„Du
musst loslassen! Einfach loslassen!“ Mein Spiegel aber lässt mich nicht los,
nicht dieses Wintergesicht mit den Augenringen über dünnen Bartstoppeln auf
fahler Haut.
„Loslassen!“
Was denn, wie denn?
Draußen
fährt der Nachbar von gegenüber mit seinem Wagen fort. Hoffe für die Frau, dass
er wiederkommt.
Am
Sonntag standen vor unseren Häusern zwei Krankenwagen. Der Junge von nebenan.
Blinddarmdurchbruch.
Über
unseren Bäumen bilden Gänse ihre Formation. Mitten im Januar. Wo fliegen sie
hin und woher kommen sie? Auf unserer Straße versickert der erste Schnee
bereits wieder in den Gullis.
Vom
Badezimmer aus lässt sich alles gut beobachten. Eigentlich müsste ich jetzt in
den Tag hinein gehen.
„Frischluft
tut Dir gut“, sagte Hilde zum Abschied. „Geh ein wenig spazieren. Du siehst
blass aus.“ So fühle ich mich auch.
Wann
kommt der Müllwagen, die Bio-Tonne zu leeren? Danach hätte ich einen Grund
hinaus zu gehen, die Tonne zurück zu rollen.
Der
Nachbar rechts hat wohl wieder Notdienst. Sein ADAC-Wagen steht einsatzbereit
vor der Tür.
Ich
könnte mehr erfahren, wenn ich durch die Siedlung ginge. Aber was und will ich
das überhaupt?
Die
Sonne lächelt den Himmel smaragdblau. Da strahlen die Dächer und funkeln die
Zäune.
„Loslassen,
raus, gehen.“ Ich sehe in den Spiegel das vertraut unvertraute Gesicht. Meide
die Furchen. Zähle die Stoppeln heute nicht. Rasieren. Wozu?
Hier
ist es warm und ich sehe mir zu, wie ich mich anstarre und mein Umfeld dazu.
Die
schlecht geschlafene Nacht drückt mir die Knochen, zwickt mir ins
Muskelfleisch.
Könnte
ich loslassen, stände ich hier nicht. Wäre wie Hilde am Arbeitsplatz. Hätte
nicht den Arzttermin.
Im
Spiegel finde ich mich angekommen, dort wo ich meinen Vater wieder fand, im
Alter, müder aber auch toleranter mit sich und mir.
Habe
schon losgelassen die wilde Jagd etwas zu werden, was mehr ist als ich gestern
war. Das ja. Aber was noch und wohin damit?
„Nichtstun,
fallen lassen“, rät mein Arzt. Lassen, lassen, lassen. Ein Wort wie
abgelaufener Quark.
Die
Frau von gegenüber kommt mit ihrem Sohn heraus. Er hat wohl den Hund zu Weihnachten
geschenkt bekommen und ein Fahrrad. Mit beiden machen sie sich auf den Weg. Sie
sind frisch hierher gezogen.
So
langsam beginnen hier neue Geschichten ihre Wege glatt zu harken. Und wir, wir
warten, was noch mit uns geschieht. Auf Krankenwagen und wer von hier ins Altersheim
geht.
Die
Häuser werden umgestaltet. Alles, was uns lieb und teuer war scheint reif für
den Sperrmüll geworden. Immer öfter sehe ich das Inventar der letzten Jahre auf
der Straße stehen. Haus nach Haus wird frisch bezogen.
Ich
könnte meinen Kreislauf starten, unter die Dusche fliehen. Aber dann hielte
mich nichts mehr hier fest, nicht mal mein Gesicht.
„Du
musst loslassen! Einfach loslassen.“ Du musst, und das noch einfach. Nichts
will ich noch müssen und schwer fiel mir immer leicht. Vorbei.
Das
Los lassen? Mein Los? Unser Los? Gelassen sein lassen, los lassen das Los?
Da
gehe ich lieber erstmal duschen, auf die Plätze, fertig, los.
Mein
Gesicht habe ich mir eingepackt. Könnte sein, ich brauche ich es noch am Abend,
wenn Hilde erschöpft wieder kommt. Dann können wir zusammen darin ermüden.
Vielleicht
hat der Junge es ja überlebt. Wir haben uns nicht getraut nebenan zu klingeln
und nach zu fragen. Hoffentlich war es nicht zu spät.
Uns
bleibt dies, zu hoffen, zu sehen, wie es anderen geht.
In
der Werbezeitung gestern diese Überschrift gelesen: „Mit dem Rollator die Welt
besteigen.“ Ob das auch mit mir und meinem Rollator funktioniert?
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