Freitag, 14. Juni 2013

Ein passender Geldkoffer

Er hatte vor allem diese Anblicke satt, tote Fixer nach einer Überdosis in vermüllten Räumen. So wie der hier, der vor ihm in der Küche auf dem Boden lag, verkrümmt, gelblichen Schaum vor dem Mund, das Übliche halt.
Sein Bruder war dank seines Arbeitgebers, einer Großbank, bereits im Vorruhestand. Zwei Jahre noch, dann würde er auch gehen und gleich ihm den Ruhestand genießen können. Martin Hegels sah zu den Kollegen, die ihr Ritual abspulten, als ginge sie das hier alles nichts an. Draußen bewies starkes Vogelgezwitscher wie früh am Morgen es noch war. Die Vögel mussten ihre Nester auf dem Trümmergrundstück der alten Druckerei gebaut haben. Ein wenig naturnaher Anblick dort draußen. Darüber konnte auch ihr Gezwitscher nicht hinweg täuschen.
Er zog sich in den Schlaf- und Wohnraum zurück, eine kleine billige Bleibe für eine Person oder ein junges Pärchen, dachte er. Eine Kapitalanlage aus der Nachkriegszeit, billig hochgezogen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gewerbegelände, ein Bauunternehmer, der seine Firma mit den Mieteinnahmen gegenüber der Bank absicherte. Er hatte ihn noch gekannt, jetzt aber gehörte der Kasten dem Enkel, der statt Bau lieber auf Internet machte.
„Hat jemand den Eigentümer informiert?“
Irgendjemand rief „Ja!“ und damit war auch das geklärt. Martin Hegels setzte sich auf das kleine Ikea-Sofa und sah sich um. In Gedanken formulierte er den Bericht und griff, warum auch immer, nach einem roten Lederkoffer, der unter dem Sofa hervor sah. Er zog, bekam ihn frei und legte ihn mangels Platz auf dem Tisch, auf das Sofa, öffnete ihn.
Dann wachte er auf, alle Routine fiel von ihm ab, denn so viel Geld hatte noch nie vor sich gesehen. Er war schließlich nur zuständig für Tötungsdelikte, also Tote, deren Ableben auf Fremdeinwirkung von ihm überprüft werden mussten. In dieser Stadt kam es aber selten vor, die meisten Todesfälle hatten natürliche Ursachen, und dazu zählte die Überdosis hier inzwischen auch.
Geld fanden sie eher weniger vor, eher Schulden ihnen sichtbar durch ungeöffnete Briefe mit Mahnungen.
Und jetzt das hier, unvorstellbar viele große Euro-Scheine die ihn frisch und farbenprächtig ansahen. Da er keine Erfahrung mit solchen Geldmengen hatte, konnte er auch nur schwer die Höhe des Betrages schätzen.
Martin Hegels sah sich um. Er war allein im Raum, die anderen waren entweder in der Küche oder auf dem Flur beschäftigt. Keiner hatte den Koffer bisher erwähnt und, da er ja unter dem Sofa gelegen hatte, wohl auch nicht bemerkt. Wie leicht wäre es den jetzt …!
Er schüttelte spontan den Kopf. Klar, eine Aufbesserung der Pensionsbezüge käme nicht schlecht und vielleicht gelänge es ihm unbemerkt ein paar Stapel Geldscheine in seine Taschen zu verfrachten. Aber er hatte noch nie gerne etwas riskiert und würde sich mit üblen Gedanken und sowieso jetzt schon schlecht durchschlafenden Nächten für den Rest seines Lebens damit abquälen müssen. Das war es ihm nicht wert.
Philipp Knurr riss ihn aus diesen Gedanken und Möglichkeiten.
„Wir sind fertig, hast Du noch etwas Auffälliges?“
Martin klappte den Koffer zu, stellte ihn neben das Sofa, erhob sich und ging zur Tür.
„Nein, Du?“
„Nein, die Anderen sind schon weg und die Kollegin vom Rauschgift wusste auch nicht viel über den Verstorbenen.“
„Dann sieh Dich nochmal hier um. Ich fahre schon zurück und bereite den Bericht vor.“
Damit ging er schnell an seinem Kollegen und wahrscheinlichen Nachfolger vorbei, bevor der protestieren konnte wie üblich, ging zur Tür und zur Wohnung hinaus.
Er wusste nicht, warum er so gehandelt hatte. Natürlich hätte er Philipp auf den Inhalt des Koffers hinweisen müssen und der hatte ja auch gesehen, wie er ihn zugeklappt und neben das Sofa gestellt hatte.
Bei der schön restaurierten Gründerzeitvilla, ihrem alten Hauptgebäude, am Rande der sogenannten City mit ihren drei Einkaufsstraßen angekommen, ging er angewidert weiter zu dem Neubau dahinter, wo er nun für die kurze Restzeit noch ein sogenanntes modernes Büro hatte beziehen müssen. Er rief alte Berichte über ähnliche Fälle auf und kopierte Textpassagen, die ihm hier auch zu passen schienen und wartete gespannt auf die Rückkehr des Kollegen.
Kein ihm sehr angenehmer Kollege. Dreist, oft unbeherrscht, jedenfalls ihm gegenüber, aber immer freundlich , höflich zu anderen, vor allem Vorgesetzten, ein übler Besserwisser noch dazu, der überall seinen Senf dazu geben musste und in jeder Gesprächsrunde es irgendwie schaffte das Gespräch an sich zu ziehen für seine Kommentare zur Welt und allen Dingen des Lebens. Man konnte kaum etwas sagen, ohne dass er es nicht als Stichwort nutzte für sein bisschen Erlebtes und Wissen.
Seitdem der da war, mochte Martin Hegels nicht mehr an ihren Pausenrunden teilnehmen. Er wusste, dass er sich damit im Kollegenkreis isolierte, wobei er stets ein wenig für sich geblieben war. Er galt als nett, ein wenig langweilig, aber kompetent und zuverlässig in der Arbeit, nicht über korrekt aber auch kein Schlamper. Er wusste das, kannte die Meinung der Anderen über sich, die ihn weder störte noch verwunderte. Er war, wie er war und insgesamt recht zufrieden mit dem Verlauf seines Lebens und der Arbeit.
Bis dieser Kollege kam und er ihn einarbeiten sollte für die Zukunft. Er hatte es zu Beginn gerne getan, versprach es ihm doch das Ende seiner Totenaufsucherei und Tatortbegegnungen, ein Entkommen aus dem Milieu, dessen Geruch und Atmosphäre ihm immer mehr am Leib blieben und in der Nase hingen, sogar zu Hause in seinem Garten noch präsent waren, in dieser so völlig anderen Welt der Jahreszeiten und kleinstädtischen Wohlstandslandschaft und Architektur.
Mit der Zeit hatte er immer weniger Lust auf diese Einarbeitung gehabt, da Philipp Knurr sich als illoyal herausstellte, schnell die Führung übernahm und immer wieder ausgebremst werden musste, was den aber nicht davon abhielt, weiter sich auf zu spielen. In letzter Zeit tat der fast so, als wenn Martin Hegels bereits nicht mehr da und in anderen Situationen, als wenn er nicht mehr arbeitsfähig wäre.
„Das nehme ich Dir ab!“ und „Kann ich doch machen!“ oder „Lass mal!“ waren die dazu gehörigen Sätze.
Ja, Martin Hegels war es leid, mochte seinen Kollegen und Nachfolger nicht, mochte ihn so wenig wie dieses kalkweiße Büro mit den neuen Möbeln ohne Geruch und Wärme, wie es die alte Ausstattung in der Villa noch gehabt hatte, zwar schon lange nicht mehr modern, eher fast noch kaiserzeitlich, aber aus Holz, war Natur, mit gelebtem Leben, Spuren von Besuchern, freiwilligen wie unfreiwilligen, und seiner Arbeit.
Und sein Kollege ließ auf sich warten. Bis zum Feierabend tauchte er nicht wieder auf. Martin Hegels schwieg darüber gegenüber den anderen, verabschiedete sich nach Hause und ging zufrieden aus dem Gebäude.
Nein, er hatte es nicht wirklich so geplant oder fest gewollt. Er hatte es geschehen lassen und was ihm jetzt Befriedigung verschaffte, dass er mit seinem Negativgefühl gegenüber dem Kollegen richtig gelegen hatte. Wie so oft bei manchem Täter. Nicht zufällig hatte er schließlich 98% der Fälle aufgeklärt zu den Akten legen können.
Woher das Geld stammte? Er hatte da seine Vorstellungen. Es gab nicht wenige arbeitslose junge Männer oder eben auch Süchtige, die von einer russischen Mafiabande Geld bekam um es hier in Deutschland zu waschen. In der Regel viel weniger, gerade genug dafür Autos von privat zu kaufen und anschließend nach Russland zu überführen. Sie waren im ganzen Stadtgebiet präsent mit ihren kleinen, am PC selbst gefertigten billigen Visitenkarten, die sie allen Fahrzeugen meist in die Fenster der Fahrerseite steckten. Gut, nicht alle bekamen Geld von der Mafia, aber viele.
Damit zu tun hatten andere Kollegen. Auch kein leichter oder guter Job. Eher frustrierend, da kaum mal von Erfolg gekrönt. Da hatten es die vom Rauschgift sogar besser.
Auch am nächsten Tag tauchte Philipp Knurr nicht auf. Martin Hegels ging ausnahmsweise mal wieder in die Frühstücksrunde in der Kantine und genoss es, wie das Gespräch zwischen allen hin und her schwappte, ohne dass einer alles an sich zog. Sorgen über den Kollegen Philipp machte sich keiner von ihnen. Wahrscheinlich krank, wurde nur kurz vermutet. Kein Thema also.
Martin erzählte auch nicht, dass der Kollege bereits gestern nicht wieder aufgetaucht war nach dem Einsatz in der Wohnung. Er erzählte auch sonst nichts. Saß einfach nur dabei und lauschte zufrieden den anderen. Im Büro zurück dachte er, dass kein Mensch auf die Idee käme, so einem Fixer so viel Geld an zu vertrauen, was sich ja auch als richtig herausgestellte hatte, da der sich sofort mit Stoff eingedeckt und so ins Jenseits befördert hatte. Andererseits mochten die Mafiosos genau dies gedacht haben, dass niemand auf solche eine Idee kommen würde und hatten gerade deshalb den Knaben für ihr Geschäft nutzen wollen, nur dass sie sich bei ihm dann wohl doch reichlich verschätzt hatten. Ansonsten ging der Tag ihm flott wie lange nicht von der Hand bis dann der Anruf kam.
Philipp Knurr war auf der IC-Strecke kurz vor der Stadt auf den Schienen gefunden worden. Gefesselt und so vom Zug überfahren, der dabei aber nicht weiter zu Schaden kam. Nur der Lokführer musste wegen Schock ins Krankenhaus.
„Das ging ja schnell“, dachte Martin Hegels. „Wahrscheinlich ist die Wohnung beobachtet worden und der Depp ist ihnen mit dem Koffer in die Falle gelaufen.“
Auf dem Revier entstand große Aufregung. Keiner konnte sich dieses Ende von Philipp Knurr erklären. Wer hatte den gefesselt und auf die Schienen gelegt und vor allem warum?
Eine Sondereinheit wurde gebildet, schließlich handelte es sich um die Ermordung eines Kollegen, das LKA schickte Leute, die Presse stürzte sich auf den Fall und jeden von ihnen, in der Hoffnung etwas mehr zu erfahren, sogar überregional und in der Bild-Zeitung kam Philipp Knurr zu postumen Ruhm.
„Hoffentlich meine letzte Soko“, dachte Martin Hegels und leitete den Trupp so gut es eben ging. Vom Koffer sagte er kein Wort, zu niemand. Ermittelt wurde vor allem in der Rauschgift-Szene, in deren Kreisen so eine Tötungsart durchaus als Bestrafung schon vorgekommen war. Er hatte vor Philipp Knurr bereits 5 junge Leute in ähnlicher Situation auf den Schienen betrachten müssen.
Der Erfolg ihrer Unternehmungen war ein auffälliger Rückgang der Drogenkriminalitätsdelikte, die Szene schien sich fast ganz aus der Stadt zu verziehen.
Es gab immer wieder Tatverdächtige, es gab auch Festnahmen von bereits länger beobachteten Verdächtigen und in der Folge davon auch Verurteilungen. Aber keine Aufklärung im Fall Philipp Knurr. Martin Hegels verwunderte das kein bisschen und er trieb die Leute unbeirrt davon weiter an, hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, gaben ihm die Randerfolge doch trotzdem ein gewisses Gefühl der Befriedigung.
Mit der Zeit erlahmte das Ermittlungsinteresse trotzdem und die Zeit seiner Pensionierung rückte immer näher. Offiziell würde er mit einem Misserfolg und einer etwas niedrigeren Aufklärungsquote seinen Berufsweg abschließen, und das bei dem Mord an einem Kollegen und möglichen Nachfolger, der durch eine junge Frau ersetzt worden war, mit der Martin gerne und gut zusammen arbeitete. Sie bedankte sich sogar öffentlich bei seiner Verabschiedung mit vielen lobenden Worten für seine Kollegialität und gute Einarbeitung. Ja, die mochte er und sie ihn wohl auch. Vor allem aber hatte er von ihr viel Respekt zu spüren bekommen, was ihm auf die letzten Tage mehr als gut tat.
Offiziell, im Stillen aber wusste er ja, meinte zu wissen, wer den Mord verübt hatte, wenn auch nicht mit Namen oder konkreten Personen, war sich über das Motiv ebenso sicher und dachte zugleich, dass der eigentliche Täter er selber gewesen war, er, der den Koffer gut sichtbar dort abgestellt hatte, ahnungsvoll bezüglich der hinterhältigen Neugier des Kollegen, der ihn bestimmt sofort nach seinem Weggang geöffnet und dann an sich genommen hatte und wohl damit fliehen wollte in ein neues süßes Leben.
Nur zwei Fragen blieben ihm dennoch:
„Wie viel Geld war es wohl wirklich gewesen? Eine Millionen, oder gar 10 und mehr Millionen?“
Und die ihm viel unangenehmere:
hatte Philipp Knurr den Koffer gar nicht für sich genommen, sondern den einfach nur ordnungsgemäß zur Polizeidienststelle bringen wollen und ihn, Martin Hegels, womöglich anschwärzen, der nichts über den Fund gesagt hatte?
Manchmal, wenn er als Pensionär alleine auf seiner Terrasse im Liegestuhl lag dachte er auch darüber nach, dass er ja eigentlich, wenn auch nur für Sekunden, einmal in seinem Leben Millionär gewesen war. Den Kollegen Philipp Knurr bedauerte nicht und nie, dafür waren zu viele beklagenswerte Tote in seinem Leben eingetreten und wieder verschwunden gewesen.
Und er war klammheimlich ein wenig stolz darauf, dass ihm zum Schluss auch noch irgendwie der perfekte Mord gelungen war, was doch auch viel über seine Qualität als Kommissar für Tötungsdelikte aussagte.

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