Mittwoch, 5. Februar 2014

Vom Glauben der Anderen


Die Nacht, die uns draußen nach der Lesung entgegenschlug, war eiskalt und so funkelte uns die verlassene zeittypische Fußgängerzone an, als hätte sie einen Belag, gewebt aus millionen kleinster Diamanten oder Eiskristalle.
Mein Begleiter und Gastgeber, ein Buchhändler meines Alters, wie ich in dem Jahrzehnt, in dem die spannende Frage war, ob man das 7te Jahrzehnt noch lebend erreicht, lud mich zu einem Bier ein.
„Nach solchen Veranstaltungen habe ich immer so einen trockenen Hals“, meinte er.
Es gab keinen Grund für mich, nicht einzuwilligen, da ich noch nicht erschöpft genug war, die kleine Pension, die man mir gebucht hatte, zum Schlafen zu nutzen und trotzdem schon zu müde für andere Sachen, wie zum Beispiel Schreiben oder in dem kleinen, silbergrauen Fernseher, auf den Übernachtungsanbieter in ganz Europa wohl Rabatt bekamen, nach einem genießbaren Beitrag zu suchen.
Also antwortete ich ihm mit „Ja, gerne.“
Wir landeten nicht weit entfernt, also angenehm schnell raus aus dieser doch arg lästigen Kälte, in einer Kneipe, die den Namen tatsächlich noch verdient hatte. Dunkel, Luft stickig obwohl auch hier wie neuerdings im ganzen Land nicht mehr geraucht werden durfte. Licht entsprechend trüb, wie von früher und meinen allerersten Kneipen gewohnt. Fast nur Männer. Breite Rücken, dicke Jacken und Pullover, alle in dunklen Farben. Hier war „Jack Wolfskin“ noch nicht ausgebrochen.
Es roch nach Bier und Schweiß und altem, übriggebliebenen Rauch. Wir fanden Platz am Ende der gewaltigen Eichentheke, die ihre Jahrzehnte durch matte Kratzer und speckigem Glanz uns gerne entgegen prahlte.
Ich sagte spontan, dass ich nicht damit gerechnet hätte in einer deutschen Innenstadt noch so ein Prachtexemplar von Originalkneipe erleben zu dürfen.
Er nickte und meinte nur, „ist für mich auch ein Wunder.“
Kaum stand ein dunkles, vor Ort gebrautes Bier vor uns, kam dann eine der Fragen, die wohl bis zum Ende aller Schreiberlinge kommen muss.
„Warum schreiben Sie?“
Weil die Kneipe mir gefiel und auch der Mann, dachte ich ausnahmsweise darüber ein wenig nach, bevor ich ihm eine Antwort servierte.
„Eigentlich nur, um etwas über mich selber zu erfahren, was mir beim normalen Nachdenken nicht gelingt. Ich entdecke immer wieder etwas über mich in den texten, mal mehr, mal weniger, aber immer noch viel zu wenig. Daher schreibe ich und schreibe, vielleicht, dass ich es nie zu Ende bringe. Nein, wahrscheinlich. Verstehen Sie?“
Zu meiner Überraschung nickte er.
„Ja, das geht mir beim Lesen und Hören ja auch so. Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Keine Angst, sie ist nicht von mir und kein literarisierender Versuch Ihres Gastgebers.“
Auch das war normal, dass mir Manuskripte in die Hand gedrückt und eigene literarische Bemühungen der Gäste oder Gastgeber zugemutet wurden. Nun denn, wenn es in diesem Fall anders war, soll er erzählen.
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern legte gleich los.
„Ich bekam diese Geschichte von einer alten, wirklich alten Frau geschenkt, die ich während meines Zivildienstes in einem seniorenstift zu betreuen hatte. Es war eine schlichte Frau, vom Land. Wenig gebildet, sehr arm. Die Kirche zahlte ihren Aufenthalt.
Sie erzählte gerne von früher, von ihrem Dorf und ihrem Leben. Sie tat das für mich erstaunlich ruhig, voller Lust und Kraft, oft sogar schelmisch, obwohl sie fast nur düstere, mich erschreckende Ereignisse zu berichten hatte.
Bis heute aber verfolgt mich ihre eigene Geschichte, die ihres Lebens. Auf eine mir nicht wirklich begreifbare Art hat sie wohl etwas mit mir, meinem eigenen Werden und Suchen zu tun. Und ich rätsel noch heute herum, um was es darin genau geht.
Aber hören sie selber.
Sie hieß Thusnelda, wurde von allen Tussi genannt, von ihrem Ehemann Tusschen. Keine Ahnung wie Eltern auf solch einen Namen verfallen konnten. Sie lachte oft darüber. Ja, ihr Lehrer hätte ihr erzählt wer Thusnelda gewesen war. Die entführte Gemahlin vom angeblich deutschen Helden, dem Cheruskerfürsten Arminius, dem Sieger gegen die Römer in der Varusschlacht. Aber sie war sich sicher, dass ihre Eltern das nicht gewusst hätten als kaum des Lesens kundige arme Häusler im Moorland.
Geboren wurde sie als Letztes von 17 Kindern, überlebte mit 11 anderen recht mühsam in der kleinen Kate auf dem Grundstück des Bauern, für den sie alle in erster Linie arbeiten und springen mussten. Für die eigene Landwirtschaft blieb da wenig Zeit und so mussten sie wohl oft hungern.
Sie meinte, dass wäre gut für sie gewesen, denn es habe sie stark gemacht für ihr restliches Leben. Eine gute Freundin sei ihr in der Kindheit die Jungfrau Maria geworden, deren hölzernes Abbild an der Kreuzung der Wege zu ihrer Kate und dem Bauern gestanden hätte. Heute stände dort ein ALDI-Markt mit großem Parkplatz. Für ihre Maria hätten die keinen Platz mehr gefunden.
Das mit ihrer Hingabe zu Maria bereitete mir nicht nur damals Kopfschmerzen. Ich bin protestantisch aufgewachsen, wenn auch nicht mit Beten am Tisch oder gar zu vielen Kirchgängen. Die katholische Kirche jedenfalls war mir schon früh zuwider. Und besonders deren Marienkult konnte und wollte ich nicht verstehen. Als ich später meinen Glauben verlor, warum? Einfach so, mit der Zeit und ihren mich davon entfernenden Angeboten. Jedenfalls konnte ich da zwar noch halbwegs die Verehrung von Jesus Christus nachvollziehen und teile ja auch heute noch vieler seiner Werte, die von seinen Kirchen oft mit Füßen getreten und aufs übelste verraten wurden. Aber Maria! Dreifaltigkeit! Nichts für mich. Dumpfer Aberglaube in meinen Augen. Ebenso dieser Heiligenzirkus und Reliquienzauber.
Sie aber liebte Maria, grad so, als wäre sie deren kleine Schwester.
Sie betete nicht zu Gott, oder selten, meist zu Maria, besprach mit ihr alles und behauptete steif und fest, mich dabei mitleidig schelmisch ansehend, auch Antworten bekommen zu haben.
Nun ja, Gründe dafür bescherte ihr das Leben genug.
Als sie 14 war wurde sie zwar nicht entführt wie ihre Namenspatronin, aber ungefragt verheiratet zu werden in dem Alter scheint mir auch nicht besser zu sein. Ihr Mann war ebenfalls ein kleiner Häusler von ihrem Bauern und so änderte sich nicht wirklich viel für sie. „Ich hatte Glück, zwei Schwestern bekamen keinen ab. Die mussten als Magd ran bis sie umfielen. Naja, gelacht haben die auch mal und beim Feiern waren die immer die ersten.“ So sah sie das.
Ihr Mann war doppelt so alt und hatte bereits zwei Frauen im Kindsbett verloren und so hatte sie gleich zwei Kinder um die sie sich als 14jährige zu kümmern hatte. In meinen Augen war sie dabei doch selbst noch ein Kind.
„Och, nee, dat war nich immer so, damals schon gar nicht. War schon in Ordnung so mit de Lütten.“
Ihr Mann war verwundet worden im deutsch-französischen Krieg, mit dem Bismark sein deutsches Reich begründet hatte. „Ja, und da musste der immer mit’m Stock. Weil, Krücken gabs keine bei uns. Hat er sich selbst geschnitzt. Und am Kopp hatte ers och. Hattn Säbel abbekommen, so quer rüber, blieb ihm die Narbe von und Kopp-Pien.“ Ich kann ihre Stimme noch heute in mir hören, als hätte sie es gestern erst zu mir gesagt.
Naja und darum wäre der nicht immer fröhlich gewesen, ja, auch laut und heftig. Wär halt im Krieg gewesen.
Aber Kinder hätte sie ihm geschenkt, 12 an der Zahl, 8 hätten überlebt bis sie später anders unter die Räder kamen. In den großen Krieg habe der Mann nicht mehr gemusst, so wär sein Leiden auch ein Glück für sie geworden. „Wer weiß, ob der Döskopp zurückgekommen wär, ist nie der fixesten einer gewesen. Außer beim Kindermoken.“
Ansonsten, ja, 4 Brüder und der Vater wären gefallen und 2 Söhne vom Bauern. Nach dem 1. Weltkrieg wären ihr noch die Mutter und 3 Schwestern und 4 Brüder geblieben. Eine Schwester hätte schon lange vor ihrer Geburt die Kirche der Familie abgenommen und so sei die Nonne geworden. Ein Bruder durfte sogar lernen und Pfarrer werden. Der wär aber nach Afrika gekommen und dort verschollen. Einen Bruder hätten sie nach dem Krieg bei einem Einbruch erwischt und eingesperrt. Danach hätten sie nie wieder von ihm gehört. „War schon immer unser Bruder lustig, nun ja, is ihm nich bekommen.“
Auf jeden Fall hätte sie der Maria immer viel zu erzählen gehabt, nein, leicht wär das nicht immer gewesen. „Aber für wen is dat leicht? Wir sin da, wir sin wech, nich wahr. Dat is nun mol immer son Schietkrom hier.“
Die Nonne hätte die Schwindsucht bekommen, obwohl „di immer ganz hielig wor. Hätt nix nütz. Hat der Herr se hochnohmen. Vielleicht brukt he die da oben mehr.“
Man wüßte ja auch nicht, was sich da oben alles so rumtriebe. Angeblich könnten ja auch viele Sünder dort hinkommen. Ihr Bauer, „dat olle Oos“, wär zum Beispiel sicher gewesen dem lieben Herrgott Tach sagen zu können. Weil er ja die Maria bezahlt hat. „Und da brükt he‘n poor Hielige sin Loden in Schwung zu holten.“
Unabhängig von Kriegen, Sozialistengesetzen, Kaiserflucht und Republik lebte sie ihr Leben als Häuslerin, versorgte Mann und Kinder, soweit der Bauer ihr dafür Zeit ließ und später auch noch die letzten Geschwister und die Mutter.
„Ik war ja dat jüngste Blaach. Da mußt dat so kohmen, dass ich die all upn Doch hab pflegen müssen, so wie Sie junger Mann jetzt mit mi dat Kreuz haben.“ Das ging durch ihre ganzen Jahrzehnte hindurch. Das viele sterben, Erkranken oder anders „unter de Räder kohmen“ verwirrte mich bisweilen, zu viele Namen, zuviele Schicksale, an denen sie teilgenommen hatte.
Sie hat ihren Mann bis zum Tod versorgt, manche ihrer Kinder, hat alle überlebt und lächelte mich jeden tag an, als habe das Leben ihr nur Rosen auf den Weg gestreut.
Im zweiten weltkrieg „heb wie dem Kriech, dem Dübel, dree unserer Kind  mitgeven. Eener mehr, weil de unterm Nohmen vom Burn seen Hinnerk mitmusst. „ Das heißt der Bauer rettete seinen eigenen Sohn auf Kosten ihres Sohnes. Aber der trieb es noch schlimmer. Als genau der Sohn eine Tochter von ihr vergewaltigte und dabei gleich schwängerte, verjagte der Bauer ihre Tochter vom Land. „De worn Dübel, nu he war de Buur. So war dat.“ Sie hatte die Tochter ziehen lassen müssen und nie wioeder von der gehört. Zwei Töchter wurden von ihren Männern oft  „halvdoout slon“ und starben in der Folge recht früh an Entkräftung.
Die arme Maria hätte sich viel anhören müssen, nein, nicht geschimpft, das habe sie nie, nur gedankt und gebetet, dass es nicht schlimmer käme.
Thusnelda ging wohl am Sonntag oft in die Kirche, nicht selten aber auch am Samstagabend, da sie den Sonntag zum Arbeiten für ihre Familie gebraucht hatte. An der Kirche fand sie eine andere Marienfigur, umgeben von einer grotte wie in Lourdes. Ja, da wäre sie zu gern mal hin gewallfahrt, „de Buur mit sein Schrappnelle sin hin, bruukt dat for sien Seelenheil, mient he.“ Ja der Bauer und sie, die wahre Freundin Marias nicht.
Als es mit den Nazis zu Ende ging musste ihr Mann trotz seiner Behinderung und seines Alters noch zum Volkssturm. Der war begeistert und überzeugter Nazi gewesen obwohl er auch oft sang „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben“.
„Naja und do is he mit den Oberlamettas zum Buurn, wollt twee Jungs von dem.“
Der Bauer trommelte seine Leute zusammen, ließ die „bruunen Lamettas“ an seiner Allee aufhängen und ihren Mann „tüchtig tosohmen kloppen“, qwovon der sich nie mehr erholt habe. „Nee, so war dat.“ Meinte sie immer und grinste mich an. „Yu leev anners. Aber wi hätt dat zusammen bringen moßt.“
Ihre Sprache aus Platt, Hochdeutsch und eigenen Kürzungen und Windungen war wie ein endloser Singsang, fast konzertant, als hätte sie von ihrer Maria eine eigene Melodie geschenkt bekommen, das Leben damit zu meistern.
„Mit de Maria ging dat jo. Meist. Nee, geflemmt hab ik ok, tuhus, for mi alleen. Dat wollt ich nich to ehr hindohn.“
Der Bauer, der trotz seiner nie strafverfolgten „Hängepartie“ schon früh Parteimitglied bei den Nazis gewesen war, bekam von seinen Häuslern, Mägden und Knechten nach dem Krieg seinen „Persilschein“. „Wat willst moken. Wi bruuk den doch. Is unser Buur.“
Für mich kaum vorstellbar lebte sie offensichtlich von Geschichte und Zivilgesellschaft völlig abgetrennt. Nur die, die fort mussten bekamen etwas mit. Der Bauer lebte nicht mehr lange und sein Ältester übernahm den Hof, entließ alle Mägde und Knechte und schaffte früh Traktoren und andere Maschinen an. Zwei seiner Brüder machten eine Tankstelle mit KFZ-Werkstatt und einen Landhandel an der Dorfstraße auf.
„Jo, und denn sind se all wech von mien Familie, was noch do wor. Inne Stadt, to de Fabriken. Ging ja gut damals, was ol wech an Wachsen und Geld lag da so rum. Soveel hev wi nie tvor hat.“ Sie selber durfte in ihrer Hütte bleiben mit einem Sohn. Der baute aus und um und gründete seine eigene Familie. Schließlich mußte sie ausziehen, weil er Platz brauchte. Häusler war da schon lange keiner mehr. Er war jetzt selber Bauer und arbeitete im Straßenbau.
„Bis ihn son fien Pinkel mit sein Jaguar tod forn hätt. Is friesprochn worn, dat Oos! He hätt mien Dschung nich sehn könn, wär selber schuld wärn. Naja, wat son Pinkel is, der kricht sien Recht.“
„Mi is dat Himmelreich, dat glov man, Jung. Do schludert mi kein rum. Do bin ik to huus. Un nich de anders mit jem Swienkrom un Dulltüch.“ Das sagte sie immer wieder zufrieden lächelnd und mir den Arm tätscheln.
Auf ihrem Nachtisch stand natürlich, was sonst, neben dem gusseisernen Billigkreuz eine kleine Madonna aus Rosenholz. „Von mien Moder, de hät de wohl von ihr Moder un so wieter.“ Ja, sie spräche mit der, immer wieder, jeden Tag. Der alte Pastor hier wär schon neidisch gewesen darauf. Der wollte lieber, dass sie zum Herrgott mehr Kontakt hätte.
„Jo, de kann reden. Is de nichn Mann, de hielige Gott? Un sein Sohn ok. Nee, ich blev bi di Maria. De Himmel bruukt de as Fruu. Is doch so, oder nich?“
Und als sie spürte, dass es mit ihr zu Ende ging, wirkte sie noch mehr zufrieden auf mich. Als freue sie sich auf den Himmel und ihre Maria dort.
Sie können sagen, dass diese Frau halt sehr naiv und tiefgläubig war. Ich würde und müsste Ihnen Recht geben. Aber sie hatte etwas, was mich heute noch berührt und was uns heute oftmals fehlt trotz unserer geschulten Klugheit und angestrengter Suche. Sie hat mir etwas über mich gesagt, ohne dass ich es so richtig in Worte kleiden kann. Sicher, dass ich es besser habe und andererseits aus ihrer Sicht auch nicht. Ein wenig habe ich mich ihr gegenüber stets schuldig und unehrlich gefühlt. Da ist etwas, was ich mir nicht eingestehen mochte, vielleicht die Sehnsucht nach so etwas wie ihre Maria oder ihre Haltung bei all den Schicksalsschlägen und Gemeinheiten in ihrer Umgebung. Hassen wir zu schnell, klagen wir zu früh, beanspruchen wir etwas, was uns nicht gehören kann? Was ist es? Oder suchen wir einfach falsch, gibt es etwas, was wir ständig übersehen aus Eitelkeit, Anspruchsdenken oder Egoismus? Sie sehen, wirklich weit bin ich mit meinen Fragen nicht gekommen, obwohl die Begegnung mit ihr schon so lange zurück liegt.
Manchmal rührt mich ihre Geschichte derart an, dass ich das Gefühle habe, in ihr läge unsere wahre Bestimmung und Erfüllung, dann wieder überkommt mich Zorn über das, was sie erleben musste und ihre geringe Gegenwehr und ich bin froh, dass wir solche Zeiten hinter uns haben. Dann wieder glaube ich, dass ich ihre Geschichte nicht vergessen dürfte, wollte ich bei mir selber bleiben und meine Lebensziele hier erreichen.“
Ich nickte nur, während er das sehr anschaulich erzählte, dass ich mir den jungen Zivi, die Madonna und seine Thusnelda sehr gut vorstellen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass sie ab jetzt auch Teil meines Lebens sein würden. Meine Stimmung hatte sich völlig verwandelt, die Lesung war vergessen. Ich dankte ihm für seine Bereitschaft mir das zu erzählen und bestätigte ihm, ähnlich zu erleben und zu fühlen beim Schreiben.
„Verrückt, aber es ist wahrscheinlich wirklich so. Die tiefsten Wahrheiten in Worten und Sätzen sind nicht mit unserer Sprache zu fischen. Aber sie sind es, die uns anziehen, lesen und mich schreiben lassen. Ich glaube auch nicht mehr, bin wie Sie lange schon aus der Kirche ausgetreten. Trotzdem berührt und fasziniert mich ihre Geschichte und wie sie, kann ich nicht sagen, warum. Vielleicht ja auch aus Ehrfurcht ihrem Leid und ihrer Haltung gegenüber. Vielleicht aus Neid, weil sie glauben konnte und wir nicht.“
Der Abend wurde Nacht. Wir sprachen nicht mehr viel. Saßen stumm, tranken, nickten, er ergänzte bisweilen die Geschichte, ich kommentierte kurz, meist zustimmend. Als ich schlafen ging, wusste ich ein kleines Stückchen weiter gekommen zu sein und dankte im Stillen der alten Dame dafür.

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014


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