Warum
schreibe ich? Ich weiß es nicht – nicht so genau – habe die Frage nach dem Warum
nie recht begriffen. Ich tue und tat es schon als kleines Kind. Ich wollte es,
träumte davon, mal mehr hingetrieben, mal bedächtig herangetreten und es
angesehen nach und vor neuen Schreibtaten.
Warum
schreibe ich? Nun ja, vielleicht wegen Marianne, die eines Tages oben aus dem
Hause ihrer Familie trat, das letzte Haus der Dorfstraße, das kleinste Haus,
das Haus mit den meisten Schadstellen, wo der Wind bereits durchpfeift und die
Streitereien und Schläge verrät, das erschrockene Winseln des Hundes und
höllentonmäßige Fiepen der Katze auch.
Marianne mit
jungen Jahren in Haar und Gesicht, auf den schmalen Beckenknochen und der von
Fett und Fleisch noch verschonten Brust, Jahre 13 an der Zahl, frisch
vollendet, wenig gepflegt, was kommt kann nur schöner werden, für Gestern ist
ihr alles zu spät.
Sie ging, ja
hüpfte wie so oft, froh dem Haus entkommen zu sein, für dieses Mal, kam so den
Abhang hinunter ein kleines Stück, sah die Kirchtürme an der Kreuzung vor sich,
irgendwo das Ziel ihres Ausfluges, sah hin oder auch nicht, beeilte sich oder
auch nicht.
Der Wind,
diese Bö im Gepäck, aus dem Hinterhalt, erst hinter feinstem Säuseln und leisem
Klappern an den Schindeln des alten Fachwerks versteckt, dann einfach da, laut,
heftig, stark, kam so über den Berg gebraust, packte Marianne, packte sie ganz,
mit Leib und viel zu dünnem, viel zu durchscheinendem Flatterkleid,
verschluckte die Schuhe, riss an den Haaren, trug sie schneller und höher
davon, als es das neue Coupe des Brauereibesitzers hätte tun können, ein
Jagdflieger vielleicht, einer von denen, die in der Nähe ihre Blindbomben mit
ähnlich lautem Getöse zu Übungszwecken abwarfen.
Dennoch
näherte sich ihr das Tal, sank sie tiefer, hing nach vorn übergebeugt wie ein
Skispringer, ließ sich tragen, genoss das Luftpolster, sank und sank, unter ihr
die Dorfstrasse, näher kommend die alte Kastanie, die Kreuz- und
Dorfmittelpunkt zugleich war, Schattenspender für Generationen von Dörflern,
auf deren Rundbank die Jugend am Abend saß, auf bessere Zeiten und Orte
hoffend, sank so immer näher der Erde, bis ein Aufflammen der Bö sie packte und
in die Krone der Kastanie warf, zu ihrem Glück so, dass sie auf einem kräftigem
Ast zum Sitzen kam.
Dort überließ
der Sturm sie ihrem Schicksal, schüttelte noch ein wenig die Äste und damit
auch sie kräftig durch und verschwand wie er gekommen war. Schon bald weder zu
hören, noch zu spüren.
Nachdem sich
die Marianne auf ihrem Ast von Schreck und Flug benommen, etwas erholt hatte,
betrachtete sie staunend den Himmel, der ihr auf so ungewöhnliche Art und Weise näher gekommen war. Angst hatte sie
keine, nur Gottvertrauen, noch mehr Vertrauen gab sie der Maria, wie die
meisten Mädchen und Frauen im Dorf. Der Maria hinten rechts in der Ecke der
klobigen Kirche gegenüber der Kastanie, dieser uralten Schnitzkunst, kindhoch,
Farben verlierend neben dem Altarraum.
Da die
Kastanie auf der Kreuzung stand, die seit kurzem zum Kreisverkehr geworden war
um die Ampeln zu sparen, von deren Rotmännchen die wenigsten sich hatten
aufhalten lassen, wurde Marianne schnell von Treckern, Fahrrädern und Autos
umfahren, Trecker, Fahrräder, Autos die
sich nicht mehr in eine der abgehenden Alleen flüchteten, sondern immer weiter
im Kreis fuhren, alls hätten sie ihren Weg verloren.
Aus dem „Kolonialwarenladen
Hergans“ kamen Leute, aus der Kirche ein paar der ganz Alten, aus der Schule die
zwei Lehrer mit ihren Schülern und alle sahen zu Marianne hoch, zu ihrem Ast,
ihrem Haar, dass leicht wehte als wäre es Vorbote der Blätter, die hier sonst
vom Wind zum Tänzchen gebeten wurden.
Die Männer
feixten und schielten unter ihr Kleidchen, wo kein Unterhöschen ihren Blicken
verwehrte was ihnen weder gehörte noch schicklich war.
Die Stimmen,
gefüllt mit den Augenblicken von Mariannes kurzem Höhenflug mit Landung auf dem
Baum, schwollen auf und ab, ohne dass Marianne auf sie hörte oder gar einzelne
Worte verstand. Sie sah und spürte, zu ihrem Glück, auch nicht die gierigen Blicke an ihren fast
formlosen, dünnen Beinen entlang. Sie sah den Himmel, befand sich im Himmel,
fühlte sich leicht und warm und die Stimmen um sie herum waren ihr wie Wolken,
die sie einluden, auf ihnen weiter zu ziehen, dorthin, wo wohl die Engel
wohnen, von Maria beaufsichtigt.
So ging es
eine ganze Weile bis die Burschen das Feuerwehrauto herausbrachten, dessen
Leiter ausfuhren und Marianne, trotz deren verzweifelter Gegenwehr, hinunter
holten, weil sie um sich schlug und biss, unsanft auf die Erde fallen ließen, viel
unsanfter als des Sturmes Bö es mit ihr getan.
Da saß sie
nun, zwischen all den Beinen, bis der Pfarrer kam, ihre Hand ergriff und sie
hochzog.
„Danke dem
Herrn, mein Kind!“
„Und der
Maria!“ hauchte Marianne.
„Ja, der wohl
auch, denn Du musst wirklich starke Schutzengel heute bei Dir gehabt haben.
Aber bevor Du in die Kirche gehst, gehe bitte nach Hause und ziehe Dich
vollständig an. „
Ja, auch der
Pfarrer hatte hingesehen wo er besser nicht hingesehen hätte, nutzte oft die
Gelegenheiten für Einblicke, ohne aber je dafür einer Person Gewalt an zu tun,
nahm nur mit, was sich ergab, das aber konsequent, wenn auch heimlich.
Marianne nun,
die hörte ihn, nickte, obwohl sie ihn nicht verstand.
Sie rannte
nach Hause, zog sich einen Mantel über, obwohl es ihr warm war, rannte so
wieder hinunter, wo noch immer viele Leute standen, nur die Männer, da es für
die nichts mehr zusehen gab, nicht das, was sie im Stillen immer noch genossen,
hatten sich verzogen.
Marianne ging
durch die Menschen hindurch, die sie zu berühren versuchten, „so ein Glück“
murmelten oder „fast wie’n Heilige“, ging in die Kirche, wo der Pfarrer die
kleinen Kerzen vor der Maria auffüllte, da gewiss jetzt viele hineinkämen und
sie anzünden wollten, um so auch an dem Wunder der Marianne teil zu haben. Sie
ging zur Maria, warf eine Mark in die hölzerne Spendenbox an der Wand, nahm wie
dadurch gestattet zwei Kerzen und zündete sie auf dem schwarzen Eisenständer
an, der einen Rosenstock symbolisieren sollte.
Der Pfarrer
nickte ihr aufmunternd zu und stellte sich neben ihr beim Beten. Er war sicher,
dass sie jetzt mit Unterhose bewaffnet war, auch wenn ihm die
Wahrscheinlichkeit, dass sie bald wieder solch schamlosen Blicken ausgesetzt
sein könnte, recht unwahrscheinlich vorkam.
Und bald
schon waren alle Leute von der Kreuzung in die Kirche gekommen und dem Pfarrer
fiel ein, was ihm noch nie eingefallen war. Er ging zum Altar und begann eine
Messe, eine Messe für Marianne und ihr Wunder. Alle ließen es sich gefallen,
gingen zu ihren Plätzen, sangen, hörten, sprachen, sangen, wie sie es gelernt
hatten seit ewigen Zeiten in dieser Kirche, die einst mehr Burg und Schutz vor
Überfällen war als Gotteshaus.
Und Marianne
bekam kaum mit, hätte es wohl nicht glauben mögen, dass diese Messe ihr galt.
Marianne betete und sang, wusste hinterher kaum wie sie zurück in ihr Heim
gekommen war, wie alles wieder normal zu weden begann, die stimmen
verschwanden, „Mariannes Wunder“ verblasste, mit ihm Ehrfurcht, respekt und
Toleranz, wusste nicht, dass es ihr größter Tag gewesen sein sollte, einziger ohne
Sorgen, dem Himmel nah wie nie, dass sie noch 60 Jahre später an den
Krankenhausapparaten gebunden, dem Tode nah, daran denken sollte, wie zuvor in
vielen schweren Stunden, die das Leben in seiner bisweilen echt hartherzigen
und ungerechten Weise in Fülle ihr aufgetragen hatte. Unbeeindruckt hielt sie
auch in den letzten Augenblicken ihres Daseins den Rosenkranz in ihren Händen,
überzeugt davon, dass all ihr Beten ihr geholfen, Maria sie wunderbar getragen
und gerettet habe. Die würde, so sah sie das Geschehnis als ihr Zeichen, gewiss
alles angenehm für die Marianne im Himmel vorbereiten. Warum sonst hatte sie
schon einmal dem so nah sein dürfen?
Aber auch für
das Dorf geschah lange nichts mehr, was sich so erzählen ließe. Kriege und
Herrscher kamen, trieben ihren Wahnsinn und verschwanden, wie auch alte Häuser
und Betriebe verschwanden und neue kamen. Und als Marianne starb, war kaum noch
einer Bauer, die meisten Familien fortgezogen oder kurz vor dem Aussterben.
Nur die Kirche
und die Kastanie erinnerten mit gleichem Antlitz an die Zeit als Marianne auf
den Baum flog.
Ja,
vielleicht schreibe ich deswegen, wegen Mariannes einzigem Moment, der
himmelsgleich ihr war und all denen, die so anders von den Stürmen der Zeit
davon getragen werden. Und nicht alle landen so weich, wie die Marianne. Ja,
weil sie nie darüber schreiben werden, nur die anderen sich die Münder wetzen,
manche mit gierigem Blick, lüsterner Zunge über den Lippen. Ja, ich glaube,
auch deswegen schreibe ich, dass auch die anderen Geschichten erzählt werden,
die, die nicht ganz so lustig sind und wie der Barde Troubadix in den
Asterixcomics ferngehalten werden, wenn es in den Gaststätten hoch und das
Erzählen losgeht.
(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014
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