Dienstag, 28. Januar 2014

Spiegelgedanken



„Du musst loslassen! Einfach loslassen!“ Mein Spiegel aber lässt mich nicht los, nicht dieses Wintergesicht mit den Augenringen über dünnen Bartstoppeln auf fahler Haut.
„Loslassen!“ Was denn, wie denn?
Draußen fährt der Nachbar von gegenüber mit seinem Wagen fort. Hoffe für die Frau, dass er wiederkommt.
Am Sonntag standen vor unseren Häusern zwei Krankenwagen. Der Junge von nebenan. Blinddarmdurchbruch.
Über unseren Bäumen bilden Gänse ihre Formation. Mitten im Januar. Wo fliegen sie hin und woher kommen sie? Auf unserer Straße versickert der erste Schnee bereits wieder in den Gullis.
Vom Badezimmer aus lässt sich alles gut beobachten. Eigentlich müsste ich jetzt in den Tag hinein gehen.
„Frischluft tut Dir gut“, sagte Hilde zum Abschied. „Geh ein wenig spazieren. Du siehst blass aus.“ So fühle ich mich auch.
Wann kommt der Müllwagen, die Bio-Tonne zu leeren? Danach hätte ich einen Grund hinaus zu gehen, die Tonne zurück zu rollen.
Der Nachbar rechts hat wohl wieder Notdienst. Sein ADAC-Wagen steht einsatzbereit vor der Tür.
Ich könnte mehr erfahren, wenn ich durch die Siedlung ginge. Aber was und will ich das überhaupt?
Die Sonne lächelt den Himmel smaragdblau. Da strahlen die Dächer und funkeln die Zäune.
„Loslassen, raus, gehen.“ Ich sehe in den Spiegel das vertraut unvertraute Gesicht. Meide die Furchen. Zähle die Stoppeln heute nicht. Rasieren. Wozu?
Hier ist es warm und ich sehe mir zu, wie ich mich anstarre und mein Umfeld dazu.
Die schlecht geschlafene Nacht drückt mir die Knochen, zwickt mir ins Muskelfleisch.
Könnte ich loslassen, stände ich hier nicht. Wäre wie Hilde am Arbeitsplatz. Hätte nicht den Arzttermin.
Im Spiegel finde ich mich angekommen, dort wo ich meinen Vater wieder fand, im Alter, müder aber auch toleranter mit sich und mir.
Habe schon losgelassen die wilde Jagd etwas zu werden, was mehr ist als ich gestern war. Das ja. Aber was noch und wohin damit?
„Nichtstun, fallen lassen“, rät mein Arzt. Lassen, lassen, lassen. Ein Wort wie abgelaufener Quark.
Die Frau von gegenüber kommt mit ihrem Sohn heraus. Er hat wohl den Hund zu Weihnachten geschenkt bekommen und ein Fahrrad. Mit beiden machen sie sich auf den Weg. Sie sind frisch hierher gezogen.
So langsam beginnen hier neue Geschichten ihre Wege glatt zu harken. Und wir, wir warten, was noch mit uns geschieht. Auf Krankenwagen und wer von hier ins Altersheim geht.
Die Häuser werden umgestaltet. Alles, was uns lieb und teuer war scheint reif für den Sperrmüll geworden. Immer öfter sehe ich das Inventar der letzten Jahre auf der Straße stehen. Haus nach Haus wird frisch bezogen.
Ich könnte meinen Kreislauf starten, unter die Dusche fliehen. Aber dann hielte mich nichts mehr hier fest, nicht mal mein Gesicht.
„Du musst loslassen! Einfach loslassen.“ Du musst, und das noch einfach. Nichts will ich noch müssen und schwer fiel mir immer leicht. Vorbei.
Das Los lassen? Mein Los? Unser Los? Gelassen sein lassen, los lassen das Los?
Da gehe ich lieber erstmal duschen, auf die Plätze, fertig, los.
Mein Gesicht habe ich mir eingepackt. Könnte sein, ich brauche ich es noch am Abend, wenn Hilde erschöpft wieder kommt. Dann können wir zusammen darin ermüden.
Vielleicht hat der Junge es ja überlebt. Wir haben uns nicht getraut nebenan zu klingeln und nach zu fragen. Hoffentlich war es nicht zu spät.
Uns bleibt dies, zu hoffen, zu sehen, wie es anderen geht.
In der Werbezeitung gestern diese Überschrift gelesen: „Mit dem Rollator die Welt besteigen.“ Ob das auch mit mir und meinem Rollator funktioniert? 


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