Samstag, 15. Juni 2013

Der Autotausch

Er hatte sich verändert, da waren wir uns alle einig. Fröhlicher war er, fitter wirkte er, offener und weniger geschwätzig.
Er fuhr jeden Tag durch die Siedlung mit dem Fahrrad, am Wochenende seine drei Kinder und die Ehefrau im Schlepptau. Sein Auto schien er mehr zum Putzen und polieren zu haben, denn zum Fahren. Und das er, er Heinz Krammelte, der nichts ohne sein Auto erledigt hatte, am liebsten noch auf unserem Werksgelände damit umhergefahren wäre.
Und so waren wir natürlich neugierig, was ihn so verändert hatte.
Lange mussten wir uns gedulden und wilden Spekulationen überlassen. In der Siedlung war die Mehrheit der Meinung, ein Arzt könne das Wunder bei Heinz bewirkt haben. Aber da waren die Kollegen auf der Raffinerie anderer Meinung: Der Krammelte lässt sich doch nichts sagen, schon gar nicht von so einem Studierten. Verliebt war der, hatte wohl eine heimliche Beischläferin, wahrscheinlich was Junges, einige von uns favorisierten die Azubine Rita aus der Personalabteilung, andere die lustige Doris im Kontrollzentrum. Gesehen hatte zwar keiner was, nur dass er wohl nett zu denen war und sie anlächelte. Aber das taten wir anderen vergeblicher weise auch. Dann hieß es plötzlich er sei in der Stadt gesehen worden mit einer blonden, einer behauptete steif und fest ihn im Kino gesehen zu haben, in der hintersten Reihe so wie früher und heftig am Knutschen.
So hatten wir einen guten Stoff für unsere Träume, denn wer von uns hätte nicht gerne mal was zum Auffrischen gehabt im Alltagstrott. Und der Heinz hatte sich getraut, was wir nur träumten. Der stieg so in unserer Achtung gewaltig auf.
Mit der Zeit kriselte es zwischen Heinz und seiner Frau, zumindest was seine Frau anging. Der waren wohl unsere Gerüchte zu Ohren gekommen oder ihr ging einfach nur der neue dauerfröhliche Heinz auf die Nerven. Gespannt beobachteten wir, wie es mit den beiden weiter ginge.
Bis ich ihn eines Abends in der Eckkneipe zu später Stunde an der Theke traf, leicht betrunken, gar nicht fröhlich, nur ratlos, sehr ratlos.
Düster starrte er zu seinem halben Liter Glas, das leer neben einem ebenso leeren Schnapsglas vor ihm stand.
Solche Gelegenheit ließ ich mir natürlich nicht entgehen. Es gibt nichts schöneres, als wenn wir Männer düster vor uns hinstarrend unser Leid erzählen können am Tresen und dabei den Blick fest auf die Brüste der Bedienung gerichtet.
Und er erzählte, alles, einfach alles, was aber auch nicht gerade viel war, nur unglaublich, schlicht simpel und einfältig, jenseits all unserer Vorstellungen und Gerüchte. Hinterher wunderte ich mich nicht mehr über das verärgerte Wundern seiner Frau. Heinz, das sei gesagt, war weder verliebt, noch hatte er ein Techtelmechtel. Heinz hatte einfach nur ein anderes Auto, nein kein  Neues, ein anderes eben.
Heinz war vor Wochen auf dem Rückweg von der Arbeit bei ALDI vorbeigefahren, weil seine Frau noch Getränke und Auflage haben wollte. Als er seinen normalen Parkplatzbereich in der zweiten Reihe ansteuerte, sei alles besetzt gewesen und schließlich habe er seinen Wagen ganz in der Ecke abgestellt, wo er noch nie habe parken müssen. So musste er doch einen längeren Weg bis zum Eingang auf sich nehmen, was ihm schon gestunken habe. Klar, da sei er ja noch der alte Heinz gewesen, der der am liebsten keinen Schritt zu Fuß gegangen wäre, bestätigte ich ihn und bestellte die Gelegenheit nutzend eine neue Runde Gedeck, also Bier und Schnaps, für uns.
Ja, das hätte ihn leicht verärgert und dann hätte er auch noch seinen Chip vom Schlüsselbund verloren gehabt, so dass er erst zur Kasse rein musste und sich ein Eurostück einwechseln. Die Auflage, die seine Frau hätte haben wollen, sei weg gewesen und die Cola auch schon ausverkauft. Er hätte sich auch über seine Frau geärgert, warum die am Samstag nicht bereits alles mitgebracht hatte.
Zu allem Unglück hätte ihn eine dürre Dame auch noch mit ihrem Einkaufswagen angefahren und sich mit einer unglaublichen Schnapsfahne bei ihm zigmal entschuldigt.
An der Kasse sei er sie endlich losgeworden, der Rücken hätte ihm beim aufpacken auf das Band ziemlich weh getan und er hätte überlegt, ob er die Dame nicht auf Schmerzensgeld verklagen könnte. Dann sei er endlich aus dem Laden raus gekommen und wäre zu seinem Fahrzeug humpelnd geschoben.
Aber es sei sein Auto nicht da gewesen. Einfach weg. Einfach so. Einfach in Luft aufgelöst.
Ich fragte ihn, ob er denn nicht auf seinen Schlüssel gedrückt hätte, dann hätte er doch das Klicken vielleicht, …, ja hätte er. Aber das Fahrzeug, das da Klick gemacht hätte, wäre ein schicker BMW gewesen, ja, der, den er jetzt zu Hause hätte. Und in den sei er einfach eingestiegen, habe die Sachen im Einkaufswagen gelassen, und sei so nach Hause gefahren.
Geklaut? Der ist geklaut? Ja, nein, eigentlich hätte er das Gefühl, das sei ausgleichende Gerechtigkeit und vielleicht sei der andere mit seinem Wagen weggefahren. Dem alten Opel? Ja, vielleicht. Weg sei er ja gewesen, zumindest habe er das geglaubt. Aber dann hätte seine Frau den Wagen in der Ecke eine Woche später stehen sehen und er habe ihr vorgelogen, dass er ihn ja verkauft hätte.
Und so habe er nun einen tollen Wagen, ja, wahrscheinlich geklaut, aber er fahre den ja kaum und pflege ihn ordentlich, schließlich könnten Verwechslungen ja vorkommen.
Und das mit dem Radfahren seitdem? Damit ihm keiner das Auto wieder abspenstig mache. Er dachte, je weniger der zu sehen sei, umso größer seien seine Chancen, ihn behalten zu können. Und mit der Zeit hätte er gespürt, dass ihm die Bewegung gut täte und gleichzeitig habe er ständig das angenehme Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, etwas, was nicht alle machen und das habe ihn stolz gemacht und mit Freude erfüllt.
Und die Frau? Plötzlich ein neues Auto, einfach so? Ganz einfach: Losgewinn, hätte sie geglaubt, da er ja trotz ihres Meckerns darüber immer an allen möglichen Lotterien teilgenommen hätte. Seitdem aber auch nicht mehr. Ein Gewinn reiche ja.
Am liebsten wäre ihm auch der Gedanke, dass der BMW der betrunkenen Dame gehören könnte, die hätte in ihrem Zustand sowieso nicht mehr fahren dürfen.
Aber nun sei seine Frau so komisch geworden, total misstrauisch und er verstünde einfach nicht warum, wo er doch endlich das täte, was sie sich schon so lange gewünscht hatte, Radtouren, Wanderungen und all das. Da erzählte ich ihm von den Gerüchten um seine Veränderung und deren mögliche Ursache und das sie wahrscheinlich diese Geschichten über ihn gehört hatte.
„Eifersüchtig, die ist nur eifersüchtig?“ Heinz fing an zu lachen und wir bestellten eine weitere Runde Gedeck. Schließlich beruhigte er sich und wir begannen zu grübeln, wie er seine Beziehung zu ihr wieder in Ordnung bringen konnte. Die Wahrheit schlossen wir aus, das hätte nur bedeutet, dass er Vorwürfe bekommen hätte und den Wagen hätte zurück stellen müssen auf den ALDI-Parkplatz. Das Auto wollte er auf jeden Fall behalten.
So eine richtig gute Idee kam trotz drei weiterer Gedecke nicht zustande. Schließlich einigten wir uns darauf, dass er einfach die Gerüchte ansprechen sollte und von einem Besuch beim Arzt wegen Magenschmerzen faseln, der ihn dann auf den Pott gesetzt hätte wegen mangelnder Bewegung und so, da diese Geschichte ja eh in der Siedlung rum ginge.
Ich weiß leider nicht, ob er das so gemacht hat. Eine Weile jedenfalls war er weniger fröhlich, zog schließlich aus dem Haus aus, nahm seinen BMW mit und trennte sich. Oder sie sich. Darüber gab es wieder sehr unterschiedliche Versionen.
Eines Tages sahen wir ihn dann in Begleitung einer etwas mageren Dame, sehr schick angezogen, wieder der fröhliche Heinz, aber auch wieder alles mit dem Auto abfahrend. Er wohnte von da an in einer anderen Siedlung, wohin er uns eines Tages zu seiner Hochzeit einlud „im kleinen Kreis“, wie er betonte. Dort erfuhr ich dann weit nach Mitternacht des Rätsels Lösung: er hätte die Frau auf einer Radtour getroffen, nach dem er sich zu Hause mit seiner Frau gestritten hatte, die tatsächlich den Gerüchten mehr geglaubt hätte als ihm.
Die Dame, die Heike hieß, sei ihm aus einem Trampelpfad kommend in die Seite gefahren und da, auf der Erde liegend, beide mit Schmerzen vom Sturz, hätten sie sich wieder erkannt, nur dass sie dieses Mal keine Schnapsfahne gehabt hätte. „Immer ich“, habe sie geseufzt und ihn wieder um Verzeihung gebeten. Er hätte, ganz Kavalier, sie nur um eine Einladung zum Kaffee gebeten, da er noch zur Nachtschicht gemusst hätte. Deswegen kein Alkohol.
Sie hätten sich schnell gut verstanden und sie ihm erzählt, dass an dem Tag damals ihr Auto vom Parkplatz wohl geklaut worden sei oder sie habe ihn in ihrem Suff damals es auch vielleicht einfach nur idiotisch irgendwo abgestellt, aber nun nicht mehr wisse wo. Ja, es sei ein neuer BMW gewesen, den habe ihr blöder Kerl ihr zum Abschied geschenkt, der verheiratete Knilch hätte sich so freikaufen wollen. Und eigentlich wäre sie froh gewesen, das Scheißauto nicht mehr zu sehen, zu sehr erinnere der Wagen an ihn, und wegen dem Kerl sei sie auch so besoffen gewesen an dem Tag. Seitdem aber nicht mehr. Sone Art heilsamer Schock wäre das alles für sie gewesen.
Erst drei Treffen später beichtete er ihr, dass er den Wagen von ihr in Besitz genommen habe, ja er habe ihr die ganze Geschichte erzählt und sie hätten gelacht, sich geküsst, das erste Mal, und seien mit dem Wagen gleich am Wochenende an die Küste gefahren, in eine wirklich bezaubernde Pension mit Balkonblick auf das Meer.
Sie hätte den BMW nicht wieder haben wollen, aber jetzt durch die Heirat sei ja eh alles in beider Hand.
Der Heinz blieb seitdem der neue fröhliche Heinz, seine Frau dagegen wurde immer dicker, unleidlicher, gab es auf, auf sich zu achten, und verließ mit den Kindern die Siedlung und wohl auch die Stadt.
Die Kinder besuchen die beiden öfter und lassen sich stolz in der Nobelkarosse durch die Gegend fahren, finden die neue Frau dufte, geil und was die sonst dazu sagen, stöhnten über die Veränderungen bei der Mutter, machten aber nie ihm einen Vorwurf, nur ihr.
Erzählt habe ich diese Geschichte, diese unmögliche Wahrheit hinter der Veränderung von Heinz nie jemanden. Ist schon zu merkwürdig, zu unwahrscheinlich und irre, da glauben alle bestimmt lieber weiter, es hätte von Anfang an nur an der bezaubernden Dame gelegen, die ja wohl auch der Scheidungsgrund gewesen sein dürfte. Aber alle verstanden den Heinz, wo die ja viel netter sei zu ihm und allen. Und die Dame, wie sie tatsächlich von allen hier mit großem Respekt genannt wurde, die gönnten wir ihm, dem fröhlichen Heinz, dem freundlichen, von ganzem Herzen.

Und sein altes Auto, sein eigenes? Das steht vielleicht heute noch auf dem ALDI-Parkplatz und rostet dort still vor sich hin. Gut dass Autos keine Gefühle haben, sonst würde es sich wahrscheinlich fragen, was es nur falsch gemacht haben könnte, dass der liebe Heinz von einem Tag zum anderen es einfach stehen gelassen hat, ohne Abschied, ohne Erklärung. Einfach so.

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