Mittwoch, 12. Juni 2013

In 22 Jahren, ein Ausblick auf Gestern



jetzt - nur noch Sonne, Strand, Meer, die Leinwand, die Gitarre
ruht im Schrank, neben dem Füllfederhalter, dem schweren Begleiter
so vieler Seminare - längst eingetrocknet, die Tinte
die Lust auf Menschen, auf Nähe, gewichen
der Lust auf Stillleben, auf Panoramen
die Protokolle verplanter Stunden: vom Enkel lächelnd zerfetzt
noch immer auf Reisen: meine Geliebte, ihr grau gewordener Rotschopf
demnächst noch einmal in unserem Galiläa
dort leben wir uns wieder, oben in den Bergen Mallorcas
bei Wein und selbstgebrannten Schnaps, über dem Tal auf der Mauer
hocken wir dann wieder vor der Kapelle
unseres hierhin strafversetzten schwulen Priesters
wir Alten, trauern mild um die Fahrräder, unsere aufgegebenen Touren
über Pässe und Schluchten, unser Leben im Zelt auf der Suche nach Erholung

jetzt
nach so viel Reden, Diskutieren, Analysieren, - schulterklopfendes Schweigen
in uns diese stille Kraft
der Melancholie, die Welt nicht gerettet zu haben
nur zwei kleine Leben auf diesem so großartigen Planeten Azur
der Katakomben, rasch anwachsenden Wüsten trotz Wiederkehr
des großen Regens, digitalisiert für den schnellen Verschleiß
jetzt

kein Amt mehr, keine Würde, keine Verantwortung, kein Ziel, nur noch
die gleichen alten Latschen an den aufquellenden Füßen
gardinenbehängt die verblassenden Augen, ohne Blick
zurück im Zorn, schließlich doch prima gelebt auf diesem Jahrmarkt
dabei gewesen, mitgeflogen, jeden Höhenrausch
entlang gekämpft, geliebt, getobt, erzittert, gesoffen
wie das Meer die Wolkenbrüche, das Meer, das nun lautlos
seine vergifteten Blasen schlägt

jetzt
wie Chingachkog, der letzte Mohikaner, in den Armen
eines liebenden Menschen sacht über den Jordan gleiten
ohne Angst, ohne Schmerzen, der Zeit endlich gelassene Weggefährten werden
dabei vielleicht ein letztes Mal die vergilbten Ohren verschmelzen
den Blick, die Anker versenken
mit Smetanas 'Moldau' und zusehen, wie Du tanzt
Dein immer noch irgendwie roter Schopf, diese Farbe prall gefüllten Erlebens
Der Liebe, des Todes

jetzt
nicht mehr Milliarden Fragen an Millionen Menschen
keine tausend Bücher mehr vor uns, jetzt nur noch unsere eigenen Köpfe
dieses eng begrenzte All aus Fragen und Antworten, Blech & Schrott
ohne Anfang, ohne Ende, ohne Gott
jetzt

den Rest an Farben auf die verschmutzte Leinwand tragen, vor allem
Dein leuchtendes Rot
Jede Menge Kreise, Wirbelstürme, darunter diese Zahl eintragen
dieses Jahraus-, Jahreinjubiläum eitler Zählerei, dann, ja dann 80 Jahre
lang auf dem fliegenden Holländer Hanswurst gewesen
für die toten Seelen ein Narr, der aus der Wüste lebt, ohne Ring
den Fluch zu bannen, ein Flaschengeist, in den Nächten
Wünsche zu erfüllen, ein Klabautermann
und doch nie bereit dies sinkende Schiff zu verlassen

jetzt
wo hier nur noch die Toten leben und Achtung und Liebe erfahren
jetzt

gilt aber immer noch: wir wissen und wir haben gewusst
nichts ist vergessen und niemand
jetzt

nur noch Schweigen, nur noch vollgepisster Sand im Getriebe
jetzt
nur noch ein Leben wie sanftes Rauschen im Blättergedicht
jetzt
ohne Zähneknirschen die Füße auf dem Kanapee begraben, Zähne einziehen
morgen
werden wir wieder singen, planen wir den nächsten Tod
heute
sollen uns die Morde entlassen, die Messer lasst ruhen
wo nur noch Schweigen bleibt, gießt uns kein Regen
zum Himmel empor, kein Sonnenstrahl wird uns verletzen
jetzt

wir können wieder selig in unseren Gräbern ruhen, wir Vampire der Zeit
wir brauchen kein Blut mehr, es schwellt nicht mehr der geile Leib
von den Qualen der Uhr, der ewig durchrauschten Jahre
kein Knüppel in Sicht, der sich uns stumpf ins Herz bohren könnte
wir sind frei, in Staub zerfallende Hüllen
die so viel Blut und Tränen gekostet haben, so viel Leben

bald nur noch Staub

nein: zwei kleine Haufen Restasche

von Mutter Wind verweht

jetzt



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