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Mittwoch, 9. April 2014

Barsicht



Mir gegenüber sitzt ein Mann, an der anderen Seite der Theke. Der schreibt wie ich, irgendetwas, so etwas vielleicht wie diese Worte hier oder etwas ganz anderes.
Er lehnt sich wie ich zurück. Er raucht wie ich von Zeit zu Zeit eine Zigarette, denn das darf man hier noch in dieser Hotelbar des Maritim im Waldecker Land.
Er trägt ein dunkel gestreiftes Hemd, darüber einen schwarzen Pullunder, der so heißt obwohl auch der Mann ihn wie ich über dem Hemd trägt.
Er hat graue Haare im Übergang zum Weiß der letzten Jahre so wie ich. Scheint, zumindest im Sitzen, ungefähr gleicher Körpergröße zu sein, vielleicht auch fünf Zentimeter kleiner.
Er knabbert zwischendurch wie ich die Nüsse, aus dem Glas in die linke Hand gekippt, nimmt sie mit rechts einzeln heraus und steckt sie sich in den Mund, Kopf und Rücken dabei leicht zurückgelehnt, die Augen auf dem Geschriebenen.
Er trägt wie ich eine Brille aus dünnem schwarzen Material, so dass es von mir aus aussieht, als hätte jemand mit dünnem Bleistift ihm diese in das Gesicht gezeichnet.
Aber er ist nicht ich. Es gibt keinen Spiegel vor mir, auch wenn es für mich so wirkt, als mache er meine Bewegungen nach. Er schreibt auch noch mit rechts, wie ich, und ich ihn lieber mit links schreiben sehen würde.
Er schweigt wie ich, blickt aber immer öfter zu dem Barmädchen auf und umher, als erwarte er etwas oder suche jemanden. Ich will nicht, dass er mich sucht. Ich will nicht mit ihm reden, nur wissen, was er schreibt. Im Zweifel aber verzichte ich lieber auf seine Schreibe für den Genuss hier weiter schweigend sitzen zu können und zu schreiben.
Er blickt jedes Mal nur kurz, als wolle er diese Blicke verbergen, mit ihnen nicht entdeckt werden.
Weil er weniger schreibt und mehr Nüsse knabbert, raucht er auch weniger als ich. Er wirkt jetzt sprungbereit. Aber wozu oder zu wem?
Ich sehe nur noch kurz auf, so wie er, hoffe er entdeckt meine Augen nicht, übersieht meine Gegenwart.
Ich esse keine Nüsse im Moment, während er knabbert und Kurzblicke verschießt, rauche auch nicht, da ich parallel schreibe zu ihm und seinen Blicken.
Er trinkt Bier, ich Wein. Es ist ein guter Tropfen. Den hat mir der Junge, nicht das Mädchen ausgesucht und vorgeschlagen. Der ist der Profi, sie die Azubine.
Das Bier des Gegenüber verschafft mir die Sicherheit, dass ich nicht vor meinem Spiegelbild sitze, es sei denn der Spiegel zeigt mich lieber mit Bier statt mit Wein. Aber warum sollte ein Spiegel das tun, selbst dann, wenn er in einer Hotelbar hängt?
Also, er ist nicht ich. Zweifelsfrei. Zumindest heute nicht. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn mein Haarweiß so weit fortgeschritten ist wie bei ihm, mein Gesicht wie seins in müden Falten hängt.
Ja, er ist älter, nicht weil ich das unbedingt will, auf die Erdnüsse und Zigarette verzichte, damit ich schreiben kann, während er zur Abwechslung wieder Nüsse einzeln seiner linken Hand entnimmt und im Mund verschwinden lässt, um sie dort langsam zu zerkauen. Nein, er ist älter weil er es ist, so wie er nicht ich ist.
Er ist zumindest älter als ich mich fühle oder sehe hier im Barlicht und dem Spiegel zu meiner rechten, der mich von der Seite zeigt, wie ich schreibe, während der drüben weiter Nüsse isst.
Dann ist plötzlich alles anders. Er bricht alle Spielregeln, spricht mit der Azubine, dem blonden Barmädchen, während ihr Kollege mein Glas betrachtet. Ich nicke und er bringt ein neues Glas, gefüllt, nimmt das leere Glas mir weg, leert den Aschenbecher, dies alles wortlos. Wir lächeln uns nur kurz an, wissen von einander was wir wissen müssen, was wir wissen wollen, quatschen nicht.
Der Mann mir gegenüber dagegen quatscht, schreibt nicht mehr, hat den Stift dafür verschwinden lassen, vielleicht sogar sein Geschriebenes, zumindest kann ich es nicht mehr sehen.
Nein, der ist nicht wie ich. Ich quatsche keine Barmädels an, schon gar nicht wenn sie so jung und noch Azubinen sind.
Ich schreibe. Bin wütend, irgendwie, obwohl der mir ja eigentlich egal sein könnte, wenn er nicht ich ist und mir auch gar nicht mehr ähnlich, jetzt.
Die spricht natürlich auch mit ihm, wieso auch nicht, wenn er sie anspricht. Ist er doch ein Kunde und der darf sie ansprechen.
Sie steht dabei steif mit ihrem Rücken an den Kassentisch gelehnt und wirft ihren blonden Zopf beim Sprechen ab und zu zur Seite, mal nach links, mal nach rechts.
Hübsch sieht sie aus, jung, hat spürbar ein Leben vor sich, ein Leben dass er und ich so ziemlich hinter uns gebracht haben, wie auch immer.
Die unterhalten sich und ich beende mein Schreiben. Werde zahlen und gehen. Bis der Barmann soweit ist sehe ich im Spiegel, was da sich zum Verlassen der Bar vorbereitet, sehe meine müden Anziehversuche, den Ansatz von Buckel, silbern schimmerndes Bürstenhaar vom Gläsergefunkel über mir.
Ich erkenne mich nicht.
Der da drüben quatscht und ich suche mich und erkenne mich nicht. Weiß nicht, wer sich da hölzern anzieht und vom Barhocker schiebt.
Der Preis ist genannt. Ich zahle, könnte jetzt eigentlich gehen. Aber ich bestelle noch einen „Absacker“, einen Grappa und sehe zu dem da drüben hin, der zu mir hinsieht, wieder nur kurz, weiter mit ihr quatscht, dann lachen sie.
Ich kippe meinen Grappa und verziehe mich. Vielleicht lachen sie über mich oder ich bin doch er und lache mit ihr über mich selber, dieses trottelige Spiegelbild eines alten Mannes, der sich am Schreiben festhält statt zu quatschen, dafür sogar sein Rauchen und die Erdnüsse verschmäht und flieht, wenn man lacht. Vielleicht. Genaueres weiß auch der kalte Februarwind nicht, der mich draußen in Empfang nimmt. Vielleicht sollte ich demnächst über den schreiben. Im Alter spürt man ihn mehr, den Wind.

(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014

Freitag, 4. April 2014

Marianne



Warum schreibe ich? Ich weiß es nicht – nicht so genau – habe die Frage nach dem Warum nie recht begriffen. Ich tue und tat es schon als kleines Kind. Ich wollte es, träumte davon, mal mehr hingetrieben, mal bedächtig herangetreten und es angesehen nach und vor neuen Schreibtaten.
Warum schreibe ich? Nun ja, vielleicht wegen Marianne, die eines Tages oben aus dem Hause ihrer Familie trat, das letzte Haus der Dorfstraße, das kleinste Haus, das Haus mit den meisten Schadstellen, wo der Wind bereits durchpfeift und die Streitereien und Schläge verrät, das erschrockene Winseln des Hundes und höllentonmäßige Fiepen der Katze auch.
Marianne mit jungen Jahren in Haar und Gesicht, auf den schmalen Beckenknochen und der von Fett und Fleisch noch verschonten Brust, Jahre 13 an der Zahl, frisch vollendet, wenig gepflegt, was kommt kann nur schöner werden, für Gestern ist ihr alles zu spät.
Sie ging, ja hüpfte wie so oft, froh dem Haus entkommen zu sein, für dieses Mal, kam so den Abhang hinunter ein kleines Stück, sah die Kirchtürme an der Kreuzung vor sich, irgendwo das Ziel ihres Ausfluges, sah hin oder auch nicht, beeilte sich oder auch nicht.
Der Wind, diese Bö im Gepäck, aus dem Hinterhalt, erst hinter feinstem Säuseln und leisem Klappern an den Schindeln des alten Fachwerks versteckt, dann einfach da, laut, heftig, stark, kam so über den Berg gebraust, packte Marianne, packte sie ganz, mit Leib und viel zu dünnem, viel zu durchscheinendem Flatterkleid, verschluckte die Schuhe, riss an den Haaren, trug sie schneller und höher davon, als es das neue Coupe des Brauereibesitzers hätte tun können, ein Jagdflieger vielleicht, einer von denen, die in der Nähe ihre Blindbomben mit ähnlich lautem Getöse zu Übungszwecken abwarfen.
Dennoch näherte sich ihr das Tal, sank sie tiefer, hing nach vorn übergebeugt wie ein Skispringer, ließ sich tragen, genoss das Luftpolster, sank und sank, unter ihr die Dorfstrasse, näher kommend die alte Kastanie, die Kreuz- und Dorfmittelpunkt zugleich war, Schattenspender für Generationen von Dörflern, auf deren Rundbank die Jugend am Abend saß, auf bessere Zeiten und Orte hoffend, sank so immer näher der Erde, bis ein Aufflammen der Bö sie packte und in die Krone der Kastanie warf, zu ihrem Glück so, dass sie auf einem kräftigem Ast zum Sitzen kam.
Dort überließ der Sturm sie ihrem Schicksal, schüttelte noch ein wenig die Äste und damit auch sie kräftig durch und verschwand wie er gekommen war. Schon bald weder zu hören, noch zu spüren.
Nachdem sich die Marianne auf ihrem Ast von Schreck und Flug benommen, etwas erholt hatte, betrachtete sie staunend den Himmel, der ihr auf so ungewöhnliche Art  und Weise näher gekommen war. Angst hatte sie keine, nur Gottvertrauen, noch mehr Vertrauen gab sie der Maria, wie die meisten Mädchen und Frauen im Dorf. Der Maria hinten rechts in der Ecke der klobigen Kirche gegenüber der Kastanie, dieser uralten Schnitzkunst, kindhoch, Farben verlierend neben dem Altarraum.
Da die Kastanie auf der Kreuzung stand, die seit kurzem zum Kreisverkehr geworden war um die Ampeln zu sparen, von deren Rotmännchen die wenigsten sich hatten aufhalten lassen, wurde Marianne schnell von Treckern, Fahrrädern und Autos umfahren,  Trecker, Fahrräder, Autos die sich nicht mehr in eine der abgehenden Alleen flüchteten, sondern immer weiter im Kreis fuhren, alls hätten sie ihren Weg verloren.
Aus dem „Kolonialwarenladen Hergans“ kamen Leute, aus der Kirche ein paar der ganz Alten, aus der Schule die zwei Lehrer mit ihren Schülern und alle sahen zu Marianne hoch, zu ihrem Ast, ihrem Haar, dass leicht wehte als wäre es Vorbote der Blätter, die hier sonst vom Wind zum Tänzchen gebeten wurden.
Die Männer feixten und schielten unter ihr Kleidchen, wo kein Unterhöschen ihren Blicken verwehrte was ihnen weder gehörte noch schicklich war.
Die Stimmen, gefüllt mit den Augenblicken von Mariannes kurzem Höhenflug mit Landung auf dem Baum, schwollen auf und ab, ohne dass Marianne auf sie hörte oder gar einzelne Worte verstand. Sie sah und spürte, zu ihrem Glück,  auch nicht die gierigen Blicke an ihren fast formlosen, dünnen Beinen entlang. Sie sah den Himmel, befand sich im Himmel, fühlte sich leicht und warm und die Stimmen um sie herum waren ihr wie Wolken, die sie einluden, auf ihnen weiter zu ziehen, dorthin, wo wohl die Engel wohnen, von Maria beaufsichtigt.
So ging es eine ganze Weile bis die Burschen das Feuerwehrauto herausbrachten, dessen Leiter ausfuhren und Marianne, trotz deren verzweifelter Gegenwehr, hinunter holten, weil sie um sich schlug und biss, unsanft auf die Erde fallen ließen, viel unsanfter als des Sturmes Bö es mit ihr getan.
Da saß sie nun, zwischen all den Beinen, bis der Pfarrer kam, ihre Hand ergriff und sie hochzog.
„Danke dem Herrn, mein Kind!“
„Und der Maria!“ hauchte Marianne.
„Ja, der wohl auch, denn Du musst wirklich starke Schutzengel heute bei Dir gehabt haben. Aber bevor Du in die Kirche gehst, gehe bitte nach Hause und ziehe Dich vollständig an. „
Ja, auch der Pfarrer hatte hingesehen wo er besser nicht hingesehen hätte, nutzte oft die Gelegenheiten für Einblicke, ohne aber je dafür einer Person Gewalt an zu tun, nahm nur mit, was sich ergab, das aber konsequent, wenn auch heimlich.
Marianne nun, die hörte ihn, nickte, obwohl sie ihn nicht verstand.
Sie rannte nach Hause, zog sich einen Mantel über, obwohl es ihr warm war, rannte so wieder hinunter, wo noch immer viele Leute standen, nur die Männer, da es für die nichts mehr zusehen gab, nicht das, was sie im Stillen immer noch genossen, hatten sich verzogen.
Marianne ging durch die Menschen hindurch, die sie zu berühren versuchten, „so ein Glück“ murmelten oder „fast wie’n Heilige“, ging in die Kirche, wo der Pfarrer die kleinen Kerzen vor der Maria auffüllte, da gewiss jetzt viele hineinkämen und sie anzünden wollten, um so auch an dem Wunder der Marianne teil zu haben. Sie ging zur Maria, warf eine Mark in die hölzerne Spendenbox an der Wand, nahm wie dadurch gestattet zwei Kerzen und zündete sie auf dem schwarzen Eisenständer an, der einen Rosenstock symbolisieren sollte.
Der Pfarrer nickte ihr aufmunternd zu und stellte sich neben ihr beim Beten. Er war sicher, dass sie jetzt mit Unterhose bewaffnet war, auch wenn ihm die Wahrscheinlichkeit, dass sie bald wieder solch schamlosen Blicken ausgesetzt sein könnte, recht unwahrscheinlich vorkam.
Und bald schon waren alle Leute von der Kreuzung in die Kirche gekommen und dem Pfarrer fiel ein, was ihm noch nie eingefallen war. Er ging zum Altar und begann eine Messe, eine Messe für Marianne und ihr Wunder. Alle ließen es sich gefallen, gingen zu ihren Plätzen, sangen, hörten, sprachen, sangen, wie sie es gelernt hatten seit ewigen Zeiten in dieser Kirche, die einst mehr Burg und Schutz vor Überfällen war als Gotteshaus.
Und Marianne bekam kaum mit, hätte es wohl nicht glauben mögen, dass diese Messe ihr galt. Marianne betete und sang, wusste hinterher kaum wie sie zurück in ihr Heim gekommen war, wie alles wieder normal zu weden begann, die stimmen verschwanden, „Mariannes Wunder“ verblasste, mit ihm Ehrfurcht, respekt und Toleranz, wusste nicht, dass es ihr größter Tag gewesen sein sollte, einziger ohne Sorgen, dem Himmel nah wie nie, dass sie noch 60 Jahre später an den Krankenhausapparaten gebunden, dem Tode nah, daran denken sollte, wie zuvor in vielen schweren Stunden, die das Leben in seiner bisweilen echt hartherzigen und ungerechten Weise in Fülle ihr aufgetragen hatte. Unbeeindruckt hielt sie auch in den letzten Augenblicken ihres Daseins den Rosenkranz in ihren Händen, überzeugt davon, dass all ihr Beten ihr geholfen, Maria sie wunderbar getragen und gerettet habe. Die würde, so sah sie das Geschehnis als ihr Zeichen, gewiss alles angenehm für die Marianne im Himmel vorbereiten. Warum sonst hatte sie schon einmal dem so nah sein dürfen?
Aber auch für das Dorf geschah lange nichts mehr, was sich so erzählen ließe. Kriege und Herrscher kamen, trieben ihren Wahnsinn und verschwanden, wie auch alte Häuser und Betriebe verschwanden und neue kamen. Und als Marianne starb, war kaum noch einer Bauer, die meisten Familien fortgezogen oder kurz vor dem Aussterben.
Nur die Kirche und die Kastanie erinnerten mit gleichem Antlitz an die Zeit als Marianne auf den Baum flog.

Ja, vielleicht schreibe ich deswegen, wegen Mariannes einzigem Moment, der himmelsgleich ihr war und all denen, die so anders von den Stürmen der Zeit davon getragen werden. Und nicht alle landen so weich, wie die Marianne. Ja, weil sie nie darüber schreiben werden, nur die anderen sich die Münder wetzen, manche mit gierigem Blick, lüsterner Zunge über den Lippen. Ja, ich glaube, auch deswegen schreibe ich, dass auch die anderen Geschichten erzählt werden, die, die nicht ganz so lustig sind und wie der Barde Troubadix in den Asterixcomics ferngehalten werden, wenn es in den Gaststätten hoch und das Erzählen losgeht.

(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014

Donnerstag, 3. April 2014

Das letzte Glas



Das Haus war festlich erleuchtet und die ausgelassene Stimmung bis zu dem großen Garten, eher ein Park, hin zu spüren. Über allem waren bereits in die hoch kriechende Schwärze Sterne aufgezogen und ein schmaler Sichelmond,
als der alte Mönch am Ende des mit Essensresten, Weinflaschen und Gläsern überfüllten Tisches sich erhob und auf seine leise Weise begann sich zu verabschieden von der munter plaudernden und dem Alkohol nicht wenig zusprechende Runde.
Da unterbrach ihn die Gastgeberin, stand auf wie er, schaute sich beim Sprechen mit glänzenden Augen unter mächtig onduliertem Haar zu ihren Gästen um. Sie verwies auf das ja erst halbleere Glas des Mönches und dass der gute Wein darin doch eine Verschwendung wäre, die dieser und sein Winzer nicht verdient hätten. Er solle es daher doch als guter Christ und Freund der Weinberge des Herrn in Ruhe zur Gänze leeren und genießen.
Da schüttelte der so Ausgebremste seinen Kopf, sah die Rednerin dabei voll der Milde an und sagte:
„Entschuldigen Sie mich, bitte! Verehrte Gastgeberin, bitte und wirklich ganz herzlichen Dank für Ihre Bewirtung. Aber dieser Wein dort in meinem Glas, der würde tatsächlich ein Opfer der Verschwendung und Missachtung, tränke ich ihn jetzt aus und schüttete ihn zu den anderen Tropfen, die ich bereits, und das sehr, liebe Gastgeberin, dank Ihnen hier genießen durfte.
Möge er besser in ihrer Runde noch ein wenig ruhen und sich setzen und dann ohne Umweg über meine eifrig arbeitende Magensäure seine letzte Reise antreten zurück in das Wasser, aus dem wir alle laut den Wissenschaftlern ja dereinst an Land gekrochen, nicht wir, doch aber das, was sich genetisch auffinden lässt. Denn wie sprach doch der Herr, Wasser werde zu Wein und Wein zu Wasser und meinem letzten Schluck hier gönne ich gerne dieses Werden von Einem zum Anderen.
So sollten wir es immer und alle halten, dem letzten Schluck gönnen, was ihm gebührt, wie viel mehr an Genuss bliebe uns in Erinnerung, an wie viel mehr von der Köstlichkeit seiner Aromen und Würze könnte uns den Tag versüßen und den Geist stärken in wohliger Zufriedenheit.
Trinken wir aber alles stets aus bis zum letzten Tropfen, erweckt uns am Morgen nur die Sehnsucht nach weniger Schmerzen, Durst und Nebel im Geist, wünschen wir uns nur noch, nicht erinnert und schnell wieder klar zu werden.
Ich für meinen Teil danke Ihnen sehr für die guten Tropfen und wünsche auch Ihnen den rechten Genuss derselben.“

Sprach es und ging.

Verdutzt und schweigend sahen alle hinter ihm her, manch einer zaghaft den Kopf schüttelnd, saßen so eine Weile, ohne dass einer zum Glas griff, weder zum Wein noch zum Wasser. 

Schließlich erhob die Gastgeberin wieder das Wort, diesmal aber sitzend.
„Was meinen Sie, liebe Freunde und Verwandte, war unserem Mönch nun sein Glas halbvoll oder halbleer?“
Niemand antwortete, einige zuckten mit den Schultern, die meisten machten eher ein ratloses Gesicht.
Die Gastgeberin gab sich mit dieser Art Antwort zufrieden und begann mit ihren Tischnachbarn das Gespräch fortzusetzen, das sie wegen des Aufbruchs des Mönches unterbrochen hatte. Auch die anderen gaben sich den bei solchen Festlichkeiten üblichen Beschäftigungen hin und bald schon musste neuer Wein herbeigeschafft werden.


Erst der Verlauf des nächsten Morgens und die Art der Begegnung mit dem neuen Tag rief den meisten der Festteilnehmer die Worte des alten Mönches in Erinnerung und einige beneideten ihn jetzt ob seiner Entscheidung es gut sein zu lassen mit dem Wein und dem letzten Schluck.

(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014

Donnerstag, 6. Februar 2014

Kneipenabend mit Handycap



Eine altehrwürdige Kneipe in einer lang schon bekannten Stadt. Mitten in einem ihrer Wohnviertel gediegenerer Tage.
5 Männer, 2 Frauen an drei Tischen. Ein Wirt, der seine Gläser putzt und putzt. Die Gäste schweigen bis sie gehen. Der Wirt kommt schweigend, kassiert nach Deckeln, räumt die Gläser fort. Zieht sich schweigend ebenfalls seine Jacke an.
Sie verlassen alle zusammen die Gaststätte, ihre neuesten Smart-Phones mit SMS-Flatrate immer noch in der Hand.
Die Nacht versteckt ihre Sterne hinter dicken Wolken. Der Mond, im halbvollen Zustand, scheint matt zu grinsen.
Wäre nicht plötzlich in der Ferne ein Krankenwagen zu hören, bliebe es eine Geisterstadt. Geister, die sie riefen und nicht loswurden. Nicht diese Nacht.


(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014

Mittwoch, 5. Februar 2014

Vom Glauben der Anderen


Die Nacht, die uns draußen nach der Lesung entgegenschlug, war eiskalt und so funkelte uns die verlassene zeittypische Fußgängerzone an, als hätte sie einen Belag, gewebt aus millionen kleinster Diamanten oder Eiskristalle.
Mein Begleiter und Gastgeber, ein Buchhändler meines Alters, wie ich in dem Jahrzehnt, in dem die spannende Frage war, ob man das 7te Jahrzehnt noch lebend erreicht, lud mich zu einem Bier ein.
„Nach solchen Veranstaltungen habe ich immer so einen trockenen Hals“, meinte er.
Es gab keinen Grund für mich, nicht einzuwilligen, da ich noch nicht erschöpft genug war, die kleine Pension, die man mir gebucht hatte, zum Schlafen zu nutzen und trotzdem schon zu müde für andere Sachen, wie zum Beispiel Schreiben oder in dem kleinen, silbergrauen Fernseher, auf den Übernachtungsanbieter in ganz Europa wohl Rabatt bekamen, nach einem genießbaren Beitrag zu suchen.
Also antwortete ich ihm mit „Ja, gerne.“
Wir landeten nicht weit entfernt, also angenehm schnell raus aus dieser doch arg lästigen Kälte, in einer Kneipe, die den Namen tatsächlich noch verdient hatte. Dunkel, Luft stickig obwohl auch hier wie neuerdings im ganzen Land nicht mehr geraucht werden durfte. Licht entsprechend trüb, wie von früher und meinen allerersten Kneipen gewohnt. Fast nur Männer. Breite Rücken, dicke Jacken und Pullover, alle in dunklen Farben. Hier war „Jack Wolfskin“ noch nicht ausgebrochen.
Es roch nach Bier und Schweiß und altem, übriggebliebenen Rauch. Wir fanden Platz am Ende der gewaltigen Eichentheke, die ihre Jahrzehnte durch matte Kratzer und speckigem Glanz uns gerne entgegen prahlte.
Ich sagte spontan, dass ich nicht damit gerechnet hätte in einer deutschen Innenstadt noch so ein Prachtexemplar von Originalkneipe erleben zu dürfen.
Er nickte und meinte nur, „ist für mich auch ein Wunder.“
Kaum stand ein dunkles, vor Ort gebrautes Bier vor uns, kam dann eine der Fragen, die wohl bis zum Ende aller Schreiberlinge kommen muss.
„Warum schreiben Sie?“
Weil die Kneipe mir gefiel und auch der Mann, dachte ich ausnahmsweise darüber ein wenig nach, bevor ich ihm eine Antwort servierte.
„Eigentlich nur, um etwas über mich selber zu erfahren, was mir beim normalen Nachdenken nicht gelingt. Ich entdecke immer wieder etwas über mich in den texten, mal mehr, mal weniger, aber immer noch viel zu wenig. Daher schreibe ich und schreibe, vielleicht, dass ich es nie zu Ende bringe. Nein, wahrscheinlich. Verstehen Sie?“
Zu meiner Überraschung nickte er.
„Ja, das geht mir beim Lesen und Hören ja auch so. Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Keine Angst, sie ist nicht von mir und kein literarisierender Versuch Ihres Gastgebers.“
Auch das war normal, dass mir Manuskripte in die Hand gedrückt und eigene literarische Bemühungen der Gäste oder Gastgeber zugemutet wurden. Nun denn, wenn es in diesem Fall anders war, soll er erzählen.
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern legte gleich los.
„Ich bekam diese Geschichte von einer alten, wirklich alten Frau geschenkt, die ich während meines Zivildienstes in einem seniorenstift zu betreuen hatte. Es war eine schlichte Frau, vom Land. Wenig gebildet, sehr arm. Die Kirche zahlte ihren Aufenthalt.
Sie erzählte gerne von früher, von ihrem Dorf und ihrem Leben. Sie tat das für mich erstaunlich ruhig, voller Lust und Kraft, oft sogar schelmisch, obwohl sie fast nur düstere, mich erschreckende Ereignisse zu berichten hatte.
Bis heute aber verfolgt mich ihre eigene Geschichte, die ihres Lebens. Auf eine mir nicht wirklich begreifbare Art hat sie wohl etwas mit mir, meinem eigenen Werden und Suchen zu tun. Und ich rätsel noch heute herum, um was es darin genau geht.
Aber hören sie selber.
Sie hieß Thusnelda, wurde von allen Tussi genannt, von ihrem Ehemann Tusschen. Keine Ahnung wie Eltern auf solch einen Namen verfallen konnten. Sie lachte oft darüber. Ja, ihr Lehrer hätte ihr erzählt wer Thusnelda gewesen war. Die entführte Gemahlin vom angeblich deutschen Helden, dem Cheruskerfürsten Arminius, dem Sieger gegen die Römer in der Varusschlacht. Aber sie war sich sicher, dass ihre Eltern das nicht gewusst hätten als kaum des Lesens kundige arme Häusler im Moorland.
Geboren wurde sie als Letztes von 17 Kindern, überlebte mit 11 anderen recht mühsam in der kleinen Kate auf dem Grundstück des Bauern, für den sie alle in erster Linie arbeiten und springen mussten. Für die eigene Landwirtschaft blieb da wenig Zeit und so mussten sie wohl oft hungern.
Sie meinte, dass wäre gut für sie gewesen, denn es habe sie stark gemacht für ihr restliches Leben. Eine gute Freundin sei ihr in der Kindheit die Jungfrau Maria geworden, deren hölzernes Abbild an der Kreuzung der Wege zu ihrer Kate und dem Bauern gestanden hätte. Heute stände dort ein ALDI-Markt mit großem Parkplatz. Für ihre Maria hätten die keinen Platz mehr gefunden.
Das mit ihrer Hingabe zu Maria bereitete mir nicht nur damals Kopfschmerzen. Ich bin protestantisch aufgewachsen, wenn auch nicht mit Beten am Tisch oder gar zu vielen Kirchgängen. Die katholische Kirche jedenfalls war mir schon früh zuwider. Und besonders deren Marienkult konnte und wollte ich nicht verstehen. Als ich später meinen Glauben verlor, warum? Einfach so, mit der Zeit und ihren mich davon entfernenden Angeboten. Jedenfalls konnte ich da zwar noch halbwegs die Verehrung von Jesus Christus nachvollziehen und teile ja auch heute noch vieler seiner Werte, die von seinen Kirchen oft mit Füßen getreten und aufs übelste verraten wurden. Aber Maria! Dreifaltigkeit! Nichts für mich. Dumpfer Aberglaube in meinen Augen. Ebenso dieser Heiligenzirkus und Reliquienzauber.
Sie aber liebte Maria, grad so, als wäre sie deren kleine Schwester.
Sie betete nicht zu Gott, oder selten, meist zu Maria, besprach mit ihr alles und behauptete steif und fest, mich dabei mitleidig schelmisch ansehend, auch Antworten bekommen zu haben.
Nun ja, Gründe dafür bescherte ihr das Leben genug.
Als sie 14 war wurde sie zwar nicht entführt wie ihre Namenspatronin, aber ungefragt verheiratet zu werden in dem Alter scheint mir auch nicht besser zu sein. Ihr Mann war ebenfalls ein kleiner Häusler von ihrem Bauern und so änderte sich nicht wirklich viel für sie. „Ich hatte Glück, zwei Schwestern bekamen keinen ab. Die mussten als Magd ran bis sie umfielen. Naja, gelacht haben die auch mal und beim Feiern waren die immer die ersten.“ So sah sie das.
Ihr Mann war doppelt so alt und hatte bereits zwei Frauen im Kindsbett verloren und so hatte sie gleich zwei Kinder um die sie sich als 14jährige zu kümmern hatte. In meinen Augen war sie dabei doch selbst noch ein Kind.
„Och, nee, dat war nich immer so, damals schon gar nicht. War schon in Ordnung so mit de Lütten.“
Ihr Mann war verwundet worden im deutsch-französischen Krieg, mit dem Bismark sein deutsches Reich begründet hatte. „Ja, und da musste der immer mit’m Stock. Weil, Krücken gabs keine bei uns. Hat er sich selbst geschnitzt. Und am Kopp hatte ers och. Hattn Säbel abbekommen, so quer rüber, blieb ihm die Narbe von und Kopp-Pien.“ Ich kann ihre Stimme noch heute in mir hören, als hätte sie es gestern erst zu mir gesagt.
Naja und darum wäre der nicht immer fröhlich gewesen, ja, auch laut und heftig. Wär halt im Krieg gewesen.
Aber Kinder hätte sie ihm geschenkt, 12 an der Zahl, 8 hätten überlebt bis sie später anders unter die Räder kamen. In den großen Krieg habe der Mann nicht mehr gemusst, so wär sein Leiden auch ein Glück für sie geworden. „Wer weiß, ob der Döskopp zurückgekommen wär, ist nie der fixesten einer gewesen. Außer beim Kindermoken.“
Ansonsten, ja, 4 Brüder und der Vater wären gefallen und 2 Söhne vom Bauern. Nach dem 1. Weltkrieg wären ihr noch die Mutter und 3 Schwestern und 4 Brüder geblieben. Eine Schwester hätte schon lange vor ihrer Geburt die Kirche der Familie abgenommen und so sei die Nonne geworden. Ein Bruder durfte sogar lernen und Pfarrer werden. Der wär aber nach Afrika gekommen und dort verschollen. Einen Bruder hätten sie nach dem Krieg bei einem Einbruch erwischt und eingesperrt. Danach hätten sie nie wieder von ihm gehört. „War schon immer unser Bruder lustig, nun ja, is ihm nich bekommen.“
Auf jeden Fall hätte sie der Maria immer viel zu erzählen gehabt, nein, leicht wär das nicht immer gewesen. „Aber für wen is dat leicht? Wir sin da, wir sin wech, nich wahr. Dat is nun mol immer son Schietkrom hier.“
Die Nonne hätte die Schwindsucht bekommen, obwohl „di immer ganz hielig wor. Hätt nix nütz. Hat der Herr se hochnohmen. Vielleicht brukt he die da oben mehr.“
Man wüßte ja auch nicht, was sich da oben alles so rumtriebe. Angeblich könnten ja auch viele Sünder dort hinkommen. Ihr Bauer, „dat olle Oos“, wär zum Beispiel sicher gewesen dem lieben Herrgott Tach sagen zu können. Weil er ja die Maria bezahlt hat. „Und da brükt he‘n poor Hielige sin Loden in Schwung zu holten.“
Unabhängig von Kriegen, Sozialistengesetzen, Kaiserflucht und Republik lebte sie ihr Leben als Häuslerin, versorgte Mann und Kinder, soweit der Bauer ihr dafür Zeit ließ und später auch noch die letzten Geschwister und die Mutter.
„Ik war ja dat jüngste Blaach. Da mußt dat so kohmen, dass ich die all upn Doch hab pflegen müssen, so wie Sie junger Mann jetzt mit mi dat Kreuz haben.“ Das ging durch ihre ganzen Jahrzehnte hindurch. Das viele sterben, Erkranken oder anders „unter de Räder kohmen“ verwirrte mich bisweilen, zu viele Namen, zuviele Schicksale, an denen sie teilgenommen hatte.
Sie hat ihren Mann bis zum Tod versorgt, manche ihrer Kinder, hat alle überlebt und lächelte mich jeden tag an, als habe das Leben ihr nur Rosen auf den Weg gestreut.
Im zweiten weltkrieg „heb wie dem Kriech, dem Dübel, dree unserer Kind  mitgeven. Eener mehr, weil de unterm Nohmen vom Burn seen Hinnerk mitmusst. „ Das heißt der Bauer rettete seinen eigenen Sohn auf Kosten ihres Sohnes. Aber der trieb es noch schlimmer. Als genau der Sohn eine Tochter von ihr vergewaltigte und dabei gleich schwängerte, verjagte der Bauer ihre Tochter vom Land. „De worn Dübel, nu he war de Buur. So war dat.“ Sie hatte die Tochter ziehen lassen müssen und nie wioeder von der gehört. Zwei Töchter wurden von ihren Männern oft  „halvdoout slon“ und starben in der Folge recht früh an Entkräftung.
Die arme Maria hätte sich viel anhören müssen, nein, nicht geschimpft, das habe sie nie, nur gedankt und gebetet, dass es nicht schlimmer käme.
Thusnelda ging wohl am Sonntag oft in die Kirche, nicht selten aber auch am Samstagabend, da sie den Sonntag zum Arbeiten für ihre Familie gebraucht hatte. An der Kirche fand sie eine andere Marienfigur, umgeben von einer grotte wie in Lourdes. Ja, da wäre sie zu gern mal hin gewallfahrt, „de Buur mit sein Schrappnelle sin hin, bruukt dat for sien Seelenheil, mient he.“ Ja der Bauer und sie, die wahre Freundin Marias nicht.
Als es mit den Nazis zu Ende ging musste ihr Mann trotz seiner Behinderung und seines Alters noch zum Volkssturm. Der war begeistert und überzeugter Nazi gewesen obwohl er auch oft sang „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben“.
„Naja und do is he mit den Oberlamettas zum Buurn, wollt twee Jungs von dem.“
Der Bauer trommelte seine Leute zusammen, ließ die „bruunen Lamettas“ an seiner Allee aufhängen und ihren Mann „tüchtig tosohmen kloppen“, qwovon der sich nie mehr erholt habe. „Nee, so war dat.“ Meinte sie immer und grinste mich an. „Yu leev anners. Aber wi hätt dat zusammen bringen moßt.“
Ihre Sprache aus Platt, Hochdeutsch und eigenen Kürzungen und Windungen war wie ein endloser Singsang, fast konzertant, als hätte sie von ihrer Maria eine eigene Melodie geschenkt bekommen, das Leben damit zu meistern.
„Mit de Maria ging dat jo. Meist. Nee, geflemmt hab ik ok, tuhus, for mi alleen. Dat wollt ich nich to ehr hindohn.“
Der Bauer, der trotz seiner nie strafverfolgten „Hängepartie“ schon früh Parteimitglied bei den Nazis gewesen war, bekam von seinen Häuslern, Mägden und Knechten nach dem Krieg seinen „Persilschein“. „Wat willst moken. Wi bruuk den doch. Is unser Buur.“
Für mich kaum vorstellbar lebte sie offensichtlich von Geschichte und Zivilgesellschaft völlig abgetrennt. Nur die, die fort mussten bekamen etwas mit. Der Bauer lebte nicht mehr lange und sein Ältester übernahm den Hof, entließ alle Mägde und Knechte und schaffte früh Traktoren und andere Maschinen an. Zwei seiner Brüder machten eine Tankstelle mit KFZ-Werkstatt und einen Landhandel an der Dorfstraße auf.
„Jo, und denn sind se all wech von mien Familie, was noch do wor. Inne Stadt, to de Fabriken. Ging ja gut damals, was ol wech an Wachsen und Geld lag da so rum. Soveel hev wi nie tvor hat.“ Sie selber durfte in ihrer Hütte bleiben mit einem Sohn. Der baute aus und um und gründete seine eigene Familie. Schließlich mußte sie ausziehen, weil er Platz brauchte. Häusler war da schon lange keiner mehr. Er war jetzt selber Bauer und arbeitete im Straßenbau.
„Bis ihn son fien Pinkel mit sein Jaguar tod forn hätt. Is friesprochn worn, dat Oos! He hätt mien Dschung nich sehn könn, wär selber schuld wärn. Naja, wat son Pinkel is, der kricht sien Recht.“
„Mi is dat Himmelreich, dat glov man, Jung. Do schludert mi kein rum. Do bin ik to huus. Un nich de anders mit jem Swienkrom un Dulltüch.“ Das sagte sie immer wieder zufrieden lächelnd und mir den Arm tätscheln.
Auf ihrem Nachtisch stand natürlich, was sonst, neben dem gusseisernen Billigkreuz eine kleine Madonna aus Rosenholz. „Von mien Moder, de hät de wohl von ihr Moder un so wieter.“ Ja, sie spräche mit der, immer wieder, jeden Tag. Der alte Pastor hier wär schon neidisch gewesen darauf. Der wollte lieber, dass sie zum Herrgott mehr Kontakt hätte.
„Jo, de kann reden. Is de nichn Mann, de hielige Gott? Un sein Sohn ok. Nee, ich blev bi di Maria. De Himmel bruukt de as Fruu. Is doch so, oder nich?“
Und als sie spürte, dass es mit ihr zu Ende ging, wirkte sie noch mehr zufrieden auf mich. Als freue sie sich auf den Himmel und ihre Maria dort.
Sie können sagen, dass diese Frau halt sehr naiv und tiefgläubig war. Ich würde und müsste Ihnen Recht geben. Aber sie hatte etwas, was mich heute noch berührt und was uns heute oftmals fehlt trotz unserer geschulten Klugheit und angestrengter Suche. Sie hat mir etwas über mich gesagt, ohne dass ich es so richtig in Worte kleiden kann. Sicher, dass ich es besser habe und andererseits aus ihrer Sicht auch nicht. Ein wenig habe ich mich ihr gegenüber stets schuldig und unehrlich gefühlt. Da ist etwas, was ich mir nicht eingestehen mochte, vielleicht die Sehnsucht nach so etwas wie ihre Maria oder ihre Haltung bei all den Schicksalsschlägen und Gemeinheiten in ihrer Umgebung. Hassen wir zu schnell, klagen wir zu früh, beanspruchen wir etwas, was uns nicht gehören kann? Was ist es? Oder suchen wir einfach falsch, gibt es etwas, was wir ständig übersehen aus Eitelkeit, Anspruchsdenken oder Egoismus? Sie sehen, wirklich weit bin ich mit meinen Fragen nicht gekommen, obwohl die Begegnung mit ihr schon so lange zurück liegt.
Manchmal rührt mich ihre Geschichte derart an, dass ich das Gefühle habe, in ihr läge unsere wahre Bestimmung und Erfüllung, dann wieder überkommt mich Zorn über das, was sie erleben musste und ihre geringe Gegenwehr und ich bin froh, dass wir solche Zeiten hinter uns haben. Dann wieder glaube ich, dass ich ihre Geschichte nicht vergessen dürfte, wollte ich bei mir selber bleiben und meine Lebensziele hier erreichen.“
Ich nickte nur, während er das sehr anschaulich erzählte, dass ich mir den jungen Zivi, die Madonna und seine Thusnelda sehr gut vorstellen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass sie ab jetzt auch Teil meines Lebens sein würden. Meine Stimmung hatte sich völlig verwandelt, die Lesung war vergessen. Ich dankte ihm für seine Bereitschaft mir das zu erzählen und bestätigte ihm, ähnlich zu erleben und zu fühlen beim Schreiben.
„Verrückt, aber es ist wahrscheinlich wirklich so. Die tiefsten Wahrheiten in Worten und Sätzen sind nicht mit unserer Sprache zu fischen. Aber sie sind es, die uns anziehen, lesen und mich schreiben lassen. Ich glaube auch nicht mehr, bin wie Sie lange schon aus der Kirche ausgetreten. Trotzdem berührt und fasziniert mich ihre Geschichte und wie sie, kann ich nicht sagen, warum. Vielleicht ja auch aus Ehrfurcht ihrem Leid und ihrer Haltung gegenüber. Vielleicht aus Neid, weil sie glauben konnte und wir nicht.“
Der Abend wurde Nacht. Wir sprachen nicht mehr viel. Saßen stumm, tranken, nickten, er ergänzte bisweilen die Geschichte, ich kommentierte kurz, meist zustimmend. Als ich schlafen ging, wusste ich ein kleines Stückchen weiter gekommen zu sein und dankte im Stillen der alten Dame dafür.

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014


Die Konferenz


Für die Korrespondenten ergab sich das für sie gewohnte Bild einer Konferenz in Afrika. Angeleiert von der UNO mit Vertretern der Weltwirtschaft, der Regierungen und Hilfsorganisationen, die einzeln mit dicken, schwarzen Limousinen vorfuhren, mal mit, mal ohne Frau, in die Kameras lächelten und rasch von den nachrückenden Fahrzeugen aus dem Bild gedrängt wurden.
Das Thema war das Thema wie seit Urzeiten aller Korrespondententätigkeiten über solche Konferenzen. Arm und Reich, Abgeben und Nehmen. Schwarz und Weiß. Inzwischen Weiß mit Gelb gemischt, da sich die Asiaten zu den reichen Weißen gesellt hatten.
„Hauptsache gutes Essen und Trinken,“ meinten die Korrespondenten.
Zwei Tage, das würde leicht zu überstehen sein.
Der Saal war zu ihrer Überraschung leer. Kein Tisch. Kein Stuhl. Und so standen alle mehr oder minder Würdenträger ratlos herum und erwarteten ein Signal, sich in einen anderen, vorbereiteten Raum zu begeben. Das geschah nicht.
Stattdessen kamen kaum bekleidete Afrikaner herein, abgemagert und mit Hungerbäuchen. Sie trugen alte Benzinfässer und große Tierknochen herein. Erschrocken wich man vor ihnen aus und sah fassungslos zu, wie diese ihre Mitbringe im Kreis aufstellten als Tisch- und Sitzgelegenheiten.
Als die ersten Gäste laut wurden und ihre Chargen zu sich riefen, den Sachverhalt auf zu klären, kamen weitere Leute, darunter diesmal auch Kinder in ähnlich erbärmlicher Verfassung mit offensichtlichen Speiseresten aus Hühnern, Schweinen und undefinierbaren anderen Ursprüngen.
Noch immer traute sich niemand, sich an dieser Art gedeckte „Tafel“ zu setzen.
Inzwischen raunte es unter ihnen, dass es sich wohl um ein Theaterstück handeln müsse, bestimmt wie meist aus ihren Spenden und Zuschüssen finanziert, weil der Kontinent ja neben Food auch Kultur dringend nötig hätte.
Schließlich kamen die vermeintlichen Schauspieler wieder, dieses Mal mit stark vom Tragen gezeichneter Kleidung, legten diese einzeln sorgfältig zusammen und verschnürten das Ergebnis mit Geschenkbändern. Auch Schuhe waren darunter, Mützen und Schals. An jedem Platz lag so am Ende ein Geschenk.
Während der ganzen Aktion gab es nur das noch das Raunen, verschämtes Flüstern. Die Afrikaner selber sagten kein Wort. Als sie sich endgültig entfernt hatten, herrschte eine Weile Schweigen. Alle waren gespannt, was nun folgen mochte.
Erst jetzt fiel ihnen auf, dass der offizielle Gastgeber, ein hochrangiger und allseits hoch gepriesener Staatschef eines der kleinen Länder hier noch nicht erschienen war. Er sollte den Vorsitz übernehmen auf der Konferenz im Auftrag der UNO.
Er betrat den Raum, als die Spannung kaum noch aus zu halten war und leichte Verärgerung spürbar wurde.
Er begrüßte alle Anwesenden in üblicher Manier und lud an die Tische, damit sie die Konferenz beginnen könnten.
„Ich denke, wir konnten Sie erfreuen und positiv überraschen. Wir haben uns erlaubt Sie mit dem willkommen zu heißen, was wir Ihnen wert sind und was Sie bereit waren bisher an uns ab zu geben aus Ihrem Reichtum. Und da es Ihnen das Beste scheint für uns, dachten wir, wäre es jetzt an uns, es ihnen mit gleichem Respekt wieder zu schenken. Ich hoffe, Sie sehen es als Zeichen unserer Dankbarkeit.“ Und dann setzte er sich.
Die Korrespondenten mussten stehen bleiben und sich nach der Eröffnung entfernen, worüber sie mehr als froh waren. Keiner kam auf die Idee, diesen ungewöhnlichen Beginn in die Heimat zu berichten. Stattdessen schrieben sie: „Ein weiteres Treffen, dessen Ausgang vorhersehbar war. Die Afrikaner fordern, die reiche Welt mauert. Im Ergebnis überflüssig.“


Dienstag, 4. Februar 2014

Der Fürsorgliche



Zum Tag des Krebses 

Es lebte in einer Neubausiedlung am Rande der Stadt ein Mann mittleren Alters. Den hatte seine Frau über alle Maßen lieb, denn er verwöhnte sie sehr. So machte er ihr vom ersten Tag ihrer Ehe an das Frühstück. Mittags sorgte er dafür, dass sie etwas Warmes zu Essen bekam. Deckte natürlich auch den Abendbrottisch und sorgte dafür, dass immer genug zum Knabbern für sie da war. 
Fuhren sie in den Urlaub, nahm er stets eine breite Palette an Süßigkeiten für sie mit. Und so überlebten sie manches Jahr.
Sie wurde dicker und dicker, er hingegen blieb schlank wie am ersten Tag. Sie quälte sich im Fitness-Studio während er mit seinen Kollegen in der Kneipe Bier zu sich nahm.
Als sie ihm immer öfter vorschlug, doch weniger fettes Fleisch, Wurst und Kalorienbomben auf zu decken, nickte er nur. „Natürlich gerne, mein Schatz.“
In der Regel hielt er sich eine Weile daran, schmuggelte aber immer wieder „Leckeres“ dazwischen, bis sie es aufgab anderes zu verlangen.
Auch küsste er sie stets überall und betonte immer wieder, dass er jedes Stück Körper an ihr liebe, egal wie viel es wäre.
Dann bekam sie Krebs und musste zur Chemotherapie.
Der Arzt fragte nach ihren Essgewohnheiten und gab ihr einen ganz anderen Essensplan. Da standen lauter ihr wenig vertraute Sachen drauf wie viel Obst und Gemüse, Nüsse, frisch gepresste Säfte, kein Fleisch, keine Wurst, wenig Käse, viel Fisch und so weiter, dass ihr allein bei dem Gedanken daran schlecht wurde.
Die Chemotherapie vertrug sie auch nicht gut und umso mehr sehnte sie sich nach den essbaren Verlockungen aus der Küche ihres Mannes.
Ende vom Nahrungslied: sie verstarb.
Am Tag ihrer Beerdigung ging ihr Mann nach Hause, kochte sich eine Broccolisuppe und studierte aufmerksam ihren Essensplan, der unbesehen über dem Küchenschrank hing.
„Jetzt fange ich von vorne an“, sagte er laut zu sich oder den Küchenmöbeln. „Die nächste Frau bringe ich anders um. Schneller vor allem, es ging doch arg lang.“ 

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014

Dienstag, 28. Januar 2014

Spiegelgedanken



„Du musst loslassen! Einfach loslassen!“ Mein Spiegel aber lässt mich nicht los, nicht dieses Wintergesicht mit den Augenringen über dünnen Bartstoppeln auf fahler Haut.
„Loslassen!“ Was denn, wie denn?
Draußen fährt der Nachbar von gegenüber mit seinem Wagen fort. Hoffe für die Frau, dass er wiederkommt.
Am Sonntag standen vor unseren Häusern zwei Krankenwagen. Der Junge von nebenan. Blinddarmdurchbruch.
Über unseren Bäumen bilden Gänse ihre Formation. Mitten im Januar. Wo fliegen sie hin und woher kommen sie? Auf unserer Straße versickert der erste Schnee bereits wieder in den Gullis.
Vom Badezimmer aus lässt sich alles gut beobachten. Eigentlich müsste ich jetzt in den Tag hinein gehen.
„Frischluft tut Dir gut“, sagte Hilde zum Abschied. „Geh ein wenig spazieren. Du siehst blass aus.“ So fühle ich mich auch.
Wann kommt der Müllwagen, die Bio-Tonne zu leeren? Danach hätte ich einen Grund hinaus zu gehen, die Tonne zurück zu rollen.
Der Nachbar rechts hat wohl wieder Notdienst. Sein ADAC-Wagen steht einsatzbereit vor der Tür.
Ich könnte mehr erfahren, wenn ich durch die Siedlung ginge. Aber was und will ich das überhaupt?
Die Sonne lächelt den Himmel smaragdblau. Da strahlen die Dächer und funkeln die Zäune.
„Loslassen, raus, gehen.“ Ich sehe in den Spiegel das vertraut unvertraute Gesicht. Meide die Furchen. Zähle die Stoppeln heute nicht. Rasieren. Wozu?
Hier ist es warm und ich sehe mir zu, wie ich mich anstarre und mein Umfeld dazu.
Die schlecht geschlafene Nacht drückt mir die Knochen, zwickt mir ins Muskelfleisch.
Könnte ich loslassen, stände ich hier nicht. Wäre wie Hilde am Arbeitsplatz. Hätte nicht den Arzttermin.
Im Spiegel finde ich mich angekommen, dort wo ich meinen Vater wieder fand, im Alter, müder aber auch toleranter mit sich und mir.
Habe schon losgelassen die wilde Jagd etwas zu werden, was mehr ist als ich gestern war. Das ja. Aber was noch und wohin damit?
„Nichtstun, fallen lassen“, rät mein Arzt. Lassen, lassen, lassen. Ein Wort wie abgelaufener Quark.
Die Frau von gegenüber kommt mit ihrem Sohn heraus. Er hat wohl den Hund zu Weihnachten geschenkt bekommen und ein Fahrrad. Mit beiden machen sie sich auf den Weg. Sie sind frisch hierher gezogen.
So langsam beginnen hier neue Geschichten ihre Wege glatt zu harken. Und wir, wir warten, was noch mit uns geschieht. Auf Krankenwagen und wer von hier ins Altersheim geht.
Die Häuser werden umgestaltet. Alles, was uns lieb und teuer war scheint reif für den Sperrmüll geworden. Immer öfter sehe ich das Inventar der letzten Jahre auf der Straße stehen. Haus nach Haus wird frisch bezogen.
Ich könnte meinen Kreislauf starten, unter die Dusche fliehen. Aber dann hielte mich nichts mehr hier fest, nicht mal mein Gesicht.
„Du musst loslassen! Einfach loslassen.“ Du musst, und das noch einfach. Nichts will ich noch müssen und schwer fiel mir immer leicht. Vorbei.
Das Los lassen? Mein Los? Unser Los? Gelassen sein lassen, los lassen das Los?
Da gehe ich lieber erstmal duschen, auf die Plätze, fertig, los.
Mein Gesicht habe ich mir eingepackt. Könnte sein, ich brauche ich es noch am Abend, wenn Hilde erschöpft wieder kommt. Dann können wir zusammen darin ermüden.
Vielleicht hat der Junge es ja überlebt. Wir haben uns nicht getraut nebenan zu klingeln und nach zu fragen. Hoffentlich war es nicht zu spät.
Uns bleibt dies, zu hoffen, zu sehen, wie es anderen geht.
In der Werbezeitung gestern diese Überschrift gelesen: „Mit dem Rollator die Welt besteigen.“ Ob das auch mit mir und meinem Rollator funktioniert? 


Montag, 27. Januar 2014

Klopfer, Polen und das Fehlen der Adjektive



Damals, als wir noch sprachlos waren. Alte, Frauen und Kinder. Ferngeräusche. Küchengeklimper. „Darüber spricht man nicht!“ und „das geht Euch nichts an.“ Sätze wie am Rosenkranz, den hier kaum einer kennt. Fast alle evangelisch oder heimlich ungläubig.
Unser Viertel bestand aus Straßen, deren Häuser wie an Perlenketten nebeneinander hingen, dicht an dicht und längst nicht so schön, mochten sich unsere Nachbarn auch noch so viel Mühe mit den winzigen Vorgärten geben.
Piepenbloks, Brams, Hansen, Wührmann, Meyerdierks, Hinnerk, Petersen, Namen die wir alle kannten. Ja, vor allem die Namen zählten hier, bedeuteten irgendwas. Die Gesichter dazu, ihre Stimmen. Sie wurden betont gesprochen,  die Namen oder langsam wieder.
Wir wussten nicht viel, wir Kinder. Wir waren da. Zu mehr noch nicht.
Wir erfuhren nichts. Saßen brav am Tisch. Das war ihnen wichtig. Lärmten nicht in ihrer Gegenwart. Aßen mit Messer und Gabel. Wer eines davon fallen ließ, hörte auf zu essen.
Das Besteck wurde poliert, bevor es wieder in der Schublade verschwand. Ebenso das Sonntagsgeschirr mit dem Goldrand. In der Woche gab es das Blaue mit den abgestoßenen Rändern und merkwürdigen Schüsseln drauf. Immer aber musste alles aufgegessen werden, wegen dem Wetter.
Meistens waren sie nett zu uns, schweigend, sanft drängelnd, schupsten uns auch schon mal aus dem Weg, nach hierhin, nach dorthin, warum auch immer. Es fiel uns schwer ihre Beweggründe zu erraten.
Wenig Geschichten gab das Viertel uns preis. Ein bisschen Krieg, etwas Flucht und Vertreibung, mehr davon wer wie säuft oder aus der Art geschlagen. Letzteres ging gar nicht. Sollte man lassen.
Alte, Frauen und Kinder. Wenn überhaupt jemand draußen rumlief. Meistens sahen wir die Alten, Rentner, viele Witwen. Denen wichen wir nach Möglichkeit aus.
Wesen wie von einem anderen Stern. Oft mürrisch, giftig, manche müde, traurig. Gekrümmte Gestalten, dunkel gekleidet. Hießen alle mit Vornamen Witwe oder Opa. Oma hießen nur wenige, nur die, die noch einen Kerl hatten, so nannte man die Ehemänner meist. Manche hatten Glück und damit einen guten Kerl. Andere hatten das „Glück nicht gepachtet“, einen „schlechten Kerl“, meist „Stinkstiefel“ oder „faules Aas“.
Viele Männer waren Schweine, was wir nicht nachmachen sollten, wie auch immer. Wir kannten keine Schweine, nur deren Fleisch vom Sonntagsbraten.
Frauen mit dick vorgewölbten Bauch hatten was in der Röhre und nicht aufgepasst.
Die schon Kinder hatten „können wohl nicht lassen.“ Was auch immer.
Wenn wir in den kleinen Küchen hockten oder bei Festivitäten in den engen Wohnstuben war es meist friedlich, wurde es nur gelegentlich laut. Meist bei Schnaps und Bier.
Geschlafen wurde zur Straßenseite, die Untermieter unten, die stolzen Eigentümer im ersten Stock, die Kinder unter dem Dach. Die Küchen gingen zum Garten.
Das Viertel wurde von einer großen Chaussee durchtrennt. Die ließ angeblich ein kleiner Mann namens Napoleon bauen für seine Armee beim Durchmarsch. Auch so ein Krieg, noch länger her. Auf dieser drum auch Heerstraße genannten Straße fuhr in der Mitte die Straßenbahn. Zwei Linien hielten hier an. Die 2 und die 6. Mit beiden kam man in die „Stadt“, zu Karstadt, Dom und Bahnhof. Karstadt war unser Lieblingsziel. In der anderen Richtung endete es im Straßenbahndepot zwischen unserem Viertel und dem Norden der Stadt.
Einkaufen gingen wir auf der Heerstraße bei Woolworth, Rathausapotheke, Bäckerei Piepenblock, Drogerie Hansen. Die Federbetten wurden bei Betten-Wührmann gereinigt, die Wäsche bei Witwe Brams gemangelt, dabei mussten wir helfen, die Laken und Bezüge aus der mäßig nach Seifenlauge riechenden und warm ausdünstenden Maschine herausziehen. Blumen kauften wir wie das Gemüse, frische Hühner und Obst auf dem Wochenmarkt am Pastorenweg, der einfach so so hieß ohne das Pastoren sich dort blicken ließen. Er ging ab von der Lindenstraße, die unserem Viertel Mitte und Zentrum gab. Hier kauften wir Pferdefleisch und Pferdewurst, die Männer ihren Shag-Tabak für die kleinen Pfeifen, Dosen und Toilettenpapier bei Kaisers Kaffeegeschäft, Kaffee bei Arko als frisch geröstete Bohnen. Die kleinen Comic-Hefte mit Tarzan, Falk oder Sigurd gab es dort, wo wir auch das Umschlagspapier für unsere Schulbücher und Hefte kauften. In der Lindenhof, wie wir sagten, lag auch das Kino mit den Plakaten auf denen überwiegend Cowboys und Indianer auf Pferden sich vor Gebirgen tummelten, ritten oder starben.
Die kleinen Vorgärten fanden ihren Abschluss bei den jedes Jahr frisch lackierten Gittern und kleinen Pforten. Hier standen und stützten sich auf die Witwen und Omas und „tratschten“, was sich „nicht gehörte“ aber munter betrieben wurde. Wenn wir in ihre Nähe kamen, schwiegen sie nicht selten, nickten uns zu oder wendeten sich demonstrativ ab. „Warum,“ so oft hätten wir fragen können, „warum“, aber warum sollten wir das? Es war wie es war und wahrscheinlich eher gut und richtig so.
Sie tratschten und wir drückten uns vorbei. Gelegentlich gab es beim Abendbrot Auszüge dieser Geschichten. „Weißt Du, was Witwe Meyerdierks heute erzählt hat …?“ oder „Du glaubst es nicht, Oma Jansen hat gesagt, der …“ Nicht selten sollten wir dann weghören. Dabei war es meist nur „Tünkram“, was wir hörten, „Suff-Zeuch“, „Swienkram“ ohne das wir herausbekamen, warum.
Uns stand das Schweigen zu. Das gaben sie uns gleich bei der Geburt. Wer nicht schweigen wollte, musste sich melden und warten, ob jemand Interesse fand ihm zu lauschen.
Oft hatten wir ein schlechtes Gewissen. Warum? Egal, wir hatten es. Woher auch immer es in uns kroch. Natürlich trieben wir Streiche, zumindest versuchten wir es. Verstießen auch mal gegen das Schweigen. „Schlurrten“ mit unseren Hausaufgaben, hörten nicht richtig zu und was auch immer. Aber das war es nicht. Wir hatten ein schlechtes Gewissen weil wir eins zu haben hatten. Auch das seit Geburt, mitgeliefert mit dem Schweigen.
Wenn man von der Straßenbahnhaltestelle in unsere Straße ging, sah man bereits die Werft am Ende mit ihren Kränen und Helligen über den letzten Dächern. Da und dort arbeiteten die Männer. Vulkan, AG Weser, Neptun, diese Namen kannten wir. Die Großwerften. Wer dort landete war Handwerker und stolz. Andere „malochten“ bei Kaffee HAG oder Haake Beck, Kaffee und Bier. Die brachten Deputate am Monatsende in die Straße. Manch Nachbar bekam davon ab. Die von den Werften brachten nur „Geld nach Haus und nicht zu knapp“. Genauso die von Klöckner, die Stahlwerker. All diese Betriebe zogen sich längs des Hafens entlang, bildeten die Grenze unseres und anderer Viertel. Nicht immer kamen die Männer von dort zurück. Johannes Hinnerk von schräg gegenüber wurde von einem Kranhaken erschlagen, „hat nicht aufgepasst, der Döskopp“, Petersens Willy stürzte in das glühendheiße Stahlbad von Klöckner, „war wohl noch im Rausch“, Addi Petersen, Adolf sagte hier keiner mehr, Addi also stürzte zwischen Schiff und Spundwand, war ausgerutscht. „Dem hat wohl seine Olle ne Bananenschale hingelegt, so wie der sie vermöbelt hat“.
Alles hier, das Viertel, seine Straßen mit ihren Geschäften, diese Nachbarn mit ihren Untermietern und Familien war schon da, als wir Kinder hier hineinkamen. Wie lange schon, ob schon immer, war nicht klar. Wir bekamen nur am Rande mit, wenn einer verschwand. Viele Worte gab es nicht. Jedenfalls über vieles nicht. Welcher Marktstand die besten Geranien und wer mit wem was und was in der Röhre hat oder „dat Suppen“ hatte schon mehr.
Geschenke gab es zum Geburtstag und zu Weihnachten. Irgendwie mussten wir uns die Verdienen mit „artig sein“ und hilfsbereit. Oder So. Denn irgendwie bekamen wir alle zu diesen Tagen etwas geschenkt, egal wie artig wir gewesen waren.
Ja, wir verstanden diese Welt nur sehr wenig, fast gar nicht, fügten uns halt und passten auf. Wir passten ständig auf, bekamen so richtig gute, starke Antennen. Denn gesagt wurde uns ja fast nichts. Also aufpassen. Und Lauschen und möglichst so, dass sie es nicht merkten.
Zwischen der Lindenhof und unserer Straße lagen die Häuser und Gärten, die Kopf an Kopf aufeinander stießen. Obstbäume schmückten hier den Frühling und waren unsre Begier im Herbst, ebenso die Beerensträucher. Die Blumen interessierten uns weniger. Ärgerlich war die uns aufgetragene Jagd nach Unkraut.
An beider Straßenzüge Rückseite hingen Balkone verschiedenster Art und Größen wie Flecken an den grau gewordenen Anstrichen ihrer Putzwände. Diese dienten der nassen Wäsche zum Trocknen und im Winter den Eintöpfen zur Kühlung. Nur wenige trauten sich dort zu sitzen und den Sommer zu genießen. Meist nur, wenn Besuch da war.
Überhaupt Besuch. Der war wichtig. Nur dann gab es Ausflüge, in den Hafen oder in die Stadt. Dann musste man was zeigen. Wir Kinder wurden aufgeputzt und durften nur noch artig sein, uns nicht beschmutzen und die Kinder der Besucher anvertraut. „Spielt etwas“, hieß es oder „passt gut auf die auf.“
Das gelang nicht immer. Hansens Thomas hatte Pech mit seinem Cousin. Der blieb an einer spitzen Stange mit seinem Bauch hängen auf dem Schrottplatz um die Ecke neben Tante Emma die hier Witwe Meier hieß. Sie waren auf dem Haufen aus Stangen, Blechen und Karosserieteilen rum geklettert, wie wir es alle taten, so lange der „blöde Paul“ uns nicht davonjagte.
Und der Cousin war einfach „zu dämlich“, hatte plötzlich diese Stange im Bauch und schrie ganz fürchterlich. Der Paul war angerannt gekommen und hatte, „bescheuert wie der war“ die Stange einfach raus gezogen und der Cousin sein ganzes Blut dem Paul über die Lederschürze gespritzt. Dabei war der Cousin dann gestorben, noch bevor ein Arzt ihm helfen konnte. Thomas haben wir danach auch nicht mehr gesehen. Kam in die „Klapse“. Die Eltern zogen bald darauf aus unserem Viertel fort. Warum auch immer. „Weg mit Schaden“ hieß es am Gartenzaun.
Es hieß auch, die Zeiten früher wären „schauderhaft“ gewesen, mehr als die zur Zeit, „hoffentlich, dass die nicht wiederkommen.“ Schwer verständlich all das. Was für Zeiten? Was für Schauder? Krieg, nun ja, der war vor uns da. Uns erschien es klasse mit Pistolen und Gewehren zu schießen, taten unsere Helden, die Cowboys und Indianer doch auch.
Wenn sich die Nachtschatten um uns gruppierten unter den Dachschrägen mit den Klappfenstern hörten wir auch mal, was wir nicht hören sollten, gaben davon nie etwas preis, nicht mal unseren besten Freunden. Man schloss alle Fenster in der Nacht, öffnete sie am Tag zum Lüften. Wer tagsüber die Fenster zu hatte, verbarg etwas. Aber was?
Bei so viel Fragezeichen fiel uns das Fragen nicht leicht. Wir kuschelten uns lieber an die Antworten, die wir fanden.
Alles war hier heil, als wir dazu kamen. Nichts mehr „kaputt“. Der Krieg, von dem sie sprachen, klang uns fast wie eine Erfindung ihrer Phantasie. Alles war und wurde ständig sauber gehalten. Besonders wir. Irgendwie nutzten sie uns wie die Autos, die nach und nach unseren Spielraum auf den Straßen verengten. Wir waren vorzeigbar, jedenfalls taten sie das mit uns.
Tod war uns nichts schlimmes, kam der doch meist zu anderen, nicht zu uns und wenn er zu uns kam, dann sprachen wir nicht darüber oder wurden einfach einen weniger wie bei dem Thomas oder der Rita, dessen Vater sich aufgehängt hat, der Vater, der der einzige Witwer war in unserer Straße, weil seine Frau „den Krieg nich verknust hat“. Und dann kam Rita ins Heim, „dat arm Tüch“, und bald schon kam Maria zu uns dafür, die mit ihren Eltern in deren Haus zog.
Wir waren weder arm noch reich dran. Irgendwie waren wir nur irgendwie dran. Lag es daran, dass wir mit Adjektiven in der Schule unsere Mühe hatten? Worte wie schön, bunt oder grün und blau kamen nur schwer über unsere Lippen vor den Hauptwörtern. Meistens reichten uns die, die Hauptwörter oder wir machen die anderen zu Hauptwörtern, der „Blöde“, die „Schöne“ oder der „Piekfein“. Hauptworte gaben uns Sicherheit, entsprachen den Häusern unserer Straße zwischen denen sich auch keine Adjektive und Adverbien oder Artikel eingeschoben hatten. Haus an Haus. Familie an Familie. Zaun an Zaun. Hauptworte. Alles. Die Werft. Der Hafen. Der Tod. Was braucht es noch?
Die Liebe? Ja, die auch. Wir wurden geliebt, zumindest wurde es uns öfter gesagt. Es gab „Liebe zwischen Mann und Frau“ auch wenn wir uns das nicht genau erklären oder vorstellen konnten. Die Männer und Frauen unseres Viertels saßen, aßen, arbeiteten, sprachen das Nötigste und wo war da die Liebe zwischen Mann und Frau, was sollte die sein, wozu brauchte man das? Es wurde geflüstert es habe etwas mit den Schlafzimmern zu tun. Und damit, dass sie nachts die Fenster dort schlossen.
Liebe interessierte uns nicht. Wir fanden nichts von ihr, was uns hätte an ihr Gefallen oder auch nur Interesse finden lassen. Liebe war ein Wort wie Krieg. Irgendwie vergangen oder nicht wirklich da. Eine Erwachsenenmacke. Etwas, was vielleicht noch für uns kommt. Alles war und hieß wie es war. Der Winter war kalt. Der Sommer heiß. Das Eis glatt, der Schnee feucht. Mehr brauchten und wollten wir nicht. Wer zu viele Adjektive gebrauchte, den hielten wir für verrückt. „Hat se nich alle“, „nicht ganz gesund im Oberstübchen“ und das mit dem Denken sowieso, das „überlasst besser den Pferden, „die haben den größeren Kopf dazu“.
Drum schickten sie uns zum Spielen, was immer sie glaubten, was wir dann taten. Spielen und Kinder gehörte für sie zusammen wie artig und Kinder, oder brav und Kinder. Artig, brav, doof, bekloppt, klasse, schwer, hoch, tief, viel mehr Adjektive brauchten wir wirklich nicht. Und ob die klein oder groß geschrieben wurden war uns „schnuppe“. Wir setzten sie ein wie Hauptworte in unseren Sätzen, für die wir weder Kommas noch Semikolon brauchten. Alles „Tünkram“ für uns. Wort, Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Schluss. „Nix für Klabautermänner“. „Laberonkel“ wollte keiner sein.
Wir gebrauchten Schaufeln, Besen, Kehren, Räder, Eimer, Tische, Stühle, „unseren Verstand“, „gaben uns Mühe“ liefen „herum“, sangen Lieder.
Unser Viertel war ein Reich der Hauptworte, kein Paradies für Eigenschaften. Die bekamen wir erst mit der Zeit mit und dann sehr zögerlich, fast ängstlich, wussten wir doch, nur auf Hauptwörter trainiert, nicht wie mit ihnen umgehen und was uns durch sie geschieht.
Auch wir selber waren nur ein Wort. Der Thomas, der Hanz, der Bekloppte, die Schnarchnase, der Wildfang, wie die Erwachsenen um uns herum waren die Witwe, die Olle, der Suffkopp, der Malocher, der Schlappschwanz, die Knickrige, der Geizhals, das Faultier. In den Hauptworten lag das ganze Wissen über die Person von jetzt an und für alle Zeiten.
Überhaupt Veränderung. Gab es kaum. Wir wurden nur selten ein Jahr älter, viel zu selten nach unserem Geschmack. Ansonsten blieb vor allem alles gleich. Selbst wenn wir die Klasse wechseln durften blieb der Klassenlehrer gleich und die Klassenzimmer waren nicht zu unterscheiden. Die Schule musste auch schon Jahrhunderte hier stehen und Millionen gequält haben. Die Strafen blieben auch gleich, ob „hinter die Ohren“ oder „auf die Finger“.
Die Häuser wurden im Höchstfall neu angestrichen, wie die Zäune, aber stets in der gleichen alten farblosen Farbe. Nur in unseren Träumen veränderte sich das. Die Hauswände rissen auf, die Autos verbrannten im Phosphor, Menschen rannten, flohen die Straße hin und her, brennend ihre Haare, ihre Kleidung, Gesichter angstverschmerzt aber unbekannt, nur zu ahnen, wer was war im Traum. Dann begann die Straße auch mal zu tanzen wie ein wildes Pferd, rissen die Pflastersteine sich frei und flogen mit Funken und Bombensplittern umher. Dann hörten wir Schreie, Weinen, Gestöhne. In unseren Träumen veränderte sich hier was, aber schon beim Erwachen war uns klar, dass wir von der Vergangenheit geträumt hatten, spärlich erzählter Vergangenheit an Küchentischen zwischen dem Schweigen und Schlürfen und Kauen. Außerdem schien uns diese geträumte Veränderung zwar aufregend aber nicht wirklich schön, Veränderung damit nicht wirklich sinnvoll. Eine andere Veränderung als die in unseren Träumen war uns schwer vorstellbar. Blieb die Versetzung von einer Klasse in die andere und das Geburtstagsgefeiere, obwohl letzteres auch nicht wirklich Veränderung war, eher immer gleich, bei den Erwachsenen mit Alkohol, Lärm und nicht selten Streit, bei uns mit Süßigkeiten, Socken, Hemd oder Hose für den Sonntag und Kakao.
Uns war es gleich, wir kannten nichts anderes. Was wir auch nicht mochten war „fremd“. War jemand „fremd“, war das nicht gut. „Fremde“ sowieso. Meistens „Zigeuner“, „Habenichtse“, „Flüchtlingspack“ oder „Polen“. Polen sowieso, die „klauten wie die Raben“ und die „Zigeuner“. Unter „Flüchtlingspack“ sagte uns nur „Pack“ wirklich was. „Pack“ mit nichts davor war uns klar. „Pack“ waren die anderen, die man meiden sollte, die nichts „taugten“. Wir waren nicht Pack, niemals. Das war klar. Zum Pack zu gehören ging gar nicht, wäre uns auch nie in den sin gekommen, egal ob „Zigeuner“ oder „Polen“.
Von unserer Straße aus konnte man am Ende des Kirchwegs zu den Barracken sehen. Die „KZs“ hieß es, aber niemand vergast. Sowas verstanden wir gar nicht Eher schon, dass da die Zigeuner hineingehörten. Und das „Flüchtlingspack“ auch nichts Besseres verdient hätte. Selten sahen wir sie, die Leute dort. Die Zigeuner tatsächlich meistens mit schwarzen Haaren wie im Bilderbuch. Wir Kinder hatten zwei Möglichkeiten, Flucht oder Schreien. War es nur eine Person schrien wir Schimpfworte, waren es mehr, flohen wir.
Nicht ganz klar war uns unsere Sprache, wenn wir mit anpacken sollten. Auch sollten wir in der Schule es „packen“ und in der Adventszeit wurde Pakete für die Zone gepackt mit Süßigkeiten, die wir auch gerne selber geschlickert hätten. Dagegen „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“. Kein schönes Thema. Meistens machten wir daher einen großen Bogen rum.
Erna war kein Pack. Erna war das schönste Mädchen in der Straße. Erna war Erna und alle wollten mit ihr spielen. Bei Karl-Heinz wussten wir es manchmal nicht. Karl.-Heinz schlug uns bisweilen, einfach so, verkloppte uns hart und jähzornig. Er hatte immer seine Fingernägel dreckig, sogar am Sonntag. Seine Klamotten stanken nach Erde und Schweiß. Also, bei dem war uns nicht klar ob er Pack war. Ein bisschen bestimmt, auch wenn er ein Nachbarsjunge unserer Straße war.
Ilse war kein Pack. Ilse war scharf, zeigte uns, wenn wir wollten, wie sie pinkelt und ließ uns regelmäßig überprüfen, wie ihre Titten wuchsen. Das ging bei ihr fix, da sie fett war und viel Fleisch um ihre Knochen herum schwabbelten beim Laufen. Das war uns egal. Hauptsache Titten. Hauptsache Spalt. Nur die anderen Mädchen waren neidisch. Waren sie doch längst noch nicht soweit. Da half auch kein Streicheln, ziehen oder drauf pinkeln, was besonders Ilse öfter gerne tat.
Und irgendwie packten wir alles, was man uns aufgab. Wir wussten selber nicht warum, lag doch kaum Ehrgeiz in unseren widerspenstigen Bemühungen. Große Ziele verbanden wir damit nicht. Es war noch so, dass wir werden sollten, was die Väter und Mütter waren. Einige dachten eher an Polizist oder Lokomotivführer, wenn sie eine Spielzeugeisenbahn hatten. Ich eher nicht, hatte auch nur eine Dampfmaschine, die ich ab und zu laufen und dampfen ließ ohne recht zu wissen, was ich damit sonst noch spielen sollte.
Was wir gar nicht verstanden, war unsere Traurigkeit, waren diese Schatten, die besonders nachts über uns herfielen, diese Angst, die uns oft zum Schreien gebracht hätte, wenn wir uns denn getraut hätten. Angst zeigte man hier nicht. Das wussten wir von klein an. Es gab Stunden selbst im hellsten Sonnenschein, da wirkte unser Viertel düster, als gäbe es da ein großes Untier, was sich darunter verkrochen hatte. Es war unheimlich, war spürbar, immer wieder und wir konnten es doch nie sehen oder fassen. Es war mal in uns, mal in den Erwachsenen, dann wieder auf den Straßen und Dächern. Es war da und nicht. Es machte uns aber klar, dass wir später von hier fort müssten. Von uns Kindern wollte keiner in den Straßen wohnen bleiben. Auf keinen Fall. Diese Erwachsenen sahen so aus, wie wir nie aussehen wollten. Und sie taten so viele Dinge, die wir nicht mochten, rochen bisweilen so unangenehm, dass wir darum beteten nicht mehr zu lange ihre Kinder sein zu müssen. Wir wollten nur eins: Erwachsen werden und fort von hier. Auch die Enge in den Häusern, den Stuben, der ewige Wäsche- und Kohlgeruch trieb uns hinaus. Nur auf der Straße fühlten wir uns wohl und hätten wir das Wort schon gekannt und verstanden auch „frei“. Die Straßen führten alle woanders hin. Zum Hafen auf die Schiffe nach Übersee, auf die Heerstraße zur Stadt und anders zum Land hinaus. Mit der Straßenbahn konnte man sogar bis zum Flughafen kommen. Das hatten wir aufgeschnappt. Flughaufen, Flugzeuge, nach Afrika oder China fliegen. Soviel verstanden wir bereits. Alles Möglichkeiten, wollte man nicht hier bleiben. Die Straßen also. Unser Kinderhimmelreich, Paradies unsres Tobens und Treibens. Schwer nur ließen wir uns abends zurück in die Häuser treiben, hinter die Gartenzäune in die Küchen und Stuben an das blaue Geschirr mit dem sauren Brot.
Wolfgang vor allem, der blieb so lange, dass wir manchmal schon beim Zähneputzen waren und wir immer noch seine Mutter ihr „Woooooolfkang“ als Schrei durch die Straße hüpfen hören konnten.
Witwe Trine, seine Oma, konnte kreischen wie ein Raubvogel und so sah sie mit ihrer Nase auch aus. Aber er ließ sie einfach lange Schreien und Kreischen, kam als einziger von uns erst spät nach Hause. Nur wenn sein Vater, der Käpt’n da war, dann kam er wie wir sofort gelaufen. Der Käpt’n schimpfte nicht mit ihm sondern mit den „Weibern“ wie er sie lautstark nannte. Und „Weibervolk“. Sie würden seinen guten Wolfgang nur mästen und verfetten, den armen Jungen. Auch würde der total verweichlicht.
Dem Käpt’n war es egal, ob wir es hörten. Der kümmerte sich überhaupt wenig um die Nachbarn. „Das kommt von den Hottentotten, wo der immer rumfährt“, hieß es zu seiner Entschuldigung. Der Käpt’n wurde von allen dienerhaft gegrüßt, ganz besonders höflich und sobald man ihn sah. Der hatte es in den Augen aller ja auch am weitesten gebracht hier. Kapitän zur hohen See. Wir verstanden das nicht. Gab es auch ein anderes Meer, eine niedrige See? Der Käpt’n war uns unheimlich. Ein Studierter, der einzige der Sorte, den wir kennen lernten. Ein „Mathe-Ass“, betonte mein Alter immer wieder. Und natürlich „pass also auf beim Rechnen. Bist Du da gut, bist Du für alles gut!“ Der hatte leicht sprechen. War Optiker, geht auch nur mit Rechnen, sagte er jedenfalls. Ich hatte mit den Zahlen meine Probleme. Die meisten von uns. Das war fast noch schlimmer als das mit den Adjektiven. Außerdem war den Erwachsenen nicht zu trauen. Wer von denen war denn Kapitän oder wie meiner Optiker geworden? Und notfalls konnten wir ja als blinde Passagiere an Bord gehen. Ab nach Amerika. Da wurde man vom Tellerwäscher zum Millionär. Sagten hier alle. Millionär war uns eigentlich egal, Tellerwaschen nicht unbedingt unsere Wunschbeschäftigung, aber so wie es die Alten sagten, ganz bestimmt ein besseres Leben als hier im Viertel im Schatten des großen Schweigens und ungezähmter Hauptworte.
Einmal habe ich es sogar ausprobiert, das Weglaufen, nicht an Bord eines Schiffes, einfach nur so mit Bus und Bahn bis ans Ende der Stadt. Als ich mein Pausenbrot aufgegessen hatte, dachte ich mir, dass ich das mit dem weglaufen auch später noch machen könnte, mit mehr Taschengeld in der Tasche.
Hans, vom Ende der Straße kurz vor der Straßenbahnhaltestelle, ist weggelaufen. Kam nicht wieder. Später hieß es der sei „unter die Räder gekommen“. Einige behaupteten, den hätten seine Eltern wohl „an die Zigeuner verkauft“, trauten sich nur nicht das zuzugeben. Das mit dem Verkauf an die zigeuner drohte uns allen. Immer wieder. Wen wir „unartig“ waren oder schlechte Noten mitbrachten aus der Schule, schlimmer noch, wenn die Lehrer unsere Eltern sprechen wollten. Es gab irgendwie immer wieder Anlässe uns mit dem Verkauf an die Zigeuner zu drohen, meist mit dem Zusatz, wir wüssten es nicht zu schätzen, wie gut wir es hätten und wenn wir weiter so undankbar …!
Aber der Hans war nicht verkauft worden. Plötzlich hieß es, der Alte habe den im Suff totgeschlagen, „Unglücksfall, is mit dem Koppe an Herd kommen“, sagten entschuldigend unsere Leute. Das wars.
Auch Erna verschwand mal. Als sie wieder da war, sagte sie nix, sprach überhaupt nicht mehr mit uns und nicht mit anderen. Wir hörten nur, „De Onkel, dat Swien, dat Aaas!“ So richtig was zusammenreimen konnten wir uns daraus nicht.
Schwer etwas zu erzählen, wenn nichts erzählt wurde, nicht wirklich und doch etwas erzählt werden muss, weil da was war und ist, was heraus drängt, ans Licht will, auf die Straße, mitten in das Viertel. Warum wurde nur befohlen, nie zugehört, warum diese Gewalt in den Stimmen und Schlägen, die „Backpfeifen“ nicht mitgezählt. Warum unsere Träume? Warum dienten wir stumm, fragten nie, wussten den Sinn von Fragen nicht und nicht wie sie an zu wenden?
Warum blieb uns Zärtlichkeit verwehrt, mochten auch wir selber nicht zärtlich werden? Warum mieden wir jeden normalen Hautkontakt wenn wir uns nicht gerade „kloppten“. Warum schämten wir uns dauernd und warum für unsere Alten?
Liefen wir nicht recht munter herum, bekamen satt zu essen, konnten uns des öfteren vergnügen? Wir haben es gesucht oder gemieden. Sind raus aus dem Viertel, wenige nur sind geblieben oder zurückgekommen. Gesprochen darüber haben wir nie. Nicht darüber warum wir wirklich gegangen sind, noch über das was uns bedrückt hat.
Es ist ein Viertel, Teil eines Stadtteils wie wahrscheinlich tausend andere im Land. Unser Viertel, unser Start in das Leben, vollgestopft mit Erinnerung, die wir nicht zu fassen, zu benennen vermochten. Misstrauisch gegenüber Worten, hellhörig wenn Schweigen uns umgibt. Geborgen auf Straßen, ängstlich zwischen Wänden. Keine Jahreszeiten. Nur Zustände zwischen den Zäunen. Ein Jetzt nur, nie ein Vorher, nie ein Danach, letzteres höchstens mal als Drohung. „Wartet nur …“, „Das wird euch …“ oder „aus Euch wird nie ..“. Drohungen statt Blick in die Zukunft. Trauer statt Vergangenheit, stumme Trauer, Bitterkeit. Wenn es etwas aus der vergangenheit, dann waren es Vorwürfe gegen uns, sie nicht „mitgemacht“ zu haben. Danach musste es Vergangenheit im Viertel gegeben haben und die Alten hatten sie „mitgemacht“. Der wahre Kern dieses Wortes wurde uns erst Jahrzehnte später wirklich klar. Da wussten wir auch erst, was mit den Baracken wirklich los war, diesen „KZ’s ohne Vergasen“.
Aber was sollen wir diese armen Bewohner von heute aus damit belasten. Irgendwie schienen sie uns schon immer bestraft zu sein. Bestraft mit ihrem Leben, ihrem Aussehen, arm dran wie die ewigen Kittelschürzen der Frauen, die sie trugen von morgens früh bis zum Schlafen. Schürzen, auf denen sie ständig ihre Hände trocken und sauber strichen. Kittel wie ihr Leben. Schwarze und grau-schwarz e der Witwen, bunte, langsam verblassende der Mütter und Omas. Kittel und Schürzen, von morgens bis abends, dazwischen wir, wachsend mit aller Kraft und Sehnsucht, zuerst die Schürzen, dann die Kittel zu überragen.
Kittel statt Zärtlichkeit. War es das? Oder die schweren Hosenbeine der Männer, der strenge Tabakgeruch, diese Schritte, mit denen sie die Häuser leicht zum Zittern brachten, diese Hosen, dunkel, schwarz, dunkelblau, sonntags grau. Diese Hosen am Abend, und dann „Samstags gehört Papi uns“, und Sonntags, Hosen, Mief, strenge Bügelfalten, Hosenväter, Hosenmänner, immer wieder laut betont, ärgerlich, wütend, „noch habe ich hier die Hosen an!“, wir dagegen, die Kinder, sollten uns zu den „Röcken“ scheren, wenn wir ihnen nicht willkommen waren.
Kittel, Hosen, Tapeten. Damals wurden Tapeten verklebt. Tapeten mit Mustern. Ganz andere Muster als das Muster der Polstermöbel. Wieder andere Muster die Gardinen. Gardinen und Tapeten waren auch wichtig. Und das sauber halten der Polster.
Für Teppiche und Polster gab es Teppichklopfer. Auch gut geeignet für uns Kinder, „wenn sonst nichts hilft“, oder „ihr es nicht anders wollt“.
Es wurde jeden Tag geklopft. Sichtbar die Teppiche, die auf Stangen in den schmalen Gärten hinter den Häusern dafür hingen. Mit dem klopfen der Teppiche zeigten sie Stärke und Fähigkeit zur Sauberkeit. Wo die Männer klopfen mussten, „geiht dat nich lange mehr gut.“ Die Frauen starben dann wohl mal oder standen plötzlich wieder an der Stange, stolz und kräftig schlagend.
Alte, Frauen, Kinder, Kittel, Hosenbeine und der Tratsch, ein Viertel ohne Geigen oder trompeten, mit spärlichem Kirchgang obwohl die Kirche um die Ecke offen stand, meist benutzt, wenn, dann von den Frauen, leichter fiel den Männern der Kneipengang. Gab es an eine Straße weiter, backsteinig düster und drinnen wie der Kamin für Räucherware. Da drinnen nur schwach zu erkennen ihre Gesichter, gerötet, die Augen blank, silbrig im Licht der Thekenfunzeln.
Nix für „die Blagen“, riefen sie. „Ruut mit ju!“ und so umschifften wir stets weiträumig diese Kneipen. Holten höchstens mal mit den Müttern die Männer dort ab, wenn sie gestützt werden mussten. Auf allen vieren, das war allen klar, das war peinlich, das machten sie nicht, lieber Frauen und Kinder holen lassen und zwischen denen sich führen lassen. Vorsicht. Morgen ist wieder Tag. „Bildet Euch nichts ein! Vorsicht“. Wer nicht geholt wurde, kroch die Zäune entlang und entlang der Blicke hinter Gardinen. Auffällig wer alles dafür wach blieb oder wach war.
Butterkuchen gabs auch, mal Pudding, mal Eis, mal ein paar Groschen, „aber nich gleich allet verplempern“ und es gab uns. Es gab uns als eigenes reich, jeder hatte sein eigenes Weltall in sich, tobte es aus, spätestens seit dem wir lesen konnten. Wir träumten uns weit, wir träumten uns weg, wir träumten uns hoch und tief, flogen, schwammen, ritten, tanzten,. Warten so viel mehr und fähig, als es die hier, diese Alten je sich vorstellen konnten. Keine Ahnung hatten sie von uns. Von unserer Flucht, unserem Verrat an ihren versuchen es uns „besser gehen zu lassen“. Bücher, Comics, egal, Hauptsache was zu lesen. In den Büchereien war es warm im winter und besser als zu Hause. Viel saßen wir auch auf den Klos mit Spülbecken und lasen, immer wieder an den Ketten ziehend, damit sie dächten, wir kackten oder so.
„Lesen ist für Stubenhocker“, hieß es. Und die sähen blass aus so wie der Müller Friedhelm, der nur auf dem Büro rum hockt und „sein Frau schon lang kein Mann mehr ist“, überhaupt ein „Wunder und wer weiß ob dat Blach überhaupt von dem is“. Sie nannten Leser auch Bücherwürmer und die wurden hier so verachtet wie die Maulwürfe, die die kleinen Beete untergruben und mit dunklen Haufen zerstörten.
Es war ihnen nicht vor zu werfen. Sie hatten irgendetwas sehr Schreckliches überlebt. Andere nicht. Und so hatten und behielten sie für den Rest ihres Lebens recht, unschlagbar ja der Beweis ihres Überlebens. Sie mochten uns, bestimmt, irgendwie, aber sie brauchten auch ihre Haut, diesen Panzer aus Rissen, Rot und Blau, dieses Fett darunter gegen die Kälte. Sie waren nicht besonders schön aus den Trümmern hervorgekommen, aber dafür arbeitsam, sauber, akkurat, willensstark, bewegliche und niemals schaffensmüde Säulen ihrer Stadt, ihres Landes. Und wir hingen daran wie Eichhörnchen an den Zweigen uralter Kastanien oder Eichen.
Manchmal wünschten wir in unseren Träumen unter den schrägen Dächern dem Viertel einen neuen Krieg, den Einsturz der Häuser, sehnten uns nach den „Tommys mit ihrem Fußballspiel“ und Phosphorbomben. Wünschten uns das, um ihnen endlich zu begegnen, den Erbauern und Bewohnern unseres Viertels, hofften ihnen so endlich mal näher zu kommen, sie zu erleben wie richtige Menschen mit Gefühlen und Seelen, ja vielleicht sogar „in Liebe vereint“ was immer das sei.
Träumten wir das. Schämten wir uns. Träumten wir das. Immer froh am Morgen, den Tag davon frei zu haben. Damals, als wir noch sprachlos waren.

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014