beruhigen.
Wer Stuckdecken oder Fachwerkfassaden liebt, malerisch
gestaltete Vorgärten, Kulissen für geschichtsverliebte Träumer oder Spielwiesen
städtebaulicher Ideen wird so natürlich enttäuscht. Für sie wurde hier nicht
gebaut. Auch von den Balkonen, einige davon immer noch reine
Wäschetrocknerflächen im Sommer und Kühltruhen im Winter für das Essen von
Gestern, das Fleisch für Morgen oder das Obst für das Frühjahr, darf man sich
hier nicht viel versprechen. Angerostet, schmucklos, einfarbig verwittert mit
dicken Glasscheiben, die bei jedem Windzug klappern, kleben sie über den
schmalen Gärten an den Hauswänden, zugehängt, dass keiner den Nachbarn sehen
kann, wie Eiterbeulen oder Ausschlag.
Hierhin wurde ich heimgetragen. Meine erste Ankunft. Ein
Baby, über dessen Schicksal noch verhandelt wurde. Der Bruder meiner Mutter
trug mich. Sie hatte nur den einen, vom Alter her eher ein Vater, an dessen
Stelle er mit ihr nach Hause kam. Der frischgebackene junge Vater dagegen hatte
erst noch Hausverbot. So begann meine Ankunft hier mit einem Onkel und einer
verschüchterten Mutter, ohne Tante, ohne Vater. Der Onkel trug mich die drei
Treppenstufen das erste Mal hoch. Ich weiß davon natürlich nichts mehr. Darum
hat es mit dieser Straße als meiner Straße auch nichts zu tun.
Jetzt ist er achtzigjährig nach dem dritten Schlaganfall
gestorben und ich habe mich gefragt, was mit ihm in mir verloren ging. Diese
erste Begegnung war nicht dabei. Nicht wirklich. Nur die Erzählung davon. Das
Wissen. Aber das bleibt mir ja. Er hatte selbst bereits drei Kinder, zwei davon
Söhne. Wie wäre es gewesen, wenn es drei Töchter und nun mich als ersten
männlichen Spross gegeben hätte. Hätte er mich anders getragen, wäre ich seinen
Augen anders begegnet, hätte ich seinen Blick heute noch in mir? Es soll sowas
geben. In Büchern gibt es so viel. Bei mir war es nicht so und vielleicht wäre manches
anders gekommen, aber wohl auch ohne Erinnerung. Die erste Ankunft, die ohne
handhabbare Erinnerung, ist wie nie geschehen, fast müßig daher, darüber mehr
zu erzählen. Es sind doch nur die Geschichten und Erinnerungen anderer.
Ich kann mich auch nicht sehen, wie ich in seinen großen
Händen liege. Ich kenne mich nicht als Baby, nicht mal als Kleinkind. Es gehört
einfach nur zu meiner Geschichte, dass auch ich nicht gleich erinnernd und
sprechend angekommen bin. So entsteht die erste Abhängigkeit und Hilflosigkeit.
Es gab diese Ankunft, diesen Beginn meines Lebens und ich kann nichts wirklich
aus mir heraus erzählen. Nur gut, dass es keinen Grund für dieses Erzählen
gibt, keinen Sinn, mit dem ich das nun ausdisputieren müsste. Ich erzähle es
einfach und lasse mich in diese Straße bringen, in das Haus hineintragen, von
Hermiene und Diedrich ab knuddeln, in das große Ehebett legen und einschlafen,
wenn meine Mutter es denn verstanden haben sollte, mich ob der neuen Umgebung
gleich zu beruhigen. Ich durfte wahrscheinlich an ihrer Brust liegen in diesem
kalten Zimmer. Wärme hat mir immer gut getan. Ich hätte nur noch mehr davon
gebrauchen können. Wahrscheinlich. Vielleicht war es ja auch zu viel Wärme oder
ohne die Kälte meines Geburtsmonats, seinen Wetterkapriolen hätte ich die Wärme
gar nicht als so Vermissenswertes empfinden können. Sehnen sich Sommerkinder
nach Kälte?
Wann wurde diese Straße meine Straße, was an ihr hat mich
gebunden. War es das Heim, in das ich bald darauf kam, zu diesen, mir nur von einer
einzigen Fotografie erinnerlichen Schwestern, aus dem mich dann, wie sie später
immer gerne erzählte, entsetzt Hermiene zusammen mit Diddi befreite in ein
wunderbares Enkeldasein mit Pfeife rauchendem, gemütlichen Opa und stets beschäftigter,
Küchenlieder trällernder Oma? Waren es die ewig gleichen Geräusche, die den Tag
einteilten, morgens, mittags, abends die Sirene der Akschen, deren Helligen den
Horizont unserer Straße beherrschte, dazwischen das aufstöhnende schlecht
geölte Knarzen der gusseisernen Vorgartenpforten, Nachbarin M. mit ihrem
eingepissten Geruch und der knurrenden Stimme, wenn sie am Zaun zwischen den Häusern
von ihren Treppenstufen aus über die Nachbarn tratschte, war es der ältere
Spielkumpel, hinter dem ich immer vergeblich hinterher laufen musste, der mich
dann tröstete und das Spiel mit dem Ball beibrachte und dessen verzweifelte
Übungen auf dem Schifferklavier ich durch die Wand unseres Wohnzimmers hören
konnte, war es der Auftritt des großen und kräftigen Käptens von hoher See
kommend, meines Kumpels Vater, wenn der sich nach allen Seiten umdrehend laut
von draußen nach seiner verschüchterten Hilde rief, war es der Garten, in dem
ich die Verpackungen vom Bau des Balkons als Hütten und U-Boote nutzen konnte,
mich verstecken und weite Schiffsreisen unternehmen wie Freddy in seinen
Liedern abends in der Radiotruhe, oder war es der Waschtag, wenn ich Oma helfen
durfte die Wäsche in den großen Steinbottich im dunklen Keller zu werfen, zum
Schluss selbst dort abgeschruppt und bibbernd auf das rettende raue Handtuch
hoffend, ja sehnend, an anderen Tagen, wenn die Verwandten Hermienes vom Dorf
kamen, Fleisch, Gemüse und anderes mitbrachten und alle zusammen mit geröteten
Gesichtern, die Flasche Schnaps immer an mir vorbei geführt, die Gläser füllten
und in dem Wäschebottich einkochten? Wie gerne habe ich mich später in dem
eigens dafür frei gehaltenen Kellerraum meine Gläser ausgesucht, zu Beginn aber
weniger, weil mir vor der steilen Treppe in die dunkle, übel muffige Unterwelt,
wo gleich neben der Treppe Kohlen und Kartoffeln in großen Holzverschlägen vor
sich hin rochen, grauste. Aber Gläser mit Obst, mit Marmelade oder Gelee, das
war immer was Feines.
Ich weiß es also nicht, spüre nur mein Herz schlagen, wenn
ich heute durch diese Straße gehe, wo alle längst gestorben sind, die einst um
den armen „Unehelichen von der Ruth“ herum waren, gestorben an Krebs,
Schlaganfällen, zerfressenen Lebern, kaputten Nieren, aufgehängt auf dem
Dachboden, eingequetscht im blechernen, farbig chromblitzenden, jeden Samstag so fleißig polierten Stolz, oder
ganz friedlich entschlafen wie Hermiene, die mit 99 ihrer Pflegerin zum
Abschied mit besonderer Betonung gesagt haben soll: „Ich bin müde“ und morgens
mit entspanntem Gesicht tod in ihrem Bett gefunden wurde.
Ich sehe alle noch vor mir, im Sonntagsstaat, frisch
gewaschen , Duschen und Badezimmer gab es noch nicht, daher meist vor dem Waschbecken
in der Küche mit großen Waschlappen zelebriert oder in den Waschbottichen, die Bettwäsche
und Tischdecken wurden in der Woche geplättet, wo wir Kinder helfen durften, mussten,
die Kragen wurden versteift und die Hemden korrekt gebügelt, die Röcke ebenso
bis sie gut gewellt abstanden von den Beinen, so standen die Straßenbewohner,
unsere Nachbarn die wir noch mit Namen kannten, draußen, sprachen über die Gartenzäune hinweg
über Politik, die Arbeit und das Wetter, am liebsten aber über die Kollegen und
ihre bekloppten Chefs, die auch nicht besser als die Politiker seien, am
Abend dann in der ein paar Häuser entfernten Eckkneipe weiter.
Bisweilen mussten wir Kinder mit, sie dort ab zu holen, das
sollte den Druck verstärken. Wir bekamen dann meist im Dunst der diversen
Rauchutensilien wie Zigarren, Kurzschnitt-Tabakspfeifen oder Zigaretten ein
paar Süßigkeiten wie Erdnüsse, Gummibärchen oder Schokolade, für ein längeres
Verbleiben der Väter und Großväter, die sich mühsam an der Theke festhielten
und versuchten lautstark der Musikbox neben dem Vorhang zur Toilette Konkurrenz
zu machen.
Manch einer folgte auch dann nicht und manchmal sah ich sie
von Oma und Opas Schlafzimmer aus mühsam nach Hause wanken, eine Hand immer an
den Zäunen unserer Vorgärten.
Über den einen oder anderen wurde dann am nächsten Tag
gesprochen. „Dass der Kerl datt Suppen“ nicht sein lassen könne, wo doch „sien Fruu
und deren Bälger“ kaum was zu essen hätten.
Manche zogen mit den Jahren für mich sichtbar ihre schweren
schwarzen Mäntel nicht mehr aus, als könnten die sie vor den unvermeidlich
kommenden Katastrophen beschützen und bewahren.
Sie kamen auch ohne Sonntagsputz aus und waren zufrieden meist nur im Blaumann in
den Gärten, den kleinen Parzellen in der Mitte der Straße, wo die meisten ihr
Gemüse, ein paar Blumen, Stachel- und Johannisbeeren, sowie Salate pflanzten für
den Eigenbedarf.
Dort waren sie zu Späßen aufgelegt und jeder grüßte sie nett
und flachste rum, tauschte Gärtnerwissen aus und die neuesten Ergebnisse von Werder
Bremen. Auch Polenwitze und Geschichten wurden erzählt. Ich erfuhr erst Jahre später,
dass ich durch meinen Opa polnisches Migrantenkind in der vierten Generation
bin. Noch später, dass das Trauma der Migration und Integration bis in die
fünfte Generation weiter gereicht würde. Über so etwas wurde bei uns nie gesprochen.
Ich musste mich viel später selber und alleine aufmachen, die Spuren meiner
Familie in Polen und Wilhelmshafen zu finden.
Die Stadt hatte nach dem Krieg viele polnische Kriegsgefangene,
die lieber in unserer Hafenstadt mit ihren verlockenden Arbeitsplätzen vor
allem im Hafen geblieben waren. Aber die
Presse veröffentlichte recht schnell Nachrichten mit Überfällen, Einbrüchen und
anderen Straftaten von Polen und schürte so eine Anti-Polen-Stimmung, die bis
heute, vor allem in den Polenwitzen anhält. Mein Großvater hat zu allem
geschwiegen und nie hörte ich das Wort Polen in der Familie, außer so, wie es
die anderen aussprachen.
Vielleicht ist es ja meine Straße, weil sie alle
Widersprüche, Verdrängungen, Leiden und Hoffnungen des vergangenen Jahrhunderts
in sich geborgen und ihr jeweiliges Leben gewähren lassen hat, ohne dass auf
Dauer nachhaltiger Schaden über uns Nachgeborene dadurch kam. Zumindest hoffe
ich das, nicht zuletzt für mich selber!
Und da ist ja noch die Hausnummer von Diddi und Hermiene,
diese 64, die rechts vom Eingang selbstbewusst in Augenhöhe, zumindest der der
Erwachsenen, hing, für mich ganz weit oben, meine erste Zahl, die mich bis heute
begleiten sollte, immer eindeutig, für alle Zeiten festgelegt, das ist ihr Haus
in der Straße, meine Unterkunft, meine Herkunft, mein Rückhalt und
Rückzugsgebiet, zumindest war es das letzere bis Hermiene dann mit über 90 doch
die 64 anderen überlassen musste, mit dem Erlös von dem Verkauf finanzierten
wir ihren Pflegeplatz, auch mit Balkon, auf dem sie weiter träumte, es sei
ihrer, der, den sie einst als Mitgift hatte bauen lassen für ihren Didi,
träumte und uns nicht mehr erkannte aber freundlich grüßte und nach uns selber
ausfragte und wann wir denn mal kämen, sie zu besuchen. Ja die 64, das ist
meine Hammerzahl, ein Schlüssel, von keiner späteren übertrumpft, weder von Geburtstagen,
eigenen Hausnummern noch die viel zu langen Telefonnummern. Nein, die 64, das
hatte was und ich nahm sie mit auf die Reise.
Bei meiner ersten Ankunft jedenfalls schien sich endlich
Nebel über die Vergangenheit zu legen, Neues rasch empor zu wachsen, sichtbar
an den ersten Fahrzeugen meist Ford und Opel oder Käfer, in den Stuben anstelle
der alten Volksempfänger aus der Nazizeit auf den schwarzen Regalbrettern in
den Ecken über dem Sofa erste Musiktruhen in den Ecken gegenüber, reichlich
Alkohol bei Feiern, modische Kleider und „gute“ Uhren. Manch einer leiste sich
Zigarren oder hochwertige Pfeifen. Andere legten Wert auf bessere Schuhe, neue
Zäune der Vorgärten, und Hüte, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern,
Hüte waren wichtig. Die gut genannten Männer erlaubten ihren Frauen den
wöchentlichen Besuch beim Friseur, der mit viel Spray Turmbauten über ihre
Gesichter pflanzte. Ich habe diese Frisuren geha0t, lag ich doch oft, vor allem
bei Feiern, hilflos im Schlafzimmer, wo ich schon schlafen sollte, bevor es
richtig losging, hilflos ihren stinkenden, den Atem lähmenden Spray-Attacken
ausgesetzt.
Die meisten Nachbarn erlebte ich zugleich als müde vom Leben,
schnell sarkastisch und bitter, selten politisch. Es wurde geputzt, vor allem
wir Kinder, die Wäsche, die Einrichtung und manch kleines dazu gekommene
Mitbringsel der ersten Urlaubsversuche, so stand bei uns der Kölner Dom in weißlichem,
sich schnell gelb färbenden Plastik und an der Wand hing eine Schwarzwalduhr
als Wetterhäuschen.
Meine Eltern waren wohl mitten drin in alledem, froh dem
Krieg entronnen zu sein, noch in den Nächten von den Angriffen der Bomben tragenden
und abwerfenden „Tommys“, wie sie sie später immer nannten, verfolgt, den
Napalmnächten, den Nachrichten von „gefallenen“ Freunden und Verwandten, bei
meiner Mutter vor allem der Freund, der schnicke U-Boot-Soldat, der irgendwo im
Atlantik am Meeresboden vom Wasser konserviert wie seine Kameraden als Skelett
sein Grab fand, ihre Freunde, die im Napalm direkt neben ihr verbrannten, die
Bekannten, die nicht rechtzeitig zu den Bunkern kamen, mit ihren Häusern
begraben wurden, nicht zuletzt die vielen Nächte im Bunker, schließlich wohnten
sie in unmittelbarer Nähe der Werften und Häfen, was den Bombenwerfern Auftrieb
und dringend zu eliminierende Punkte für ihre Kriegsziele eingab.
Von Auschwitz und Buchenwald war meine Straße, unsere
Straße, fürchterlich weit entfernt und es sollte noch Jahrzehnte dauern und
vieler Generationen bedürfen, bis diese auch dort und in den Köpfen den
gebührenden Platz bekamen. Und die
Männer ließen den Krieg, ihre Erlebnisse dort, in ihren Köpfen bis auf die
Stammtischparolen. Die waren vielleicht ihr Ventil.
Nein, meine Straße war Aufbruch, frisches Leben nach mörderischen Jahren, genau das, was einem Baby
gut tut, wenn es dort hineingeboren wird. In ein richtiges Leben mit viel Liebe
und Aufmerksamkeit, Abwechslung, lebendigen Menschen, Tönen und Geräuschen, die
der Zeit ihr unverwechselbares Gesicht malten, kräftig, unbekümmert, jeder
Sünde gegenüber offen und zugleich verklemmt, voller Widersprüche und doch klar
in den Aussagen und vorgelebten Taten. Hinter den Vorhängen wurde geweint,
geschlagen, geflucht und doch fand man ihre Bewohner täglich bei den netten
Leuten, die grüßten und fröhlich den Tag anlachten. Ich verstehe dass heute noch
nicht, wie sie das so konnten und ausgehalten haben.
Und dazwischen kam mein Vater, mich auf den Stufen,
wenigstens da, in den Armen halten zu können, lernte meine Mutter mich zu
wickeln, trug mich stolz mit sich rum, beschloss mit meinem Vater trotz aller
Widerstände ein gemeinsames Leben außerhalb und weit weg von dieser Straße zu
führen.
Und es kamen die Jahreszeiten in die Gärten, in die mehr
Rasenflächen und Blumenbeete zogen, das Gemüse verdrängten, vor allem die
langen Bohnenstangen fehlten mir am Anfang sehr, die Sträucher und Obstbäume
mit Büschen ersetzten. So wie sie sich in den kleinen Zimmern arrangiert
hatten, bis genügend Geld da war und sie auf die Untermieter verzichten
konnten, so passten sie sich jetzt den
größeren Möglichkeiten für Veränderung an, so kamen braun lackierte Ölöfen und
ersetzten die kleinen schwarzen Kohlenverbrenner, auch Kanonenöfen genannt, die
größeren Kinder verloren eine Aufgabe, das Kohlenschleppen und die Bürgersteige
blieben fortan sauberer, da weder Koks noch Briketts mehr darauf ausgekippt
wurden, um mit Schaufeln in die Keller geworfen zu werden. Es verschwanden die
Hühnerställe und mit ihnen die Ratten, auch die Emaille verschwindet von den Wänden
und blätterte im Müll weiter ab, vielleicht von Sammlern später freudig auf dem
Flohmarkt entdeckt und günstig erworben für das neue Heim, ja so sind heute die
Leute, und es verschwand, die Siebe, Schüsseln und Eimer zugunsten von Porzellan
und Plastik, tja,
und dann war damals die Wäsche noch da, flatterte fast jeden Tag im Wind, große,
bewegte Farbtupfer in einer noch wenig bunten, eher schwarzweißen Welt, Flaggen
und Ausweispiere zugleich in den Gärten mit Holzklammern an dicken Stangen
befestigt, wo sie samstags den Teppichen weichen mussten, die hier kräftig
durchgeklopft wurden und alle sahen, hörten es, kontrollierten die
Hausfrauentüchtigkeit und dann verschwanden die Stangen, mit ihnen die Farben,
das Bunt kam nun nur noch vom auf dem Wochenmarkt erstandenen Zierpflanzen und
in den Kellern stritten nun wuchtige
Waschmaschinen mit Trockner, die manchmal quer durch den Keller tanzten, um den
Platz, die Boden wurden isoliert, zu Trockenboden, nicht Böden, wir sagten Boden, und man zeigte
die Wäsche nicht mehr, niemanden mehr, schon gar nicht die Schlüpfer.
Dafür kam Farbe an die Hauswände, Maler gingen ein und aus,
alles sollte schöner werden, heller, sauberer und mit mehr Platz. Mindestens
alle zwei Jahre wurden die Zäune übergestrichen und bei manch einem platzt
heute noch die dadurch gewachsene dicke Lackschicht auf und wartet auf die
Entsorgung beim Wertstoffhof, ersetzt von ganz anderen Materialien, die nicht
mehr lackiert werden müssen.
Große Aufregung gab es, wenn die Bierwagen durch die Straße
fuhren, gezogen von breitärschigen goldgelben Pferden, hinter deren „Äpfel“
waren die Nachbarn her und so rannten sie in die Häuser, kamen mit Schaufeln
zurück und wer Glück hatte, Äpfel erwischen konnte, strahlte vor Glück. Anders,
wenn die „Zigeuner“ mit ihren Töpfen, Körben und zum Messer- und
Scherenschleifen ihre Leiterwagen durch die Straßen zogen. Da ging erst der
Blick vorsichtig durch die Gardinen, die Kinder wurden dann mit Messern und
Scheren nach draußen vorgeschickt, bis man selber nach kam zum bezahlen. „Up
keenen Foll in’t huus rinlooten!“ hieß es.
Sonntags war es harmloser, da kam nur der Zeitungsverkäufer
und rief laut, so laut, so unentwegt, dass es bestimmt fast eine halbe Stunde
dauerte, bis wir seinen Ruf nicht mehr hören konnten: „Biiiilt! Bilt am
Soooontak! Die neue Bilt! Biiiilt am Sooontak!“
Fast fünf Jahre lebte ich so und roch, schmeckte, spürte das
alles und konnte mir gar nicht vorstellen, dass es anderswo anders zu gehen
könnte, die Hochzeit meiner Eltern kam, mich ließen sie zu Hause, wegen dem „unehelich“,
das war ihnen doch etwas peinlich und störend bei ihrem großen Tag. Aber mein
Onkel kam, ließ mich in frische Klamotten stecken und brachte mich pünktlich
zum Tanzen zu ihnen, wo ich auf ihren Armen gar nicht wusste wie mir geschah
und auch nicht recht, was ich von diesem Auftrieb halten sollte, schließlich
war es meine erste Hochzeit und eigentlich wusste ich mit 3 Jahren auch nicht
so recht, was das sein sollte. Froh sank ich später, wieder vom Onkel retour
gebracht, denn der hatte als freier Handlungsreisender in Sachen Farben bereits
ein Auto, in das kalte dicke Federbett in dem Schlafzimmer von Opa und Opa, wurde
früh am Morgen vorsichtig in die Kammer unter dem Dach gebracht, wo ich auf
einem alten Kanapee mein Bett hatte.
Ach ja, das Innenleben des Hauses, unten Untermieterin Marga
mit ihrem Sohn, eine entfernte Verwandte von Opa, Cousine glaube ich, mit zwei
Zimmern, abgetrennt von dem einen zum Garten hinaus die kleine Küche, zwischen
den Zimmern das Spülklosett, immerhin eine Errungenschaft. Ein Stockwerk höher
Oma und Opa mit gleicher Aufteilung, nur dass die das große Zimmer zur Straße
hin für ihr Ehebett und das kleinere abgetrennte als Wohnzimmer nutzten. Und
das gab es eben das kleine Mansardenzimmer, ehemals Zimmer meiner Mutter, nun für
mich, gleich daneben unverkleidet, also kalt im Winter und bisweilen mit Schnee
bedeckt, der „Boden“ wo die Kaffeemühle
hing, die Opa nur sonntags mit Bohnen füllte um dem regelmäßigen Kaffeekränzchen
unten einen guten „Bohnenkaffee“ servieren zu können.
Nun sind sie alle fort, die Wände innen eingerissen weil der
Platz heute so nicht reicht und man nicht mehr dicht an dicht gequetscht feiern
mag, die Öfen wichen Heizungen und die „Akschen“ gab schon lange ihren Geist
auf und damit auch den dieses Stadtteils, dieser Straße, meines Lebens, aber
das Jahrzehnte nach meiner 1sten Ankunft bei den Eltern, die noch keine waren,
es auch gar nicht vorgehabt hatten, so schnell welche zu werden, aber so etwas
geschieht hier wohl immer noch und es sind immer noch die Arbeiterfamilien, die
in der Straße und ihren Häusern ein Zuhause finden.
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