Damals,
als wir noch sprachlos waren. Alte, Frauen und Kinder. Ferngeräusche.
Küchengeklimper. „Darüber spricht man nicht!“ und „das geht Euch nichts an.“
Sätze wie am Rosenkranz, den hier kaum einer kennt. Fast alle evangelisch oder
heimlich ungläubig.
Unser
Viertel bestand aus Straßen, deren Häuser wie an Perlenketten nebeneinander
hingen, dicht an dicht und längst nicht so schön, mochten sich unsere Nachbarn
auch noch so viel Mühe mit den winzigen Vorgärten geben.
Piepenbloks,
Brams, Hansen, Wührmann, Meyerdierks, Hinnerk, Petersen, Namen die wir alle
kannten. Ja, vor allem die Namen zählten hier, bedeuteten irgendwas. Die
Gesichter dazu, ihre Stimmen. Sie wurden betont gesprochen, die Namen oder langsam wieder.
Wir
wussten nicht viel, wir Kinder. Wir waren da. Zu mehr noch nicht.
Wir
erfuhren nichts. Saßen brav am Tisch. Das war ihnen wichtig. Lärmten nicht in
ihrer Gegenwart. Aßen mit Messer und Gabel. Wer eines davon fallen ließ, hörte
auf zu essen.
Das
Besteck wurde poliert, bevor es wieder in der Schublade verschwand. Ebenso das
Sonntagsgeschirr mit dem Goldrand. In der Woche gab es das Blaue mit den
abgestoßenen Rändern und merkwürdigen Schüsseln drauf. Immer aber musste alles
aufgegessen werden, wegen dem Wetter.
Meistens
waren sie nett zu uns, schweigend, sanft drängelnd, schupsten uns auch schon
mal aus dem Weg, nach hierhin, nach dorthin, warum auch immer. Es fiel uns
schwer ihre Beweggründe zu erraten.
Wenig
Geschichten gab das Viertel uns preis. Ein bisschen Krieg, etwas Flucht und
Vertreibung, mehr davon wer wie säuft oder aus der Art geschlagen. Letzteres
ging gar nicht. Sollte man lassen.
Alte,
Frauen und Kinder. Wenn überhaupt jemand draußen rumlief. Meistens sahen wir
die Alten, Rentner, viele Witwen. Denen wichen wir nach Möglichkeit aus.
Wesen
wie von einem anderen Stern. Oft mürrisch, giftig, manche müde, traurig.
Gekrümmte Gestalten, dunkel gekleidet. Hießen alle mit Vornamen Witwe oder Opa.
Oma hießen nur wenige, nur die, die noch einen Kerl hatten, so nannte man die
Ehemänner meist. Manche hatten Glück und damit einen guten Kerl. Andere hatten
das „Glück nicht gepachtet“, einen „schlechten Kerl“, meist „Stinkstiefel“ oder
„faules Aas“.
Viele
Männer waren Schweine, was wir nicht nachmachen sollten, wie auch immer. Wir
kannten keine Schweine, nur deren Fleisch vom Sonntagsbraten.
Frauen
mit dick vorgewölbten Bauch hatten was in der Röhre und nicht aufgepasst.
Die
schon Kinder hatten „können wohl nicht lassen.“ Was auch immer.
Wenn
wir in den kleinen Küchen hockten oder bei Festivitäten in den engen Wohnstuben
war es meist friedlich, wurde es nur gelegentlich laut. Meist bei Schnaps und
Bier.
Geschlafen
wurde zur Straßenseite, die Untermieter unten, die stolzen Eigentümer im ersten
Stock, die Kinder unter dem Dach. Die Küchen gingen zum Garten.
Das
Viertel wurde von einer großen Chaussee durchtrennt. Die ließ angeblich ein
kleiner Mann namens Napoleon bauen für seine Armee beim Durchmarsch. Auch so
ein Krieg, noch länger her. Auf dieser drum auch Heerstraße genannten Straße fuhr
in der Mitte die Straßenbahn. Zwei Linien hielten hier an. Die 2 und die 6. Mit
beiden kam man in die „Stadt“, zu Karstadt, Dom und Bahnhof. Karstadt war unser
Lieblingsziel. In der anderen Richtung endete es im Straßenbahndepot zwischen
unserem Viertel und dem Norden der Stadt.
Einkaufen
gingen wir auf der Heerstraße bei Woolworth, Rathausapotheke, Bäckerei
Piepenblock, Drogerie Hansen. Die Federbetten wurden bei Betten-Wührmann
gereinigt, die Wäsche bei Witwe Brams gemangelt, dabei mussten wir helfen, die
Laken und Bezüge aus der mäßig nach Seifenlauge riechenden und warm
ausdünstenden Maschine herausziehen. Blumen kauften wir wie das Gemüse, frische
Hühner und Obst auf dem Wochenmarkt am Pastorenweg, der einfach so so hieß ohne
das Pastoren sich dort blicken ließen. Er ging ab von der Lindenstraße, die
unserem Viertel Mitte und Zentrum gab. Hier kauften wir Pferdefleisch und
Pferdewurst, die Männer ihren Shag-Tabak für die kleinen Pfeifen, Dosen und
Toilettenpapier bei Kaisers Kaffeegeschäft, Kaffee bei Arko als frisch
geröstete Bohnen. Die kleinen Comic-Hefte mit Tarzan, Falk oder Sigurd gab es
dort, wo wir auch das Umschlagspapier für unsere Schulbücher und Hefte kauften.
In der Lindenhof, wie wir sagten, lag auch das Kino mit den Plakaten auf denen
überwiegend Cowboys und Indianer auf Pferden sich vor Gebirgen tummelten,
ritten oder starben.
Die
kleinen Vorgärten fanden ihren Abschluss bei den jedes Jahr frisch lackierten
Gittern und kleinen Pforten. Hier standen und stützten sich auf die Witwen und
Omas und „tratschten“, was sich „nicht gehörte“ aber munter betrieben wurde.
Wenn wir in ihre Nähe kamen, schwiegen sie nicht selten, nickten uns zu oder
wendeten sich demonstrativ ab. „Warum,“ so oft hätten wir fragen können,
„warum“, aber warum sollten wir das? Es war wie es war und wahrscheinlich eher gut und richtig so.
Sie
tratschten und wir drückten uns vorbei. Gelegentlich gab es beim Abendbrot
Auszüge dieser Geschichten. „Weißt Du, was Witwe Meyerdierks heute erzählt hat
…?“ oder „Du glaubst es nicht, Oma Jansen hat gesagt, der …“ Nicht selten
sollten wir dann weghören. Dabei war es meist nur „Tünkram“, was wir hörten,
„Suff-Zeuch“, „Swienkram“ ohne das wir herausbekamen, warum.
Uns
stand das Schweigen zu. Das gaben sie uns gleich bei der Geburt. Wer nicht
schweigen wollte, musste sich melden und warten, ob jemand Interesse fand ihm
zu lauschen.
Oft
hatten wir ein schlechtes Gewissen. Warum? Egal, wir hatten es. Woher auch
immer es in uns kroch. Natürlich trieben wir Streiche, zumindest versuchten wir
es. Verstießen auch mal gegen das Schweigen. „Schlurrten“ mit unseren
Hausaufgaben, hörten nicht richtig zu und was auch immer. Aber das war es
nicht. Wir hatten ein schlechtes Gewissen weil wir eins zu haben hatten. Auch
das seit Geburt, mitgeliefert mit dem Schweigen.
Wenn
man von der Straßenbahnhaltestelle in unsere Straße ging, sah man bereits die
Werft am Ende mit ihren Kränen und Helligen über den letzten Dächern. Da und
dort arbeiteten die Männer. Vulkan, AG Weser, Neptun, diese Namen kannten wir.
Die Großwerften. Wer dort landete war Handwerker und stolz. Andere „malochten“
bei Kaffee HAG oder Haake Beck, Kaffee und Bier. Die brachten Deputate am
Monatsende in die Straße. Manch Nachbar bekam davon ab. Die von den Werften brachten
nur „Geld nach Haus und nicht zu knapp“. Genauso die von Klöckner, die
Stahlwerker. All diese Betriebe zogen sich längs des Hafens entlang, bildeten
die Grenze unseres und anderer Viertel. Nicht immer kamen die Männer von dort
zurück. Johannes Hinnerk von schräg gegenüber wurde von einem Kranhaken
erschlagen, „hat nicht aufgepasst, der Döskopp“, Petersens Willy stürzte in das
glühendheiße Stahlbad von Klöckner, „war wohl noch im Rausch“, Addi Petersen,
Adolf sagte hier keiner mehr, Addi also stürzte zwischen Schiff und Spundwand,
war ausgerutscht. „Dem hat wohl seine Olle ne Bananenschale hingelegt, so wie
der sie vermöbelt hat“.
Alles
hier, das Viertel, seine Straßen mit ihren Geschäften, diese Nachbarn mit ihren
Untermietern und Familien war schon da, als wir Kinder hier hineinkamen. Wie
lange schon, ob schon immer, war nicht klar. Wir bekamen nur am Rande mit, wenn
einer verschwand. Viele Worte gab es nicht. Jedenfalls über vieles nicht.
Welcher Marktstand die besten Geranien und wer mit wem was und was in der Röhre
hat oder „dat Suppen“ hatte schon mehr.
Geschenke
gab es zum Geburtstag und zu Weihnachten. Irgendwie mussten wir uns die
Verdienen mit „artig sein“ und hilfsbereit. Oder So. Denn irgendwie bekamen wir
alle zu diesen Tagen etwas geschenkt, egal wie artig wir gewesen waren.
Ja,
wir verstanden diese Welt nur sehr wenig, fast gar nicht, fügten uns halt und
passten auf. Wir passten ständig auf, bekamen so richtig gute, starke Antennen.
Denn gesagt wurde uns ja fast nichts. Also aufpassen. Und Lauschen und
möglichst so, dass sie es nicht merkten.
Zwischen
der Lindenhof und unserer Straße lagen die Häuser und Gärten, die Kopf an Kopf
aufeinander stießen. Obstbäume schmückten hier den Frühling und waren unsre
Begier im Herbst, ebenso die Beerensträucher. Die Blumen interessierten uns
weniger. Ärgerlich war die uns aufgetragene Jagd nach Unkraut.
An
beider Straßenzüge Rückseite hingen Balkone verschiedenster Art und Größen wie
Flecken an den grau gewordenen Anstrichen ihrer Putzwände. Diese dienten der
nassen Wäsche zum Trocknen und im Winter den Eintöpfen zur Kühlung. Nur wenige
trauten sich dort zu sitzen und den Sommer zu genießen. Meist nur, wenn Besuch
da war.
Überhaupt
Besuch. Der war wichtig. Nur dann gab es Ausflüge, in den Hafen oder in die
Stadt. Dann musste man was zeigen. Wir Kinder wurden aufgeputzt und durften nur
noch artig sein, uns nicht beschmutzen und die Kinder der Besucher anvertraut.
„Spielt etwas“, hieß es oder „passt gut auf die auf.“
Das
gelang nicht immer. Hansens Thomas hatte Pech mit seinem Cousin. Der blieb an
einer spitzen Stange mit seinem Bauch hängen auf dem Schrottplatz um die Ecke
neben Tante Emma die hier Witwe Meier hieß. Sie waren auf dem Haufen aus
Stangen, Blechen und Karosserieteilen rum geklettert, wie wir es alle taten, so
lange der „blöde Paul“ uns nicht davonjagte.
Und
der Cousin war einfach „zu dämlich“, hatte plötzlich diese Stange im Bauch und
schrie ganz fürchterlich. Der Paul war angerannt gekommen und hatte,
„bescheuert wie der war“ die Stange einfach raus gezogen und der Cousin sein
ganzes Blut dem Paul über die Lederschürze gespritzt. Dabei war der Cousin dann
gestorben, noch bevor ein Arzt ihm helfen konnte. Thomas haben wir danach auch
nicht mehr gesehen. Kam in die „Klapse“. Die Eltern zogen bald darauf aus
unserem Viertel fort. Warum auch immer. „Weg mit Schaden“ hieß es am
Gartenzaun.
Es
hieß auch, die Zeiten früher wären „schauderhaft“ gewesen, mehr als die zur
Zeit, „hoffentlich, dass die nicht wiederkommen.“ Schwer verständlich all das.
Was für Zeiten? Was für Schauder? Krieg, nun ja, der war vor uns da. Uns
erschien es klasse mit Pistolen und Gewehren zu schießen, taten unsere Helden,
die Cowboys und Indianer doch auch.
Wenn
sich die Nachtschatten um uns gruppierten unter den Dachschrägen mit den
Klappfenstern hörten wir auch mal, was wir nicht hören sollten, gaben davon nie
etwas preis, nicht mal unseren besten Freunden. Man schloss alle Fenster in der
Nacht, öffnete sie am Tag zum Lüften. Wer tagsüber die Fenster zu hatte,
verbarg etwas. Aber was?
Bei
so viel Fragezeichen fiel uns das Fragen nicht leicht. Wir kuschelten uns
lieber an die Antworten, die wir fanden.
Alles
war hier heil, als wir dazu kamen. Nichts mehr „kaputt“. Der Krieg, von dem sie
sprachen, klang uns fast wie eine Erfindung ihrer Phantasie. Alles war und
wurde ständig sauber gehalten. Besonders wir. Irgendwie nutzten sie uns wie die
Autos, die nach und nach unseren Spielraum auf den Straßen verengten. Wir waren
vorzeigbar, jedenfalls taten sie das mit uns.
Tod
war uns nichts schlimmes, kam der doch meist zu anderen, nicht zu uns und wenn
er zu uns kam, dann sprachen wir nicht darüber oder wurden einfach einen
weniger wie bei dem Thomas oder der Rita, dessen Vater sich aufgehängt hat, der
Vater, der der einzige Witwer war in unserer Straße, weil seine Frau „den Krieg
nich verknust hat“. Und dann kam Rita ins Heim, „dat arm Tüch“, und bald schon
kam Maria zu uns dafür, die mit ihren Eltern in deren Haus zog.
Wir
waren weder arm noch reich dran. Irgendwie waren wir nur irgendwie dran. Lag es
daran, dass wir mit Adjektiven in der Schule unsere Mühe hatten? Worte wie
schön, bunt oder grün und blau kamen nur schwer über unsere Lippen vor den
Hauptwörtern. Meistens reichten uns die, die Hauptwörter oder wir machen die
anderen zu Hauptwörtern, der „Blöde“, die „Schöne“ oder der „Piekfein“.
Hauptworte gaben uns Sicherheit, entsprachen den Häusern unserer Straße
zwischen denen sich auch keine Adjektive und Adverbien oder Artikel eingeschoben
hatten. Haus an Haus. Familie an Familie. Zaun an Zaun. Hauptworte. Alles. Die
Werft. Der Hafen. Der Tod. Was braucht es noch?
Die
Liebe? Ja, die auch. Wir wurden geliebt, zumindest wurde es uns öfter gesagt.
Es gab „Liebe zwischen Mann und Frau“ auch wenn wir uns das nicht genau
erklären oder vorstellen konnten. Die Männer und Frauen unseres Viertels saßen,
aßen, arbeiteten, sprachen das Nötigste und wo war da die Liebe zwischen Mann
und Frau, was sollte die sein, wozu brauchte man das? Es wurde geflüstert es
habe etwas mit den Schlafzimmern zu tun. Und damit, dass sie nachts die Fenster
dort schlossen.
Liebe
interessierte uns nicht. Wir fanden nichts von ihr, was uns hätte an ihr
Gefallen oder auch nur Interesse finden lassen. Liebe war ein Wort wie Krieg.
Irgendwie vergangen oder nicht wirklich da. Eine Erwachsenenmacke. Etwas, was
vielleicht noch für uns kommt. Alles war und hieß wie es war. Der Winter war
kalt. Der Sommer heiß. Das Eis glatt, der Schnee feucht. Mehr brauchten und
wollten wir nicht. Wer zu viele Adjektive gebrauchte, den hielten wir für
verrückt. „Hat se nich alle“, „nicht ganz gesund im Oberstübchen“ und das mit
dem Denken sowieso, das „überlasst besser den Pferden, „die haben den größeren
Kopf dazu“.
Drum
schickten sie uns zum Spielen, was immer sie glaubten, was wir dann taten.
Spielen und Kinder gehörte für sie zusammen wie artig und Kinder, oder brav und
Kinder. Artig, brav, doof, bekloppt, klasse, schwer, hoch, tief, viel mehr
Adjektive brauchten wir wirklich nicht. Und ob die klein oder groß geschrieben
wurden war uns „schnuppe“. Wir setzten sie ein wie Hauptworte in unseren
Sätzen, für die wir weder Kommas noch Semikolon brauchten. Alles „Tünkram“ für
uns. Wort, Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Schluss. „Nix für
Klabautermänner“. „Laberonkel“ wollte keiner sein.
Wir
gebrauchten Schaufeln, Besen, Kehren, Räder, Eimer, Tische, Stühle, „unseren
Verstand“, „gaben uns Mühe“ liefen „herum“, sangen Lieder.
Unser
Viertel war ein Reich der Hauptworte, kein Paradies für Eigenschaften. Die
bekamen wir erst mit der Zeit mit und dann sehr zögerlich, fast ängstlich,
wussten wir doch, nur auf Hauptwörter trainiert, nicht wie mit ihnen umgehen
und was uns durch sie geschieht.
Auch
wir selber waren nur ein Wort. Der Thomas, der Hanz, der Bekloppte, die
Schnarchnase, der Wildfang, wie die Erwachsenen um uns herum waren die Witwe,
die Olle, der Suffkopp, der Malocher, der Schlappschwanz, die Knickrige, der
Geizhals, das Faultier. In den Hauptworten lag das ganze Wissen über die Person
von jetzt an und für alle Zeiten.
Überhaupt
Veränderung. Gab es kaum. Wir wurden nur selten ein Jahr älter, viel zu selten
nach unserem Geschmack. Ansonsten blieb vor allem alles gleich. Selbst wenn wir
die Klasse wechseln durften blieb der Klassenlehrer gleich und die
Klassenzimmer waren nicht zu unterscheiden. Die Schule musste auch schon
Jahrhunderte hier stehen und Millionen gequält haben. Die Strafen blieben auch
gleich, ob „hinter die Ohren“ oder „auf die Finger“.
Die
Häuser wurden im Höchstfall neu angestrichen, wie die Zäune, aber stets in der
gleichen alten farblosen Farbe. Nur in unseren Träumen veränderte sich das. Die
Hauswände rissen auf, die Autos verbrannten im Phosphor, Menschen rannten,
flohen die Straße hin und her, brennend ihre Haare, ihre Kleidung, Gesichter
angstverschmerzt aber unbekannt, nur zu ahnen, wer was war im Traum. Dann
begann die Straße auch mal zu tanzen wie ein wildes Pferd, rissen die
Pflastersteine sich frei und flogen mit Funken und Bombensplittern umher. Dann
hörten wir Schreie, Weinen, Gestöhne. In unseren Träumen veränderte sich hier
was, aber schon beim Erwachen war uns klar, dass wir von der Vergangenheit
geträumt hatten, spärlich erzählter Vergangenheit an Küchentischen zwischen dem
Schweigen und Schlürfen und Kauen. Außerdem schien uns diese geträumte
Veränderung zwar aufregend aber nicht wirklich schön, Veränderung damit nicht
wirklich sinnvoll. Eine andere Veränderung als die in unseren Träumen war uns
schwer vorstellbar. Blieb die Versetzung von einer Klasse in die andere und das
Geburtstagsgefeiere, obwohl letzteres auch nicht wirklich Veränderung war, eher
immer gleich, bei den Erwachsenen mit Alkohol, Lärm und nicht selten Streit,
bei uns mit Süßigkeiten, Socken, Hemd oder Hose für den Sonntag und Kakao.
Uns
war es gleich, wir kannten nichts anderes. Was wir auch nicht mochten war
„fremd“. War jemand „fremd“, war das nicht gut. „Fremde“ sowieso. Meistens
„Zigeuner“, „Habenichtse“, „Flüchtlingspack“ oder „Polen“. Polen sowieso, die
„klauten wie die Raben“ und die „Zigeuner“. Unter „Flüchtlingspack“ sagte uns
nur „Pack“ wirklich was. „Pack“ mit nichts davor war uns klar. „Pack“ waren die
anderen, die man meiden sollte, die nichts „taugten“. Wir waren nicht Pack,
niemals. Das war klar. Zum Pack zu gehören ging gar nicht, wäre uns auch nie in
den sin gekommen, egal ob „Zigeuner“ oder „Polen“.
Von
unserer Straße aus konnte man am Ende des Kirchwegs zu den Barracken sehen. Die
„KZs“ hieß es, aber niemand vergast. Sowas verstanden wir gar nicht Eher schon,
dass da die Zigeuner hineingehörten. Und das „Flüchtlingspack“ auch nichts Besseres
verdient hätte. Selten sahen wir sie, die Leute dort. Die Zigeuner tatsächlich
meistens mit schwarzen Haaren wie im Bilderbuch. Wir Kinder hatten zwei
Möglichkeiten, Flucht oder Schreien. War es nur eine Person schrien wir
Schimpfworte, waren es mehr, flohen wir.
Nicht
ganz klar war uns unsere Sprache, wenn wir mit anpacken sollten. Auch sollten
wir in der Schule es „packen“ und in der Adventszeit wurde Pakete für die Zone
gepackt mit Süßigkeiten, die wir auch gerne selber geschlickert hätten. Dagegen
„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“. Kein schönes Thema. Meistens machten
wir daher einen großen Bogen rum.
Erna
war kein Pack. Erna war das schönste Mädchen in der Straße. Erna war Erna und
alle wollten mit ihr spielen. Bei Karl-Heinz wussten wir es manchmal nicht.
Karl.-Heinz schlug uns bisweilen, einfach so, verkloppte uns hart und
jähzornig. Er hatte immer seine Fingernägel dreckig, sogar am Sonntag. Seine
Klamotten stanken nach Erde und Schweiß. Also, bei dem war uns nicht klar ob er
Pack war. Ein bisschen bestimmt, auch wenn er ein Nachbarsjunge unserer Straße
war.
Ilse
war kein Pack. Ilse war scharf, zeigte uns, wenn wir wollten, wie sie pinkelt
und ließ uns regelmäßig überprüfen, wie ihre Titten wuchsen. Das ging bei ihr
fix, da sie fett war und viel Fleisch um ihre Knochen herum schwabbelten beim
Laufen. Das war uns egal. Hauptsache Titten. Hauptsache Spalt. Nur die anderen
Mädchen waren neidisch. Waren sie doch längst noch nicht soweit. Da half auch
kein Streicheln, ziehen oder drauf pinkeln, was besonders Ilse öfter gerne tat.
Und
irgendwie packten wir alles, was man uns aufgab. Wir wussten selber nicht
warum, lag doch kaum Ehrgeiz in unseren widerspenstigen Bemühungen. Große Ziele
verbanden wir damit nicht. Es war noch so, dass wir werden sollten, was die
Väter und Mütter waren. Einige dachten eher an Polizist oder Lokomotivführer,
wenn sie eine Spielzeugeisenbahn hatten. Ich eher nicht, hatte auch nur eine
Dampfmaschine, die ich ab und zu laufen und dampfen ließ ohne recht zu wissen,
was ich damit sonst noch spielen sollte.
Was
wir gar nicht verstanden, war unsere Traurigkeit, waren diese Schatten, die
besonders nachts über uns herfielen, diese Angst, die uns oft zum Schreien
gebracht hätte, wenn wir uns denn getraut hätten. Angst zeigte man hier nicht.
Das wussten wir von klein an. Es gab Stunden selbst im hellsten Sonnenschein,
da wirkte unser Viertel düster, als gäbe es da ein großes Untier, was sich
darunter verkrochen hatte. Es war unheimlich, war spürbar, immer wieder und wir
konnten es doch nie sehen oder fassen. Es war mal in uns, mal in den
Erwachsenen, dann wieder auf den Straßen und Dächern. Es war da und nicht. Es
machte uns aber klar, dass wir später von hier fort müssten. Von uns Kindern
wollte keiner in den Straßen wohnen bleiben. Auf keinen Fall. Diese Erwachsenen
sahen so aus, wie wir nie aussehen wollten. Und sie taten so viele Dinge, die
wir nicht mochten, rochen bisweilen so unangenehm, dass wir darum beteten nicht
mehr zu lange ihre Kinder sein zu müssen. Wir wollten nur eins: Erwachsen
werden und fort von hier. Auch die Enge in den Häusern, den Stuben, der ewige
Wäsche- und Kohlgeruch trieb uns hinaus. Nur auf der Straße fühlten wir uns
wohl und hätten wir das Wort schon gekannt und verstanden auch „frei“. Die Straßen
führten alle woanders hin. Zum Hafen auf die Schiffe nach Übersee, auf die
Heerstraße zur Stadt und anders zum Land hinaus. Mit der Straßenbahn konnte man
sogar bis zum Flughafen kommen. Das hatten wir aufgeschnappt. Flughaufen,
Flugzeuge, nach Afrika oder China fliegen. Soviel verstanden wir bereits. Alles
Möglichkeiten, wollte man nicht hier bleiben. Die Straßen also. Unser
Kinderhimmelreich, Paradies unsres Tobens und Treibens. Schwer nur ließen wir
uns abends zurück in die Häuser treiben, hinter die Gartenzäune in die Küchen
und Stuben an das blaue Geschirr mit dem sauren Brot.
Wolfgang
vor allem, der blieb so lange, dass wir manchmal schon beim Zähneputzen waren
und wir immer noch seine Mutter ihr „Woooooolfkang“ als Schrei durch die Straße
hüpfen hören konnten.
Witwe
Trine, seine Oma, konnte kreischen wie ein Raubvogel und so sah sie mit ihrer
Nase auch aus. Aber er ließ sie einfach lange Schreien und Kreischen, kam als
einziger von uns erst spät nach Hause. Nur wenn sein Vater, der Käpt’n da war,
dann kam er wie wir sofort gelaufen. Der Käpt’n schimpfte nicht mit ihm sondern
mit den „Weibern“ wie er sie lautstark nannte. Und „Weibervolk“. Sie würden
seinen guten Wolfgang nur mästen und verfetten, den armen Jungen. Auch würde
der total verweichlicht.
Dem
Käpt’n war es egal, ob wir es hörten. Der kümmerte sich überhaupt wenig um die
Nachbarn. „Das kommt von den Hottentotten, wo der immer rumfährt“, hieß es zu
seiner Entschuldigung. Der Käpt’n wurde von allen dienerhaft gegrüßt, ganz
besonders höflich und sobald man ihn sah. Der hatte es in den Augen aller ja
auch am weitesten gebracht hier. Kapitän zur hohen See. Wir verstanden das
nicht. Gab es auch ein anderes Meer, eine niedrige See? Der Käpt’n war uns
unheimlich. Ein Studierter, der einzige der Sorte, den wir kennen lernten. Ein
„Mathe-Ass“, betonte mein Alter immer wieder. Und natürlich „pass also auf beim
Rechnen. Bist Du da gut, bist Du für alles gut!“ Der hatte leicht sprechen. War
Optiker, geht auch nur mit Rechnen, sagte er jedenfalls. Ich hatte mit den
Zahlen meine Probleme. Die meisten von uns. Das war fast noch schlimmer als das
mit den Adjektiven. Außerdem war den Erwachsenen nicht zu trauen. Wer von denen
war denn Kapitän oder wie meiner Optiker geworden? Und notfalls konnten wir ja
als blinde Passagiere an Bord gehen. Ab nach Amerika. Da wurde man vom
Tellerwäscher zum Millionär. Sagten hier alle. Millionär war uns eigentlich
egal, Tellerwaschen nicht unbedingt unsere Wunschbeschäftigung, aber so wie es
die Alten sagten, ganz bestimmt ein besseres Leben als hier im Viertel im
Schatten des großen Schweigens und ungezähmter Hauptworte.
Einmal
habe ich es sogar ausprobiert, das Weglaufen, nicht an Bord eines Schiffes,
einfach nur so mit Bus und Bahn bis ans Ende der Stadt. Als ich mein Pausenbrot
aufgegessen hatte, dachte ich mir, dass ich das mit dem weglaufen auch später
noch machen könnte, mit mehr Taschengeld in der Tasche.
Hans,
vom Ende der Straße kurz vor der Straßenbahnhaltestelle, ist weggelaufen. Kam
nicht wieder. Später hieß es der sei „unter die Räder gekommen“. Einige
behaupteten, den hätten seine Eltern wohl „an die Zigeuner verkauft“, trauten
sich nur nicht das zuzugeben. Das mit dem Verkauf an die zigeuner drohte uns
allen. Immer wieder. Wen wir „unartig“ waren oder schlechte Noten mitbrachten
aus der Schule, schlimmer noch, wenn die Lehrer unsere Eltern sprechen wollten.
Es gab irgendwie immer wieder Anlässe uns mit dem Verkauf an die Zigeuner zu
drohen, meist mit dem Zusatz, wir wüssten es nicht zu schätzen, wie gut wir es
hätten und wenn wir weiter so undankbar …!
Aber
der Hans war nicht verkauft worden. Plötzlich hieß es, der Alte habe den im
Suff totgeschlagen, „Unglücksfall, is mit dem Koppe an Herd kommen“, sagten
entschuldigend unsere Leute. Das wars.
Auch
Erna verschwand mal. Als sie wieder da war, sagte sie nix, sprach überhaupt
nicht mehr mit uns und nicht mit anderen. Wir hörten nur, „De Onkel, dat Swien,
dat Aaas!“ So richtig was zusammenreimen konnten wir uns daraus nicht.
Schwer
etwas zu erzählen, wenn nichts erzählt wurde, nicht wirklich und doch etwas
erzählt werden muss, weil da was war und ist, was heraus drängt, ans Licht
will, auf die Straße, mitten in das Viertel. Warum wurde nur befohlen, nie
zugehört, warum diese Gewalt in den Stimmen und Schlägen, die „Backpfeifen“ nicht
mitgezählt. Warum unsere Träume? Warum dienten wir stumm, fragten nie, wussten
den Sinn von Fragen nicht und nicht wie sie an zu wenden?
Warum
blieb uns Zärtlichkeit verwehrt, mochten auch wir selber nicht zärtlich werden?
Warum mieden wir jeden normalen Hautkontakt wenn wir uns nicht gerade
„kloppten“. Warum schämten wir uns dauernd und warum für unsere Alten?
Liefen
wir nicht recht munter herum, bekamen satt zu essen, konnten uns des öfteren
vergnügen? Wir haben es gesucht oder gemieden. Sind raus aus dem Viertel,
wenige nur sind geblieben oder zurückgekommen. Gesprochen darüber haben wir
nie. Nicht darüber warum wir wirklich gegangen sind, noch über das was uns
bedrückt hat.
Es
ist ein Viertel, Teil eines Stadtteils wie wahrscheinlich tausend andere im
Land. Unser Viertel, unser Start in das Leben, vollgestopft mit Erinnerung, die
wir nicht zu fassen, zu benennen vermochten. Misstrauisch gegenüber Worten,
hellhörig wenn Schweigen uns umgibt. Geborgen auf Straßen, ängstlich zwischen
Wänden. Keine Jahreszeiten. Nur Zustände zwischen den Zäunen. Ein Jetzt nur,
nie ein Vorher, nie ein Danach, letzteres höchstens mal als Drohung. „Wartet
nur …“, „Das wird euch …“ oder „aus Euch wird nie ..“. Drohungen statt Blick in
die Zukunft. Trauer statt Vergangenheit, stumme Trauer, Bitterkeit. Wenn es
etwas aus der vergangenheit, dann waren es Vorwürfe gegen uns, sie nicht
„mitgemacht“ zu haben. Danach musste es Vergangenheit im Viertel gegeben haben
und die Alten hatten sie „mitgemacht“. Der wahre Kern dieses Wortes wurde uns
erst Jahrzehnte später wirklich klar. Da wussten wir auch erst, was mit den
Baracken wirklich los war, diesen „KZ’s ohne Vergasen“.
Aber
was sollen wir diese armen Bewohner von heute aus damit belasten. Irgendwie
schienen sie uns schon immer bestraft zu sein. Bestraft mit ihrem Leben, ihrem
Aussehen, arm dran wie die ewigen Kittelschürzen der Frauen, die sie trugen von
morgens früh bis zum Schlafen. Schürzen, auf denen sie ständig ihre Hände
trocken und sauber strichen. Kittel wie ihr Leben. Schwarze und grau-schwarz e
der Witwen, bunte, langsam verblassende der Mütter und Omas. Kittel und
Schürzen, von morgens bis abends, dazwischen wir, wachsend mit aller Kraft und
Sehnsucht, zuerst die Schürzen, dann die Kittel zu überragen.
Kittel
statt Zärtlichkeit. War es das? Oder die schweren Hosenbeine der Männer, der strenge
Tabakgeruch, diese Schritte, mit denen sie die Häuser leicht zum Zittern
brachten, diese Hosen, dunkel, schwarz, dunkelblau, sonntags grau. Diese Hosen
am Abend, und dann „Samstags gehört Papi uns“, und Sonntags, Hosen, Mief, strenge
Bügelfalten, Hosenväter, Hosenmänner, immer wieder laut betont, ärgerlich,
wütend, „noch habe ich hier die Hosen an!“, wir dagegen, die Kinder, sollten
uns zu den „Röcken“ scheren, wenn wir ihnen nicht willkommen waren.
Kittel,
Hosen, Tapeten. Damals wurden Tapeten verklebt. Tapeten mit Mustern. Ganz
andere Muster als das Muster der Polstermöbel. Wieder andere Muster die
Gardinen. Gardinen und Tapeten waren auch wichtig. Und das sauber halten der
Polster.
Für
Teppiche und Polster gab es Teppichklopfer. Auch gut geeignet für uns Kinder, „wenn
sonst nichts hilft“, oder „ihr es nicht anders wollt“.
Es
wurde jeden Tag geklopft. Sichtbar die Teppiche, die auf Stangen in den
schmalen Gärten hinter den Häusern dafür hingen. Mit dem klopfen der Teppiche
zeigten sie Stärke und Fähigkeit zur Sauberkeit. Wo die Männer klopfen mussten,
„geiht dat nich lange mehr gut.“ Die Frauen starben dann wohl mal oder standen
plötzlich wieder an der Stange, stolz und kräftig schlagend.
Alte,
Frauen, Kinder, Kittel, Hosenbeine und der Tratsch, ein Viertel ohne Geigen
oder trompeten, mit spärlichem Kirchgang obwohl die Kirche um die Ecke offen
stand, meist benutzt, wenn, dann von den Frauen, leichter fiel den Männern der
Kneipengang. Gab es an eine Straße weiter, backsteinig düster und drinnen wie
der Kamin für Räucherware. Da drinnen nur schwach zu erkennen ihre Gesichter,
gerötet, die Augen blank, silbrig im Licht der Thekenfunzeln.
Nix
für „die Blagen“, riefen sie. „Ruut mit ju!“ und so umschifften wir stets
weiträumig diese Kneipen. Holten höchstens mal mit den Müttern die Männer dort
ab, wenn sie gestützt werden mussten. Auf allen vieren, das war allen klar, das
war peinlich, das machten sie nicht, lieber Frauen und Kinder holen lassen und
zwischen denen sich führen lassen. Vorsicht. Morgen ist wieder Tag. „Bildet
Euch nichts ein! Vorsicht“. Wer nicht geholt wurde, kroch die Zäune entlang und
entlang der Blicke hinter Gardinen. Auffällig wer alles dafür wach blieb oder
wach war.
Butterkuchen
gabs auch, mal Pudding, mal Eis, mal ein paar Groschen, „aber nich gleich allet
verplempern“ und es gab uns. Es gab uns als eigenes reich, jeder hatte sein
eigenes Weltall in sich, tobte es aus, spätestens seit dem wir lesen konnten.
Wir träumten uns weit, wir träumten uns weg, wir träumten uns hoch und tief,
flogen, schwammen, ritten, tanzten,. Warten so viel mehr und fähig, als es die
hier, diese Alten je sich vorstellen konnten. Keine Ahnung hatten sie von uns.
Von unserer Flucht, unserem Verrat an ihren versuchen es uns „besser gehen zu
lassen“. Bücher, Comics, egal, Hauptsache was zu lesen. In den Büchereien war
es warm im winter und besser als zu Hause. Viel saßen wir auch auf den Klos mit
Spülbecken und lasen, immer wieder an den Ketten ziehend, damit sie dächten,
wir kackten oder so.
„Lesen
ist für Stubenhocker“, hieß es. Und die sähen blass aus so wie der Müller
Friedhelm, der nur auf dem Büro rum hockt und „sein Frau schon lang kein Mann
mehr ist“, überhaupt ein „Wunder und wer weiß ob dat Blach überhaupt von dem is“.
Sie nannten Leser auch Bücherwürmer und die wurden hier so verachtet wie die
Maulwürfe, die die kleinen Beete untergruben und mit dunklen Haufen zerstörten.
Es
war ihnen nicht vor zu werfen. Sie hatten irgendetwas sehr Schreckliches
überlebt. Andere nicht. Und so hatten und behielten sie für den Rest ihres
Lebens recht, unschlagbar ja der Beweis ihres Überlebens. Sie mochten uns,
bestimmt, irgendwie, aber sie brauchten auch ihre Haut, diesen Panzer aus
Rissen, Rot und Blau, dieses Fett darunter gegen die Kälte. Sie waren nicht
besonders schön aus den Trümmern hervorgekommen, aber dafür arbeitsam, sauber,
akkurat, willensstark, bewegliche und niemals schaffensmüde Säulen ihrer Stadt,
ihres Landes. Und wir hingen daran wie Eichhörnchen an den Zweigen uralter
Kastanien oder Eichen.
Manchmal
wünschten wir in unseren Träumen unter den schrägen Dächern dem Viertel einen
neuen Krieg, den Einsturz der Häuser, sehnten uns nach den „Tommys mit ihrem Fußballspiel“
und Phosphorbomben. Wünschten uns das, um ihnen endlich zu begegnen, den
Erbauern und Bewohnern unseres Viertels, hofften ihnen so endlich mal näher zu
kommen, sie zu erleben wie richtige Menschen mit Gefühlen und Seelen, ja
vielleicht sogar „in Liebe vereint“ was immer das sei.
Träumten
wir das. Schämten wir uns. Träumten wir das. Immer froh am Morgen, den Tag
davon frei zu haben. Damals, als wir noch sprachlos waren.
(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014
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