Mittwoch, 2. Oktober 2013

Die Mürrische




Es war zu der Zeit, als die letzten Bauern ihre Ackergäule gegen Traktoren tauschten und im Dorf die Witwen und Witwer an ihren dunklen Gewändern leicht erkennbar waren. Allerdings gab es mehr Witwen als Witwer. „Der Krieg“, sagten die Leute noch, „der Krieg ist schuld.“
Samstag war noch Waschtag und „Vati“ gehörte an dem Tag noch nicht uns, wie es auf den Plakaten der Gewerkschaften stand, sondern dem Betrieb und wir Kinder in die Schule. Klosettspülungen gab es für die in der Stadt und von da kam auch das Fremdwort „Urlaub“ in unsere Dörfer.
Damals lebte noch die Mürrische am Dorfende, in dem kleinen Häusleranwesen neben dem ehemaligen Großbauern Tünken. Der hatte keinen Sohn aus dem Krieg zurückbekommen, nur er selber hatte „hinter der Front“ überlebt. Die Uppschulte, wie sie richtig hieß, und ihr Mann, Uppschultes Adolf, mussten nicht mehr für Tünken Dienste leisten, nannten ihr Haus ihr eigen und zogen darin 7 Kinder auf, hatten drei auf dem Friedhof liegen und malochten von früh am Morgen bis spät in die Nacht. Uppschultes Adolf hatte sein Auskommen an der Bahn gefunden, als Rangierer, die nahmen damals auch die Bauernsöhne ohne Ausbildung. Die Frauen blieben bei uns noch zu Hause und versorgten das Vieh.
Nun hatten es alle im Dorf noch schwer in jenen Tagen, was man Händen und Gestalten jederzeit ansah und in ihren Stimmen hören konnte. Wir Kinder trugen die Kleider der Geschwister auf und hatten Festtage, wenn für uns etwas Neues daraus geschneidert wurde. Meine Mutter war die Schneiderin im Dorf und mein Vater hatte die erste Tankstellenkonzession in der Gegend erhalten. Selbstverständlich hielten wir trotzdem weiter unsere Schweine und Kühe im Stall und draußen auf dem Hof gackerten die Hühner und schnatterten die Gänse. Luftballons bekamen wir an den Schlachttagen im Herbst, das waren Schweinsblasen, die uns der Schlachter gerne überließ.
Trotzdem, es war eine gute Zeit, der Krieg endlich vorbei und die scheußlichen Naziklamotten vergammelten bereits auf den Dachböden. Wir lachten viel, vor allem wir Kinder, genossen den Frieden und was auf die Teller kam. Die große Hungerzeit war vorbei und wir alle waren es mehr als zufrieden.
War die Arbeit auch schwer und viel, das Sitzen auf den Schulbänken hart und der Lehrer streng, es gab genug Freiheiten und wir fühlten uns stark genug für alle Zeiten.
Höhepunkte waren in unserem Leben die Namenstage, üblicher als die Geburtstage in unserer streng katholischen Gegend. Dazu kamen Weihnachten, Ostern und zweimal im Jahr Kirmes, einmal mit Schützenfest.
An sonnigen Tagen, wenn auf den Feldern und Äckern nichts für uns zu tun war, strolchten wir die Dorfstraße rauf und runter, runter und rauf. Wir Kinder mussten nur aufpassen, den Erwachsenen nicht im Wege zu stehen bei deren Arbeit.
Und dabei fiel sie uns auf: die Mürrische. Wir wussten, dass auch unsere Eltern sie so nannten, wenn auch nicht vor uns. Wir sollten noch nicht alles wissen und getreu der Bibel alle Eltern achten, ehren und lieben.
Trotzdem hieß sie für alle nur die Mürrische, nie Fehrens Maria, wie sie vor ihrer Hochzeit wirklich hieß und wie alle Frauen bei uns nach ihren Eltern genannt wurden. Die Mürrische war keine Witwe, ihr Adolf lebte und schuftete ja noch sichtbar auf seinem Hof und an der Bahnstrecke, wo wir ihn manchmal sehen konnten in seiner dunklen Montur. Trotzdem hatte die Mürrische nur dunkle Klamotten an, hatte diese angezogen nach dem Tode ihrer Eltern und nie wieder ausgezogen. Sogar unser Pastor soll ihr einmal gesagt haben: „Liebe Frau Uppschulte, Ihre Elternliebe geht zu weit. Und denken Sie denn gar nicht an Ihren Mann? Der Herrgott gibt uns Grund zum Trauern, ja, aber er gibt uns auch Grund zur Freude. Also, versündigen Sie sich nicht weiter am Herrn.“
Das soll der Mürrischen aber ziemlich egal gewesen sein, blieb auch ein paar Wochen danach am Sonntag zu Hause und ließ ihren Adolf alleine zum Sonntagsgottesdienst gehen.
Nun war es nicht so, dass wir anderen im Dorf dauernd lächelnd oder gar fröhlich durch das Dorf liefen. Eher im Gegenteil. Man guckte meist gleichgültig „aus der Wäsche“, lächelte aber bei Begrüßungen oder wenn man jemanden ansah. Nicht über das ganze Gesicht, eher flüchtig. Aber das reichte ja auch. Wir sahen es. Wir wussten es. Es war unsere Form von Nettigkeit und die Art, wie wir Gefühle zeigten. Die Alten natürlich weitaus mehr als wir Kinder, die wir unsere Gesichter noch nicht so unter Kontrolle hatten, was besonders beim Lügen ärgerlich war.
Die Mürrische aber war anders, mehr verschlossen, mehr mürrisch, abweisend, bisweilen finster blickend, egal ob sie jemanden sah, ob fremd oder bekannt und verwandt.
Wir Kinder haben sie nie lachen gesehen und die Alten im Dorf behaupteten, sie ebenfalls nicht. Schon da nicht, als die Eltern von der Mürrischen noch am Leben gewesen wären.
Andererseits haben wir sie nie schimpfen gehört oder keifen, wie wir sagten. Die Mürrische machte einfach nur jeden Tag ein Gesicht, als wäre ihnen ein Ferkel verreckt oder der Hagel in die Getreideernte geschlagen. Und das immer und überall, auch auf der Kirmes und dem Schützenfest. Es gibt sogar ein Foto von ihr, da war ihr Adolf Schützenkönig geworden und sie steht neben dem freundlich lächelnden Adolf, hat ihre Mundwinkel herunter gezogen, die Augen zusammen gekniffen und steht, als hätte ihr der Adolf den Besen hinten als Stütze fest getackert.
Ansonsten war nichts Böses über sie zu sagen und auch ihre Kinder beklagten sich nie über ihre Mutter. Wahrscheinlich fiel es ihnen auch nicht auf, weil sie die Mutter ja nie anders kennen gelernt hatten.
Eines Tages aber waren sie und der Adolf sehr traurig. Die Mürrische war von einem Idioten aus der Stadt mit dem Auto überfahren worden, als sie gerade mit ihrem Fahrrad vom Feldweg in die Landstraße einbiegen wollte. Sie starb wohl noch dort, vor dem Auto auf den Schottersteinen.
Zur Beerdigung kam natürlich das ganze Dorf und der Pastor wusste viel Gutes über sie zu sagen. Jetzt war sie plötzlich doch die Fehrens Maria und keiner von uns wird wohl vergessen wie Uppschultes Adolf weinte und weinte, während des Trauergottesdienstes und den ganzen Weg hinter dem Sarg zur Grabstelle auf dem Waldfriedhof, dort weiter schluchzte und zuckte, bis ihm die Knie nachgaben und er nur deshalb nicht zu ihr in das Grab fiel, weil seine Brüder ihn sofort festhielten und stützten.
Das geschah zu der Zeit, da wir Kinder am Tisch uns schon trauen konnten etwas zu fragen und darum fragte ich meinen Vater, warum Uppschultes Adolf denn so fürchterlich geweint habe, obwohl die Frau doch so entsetzlich mürrisch gewesen sei und hässlich obendrein, denn das war sie, zumindest in unseren Kinderaugen, auch noch gewesen: dürr, knochig, mit großer Nase und Buckel.
Vater antwortete nicht gleich, sah uns nur traurig lächelnd an, versprach dann, am Abend zu antworten, sah dabei die Mutter an, als brauche er dafür ihre Genehmigung und die nickte.
Am Abend trafen wir uns in der Küche, diesmal nicht um 66 zu spielen sondern mehr zu erfahren über die Mürrische. Was aber der Vater dann erzählte, war etwas ganz anderes, als wir erwartet hatten. Dachten wir doch, ein schlimmes Erlebnis habe die Frau so geschaffen, oder der Adolf hätte ihr vielleicht viel Kummer bereitet so wie Klassens Bernd Trackens Johanna mit seiner Sauferei.
Der Vater wusste von einem Gespräch zu berichten mit dem Adolf am Abend genau des Schützenfestes, an dem Adolf Schützenkönig geworden war. Die Männer hätten wie immer viel getrunken und im Suff plötzlich über die Mürrische geredet und Adolf deswegen aufgezogen bis der Adolf zugeschlagen habe und es zu einer der üblichen Kloppereien gekommen war, wie es bei den Schützenfesten auf allen unseren Dörfern immer wieder vorkam.
Vater hatte Adolf danach zu dem nach Hause gebracht, wo die Mürrische schon geschlafen hätte. Und da hätten sie noch ein wenig in der Küche gesessen und zwei oder drei Gläser Schnaps getrunken und geredet. "Na, wenn das nich'n paar mehr wesen!" warf Mutter grinsend ein.
Wir horchten still und gespannt, kannten es nicht anders, als das die Geschichten weit vorher begannen und das, um das es eigentlich ging, erst ganz spät am Ende kam und das das so war, damit jeder genau alles vor sich sah, jeden Nachbarn, jedes Gehöft und die Zeiger der Zeit in den großen Pendeluhren der Wohnstuben.
Vater nannte selbstverständlich alle Beteiligten der Klopperei und auch die, die nur rumstanden und Mutter ergänzte ihn. Dabei durften verwandtschaftliche Hinweise und Nebengeschichten nicht fehlen, wie die vom Schützenfestaugust, der immer besonders auffiel, aber nur bei den Festen und dort gerne den Kasper und Hanswurst gab oder von unserer Tante Elfriede, „die ja von da wohl ihren Bengel hat, von hinterm Schützenfestzelt, Hinzackers Friedhelm war da wohl bei der dran“.
Uns Kindern war es so recht, hatten wir außerdem doch die Hoffnung so etwas länger aufbleiben zu können, denn vor dem Ende einer Geschichte wurden wir nie ins Bett geschickt.
Vater und Adolf hatte also in der Küche zusammen gehockt, vor ihnen das damals unvermeidliche Fliegengebammel, dass nur zu Festtagen ausgewechselt wurde oder wenn wirklich keine Fliege mehr daran festkleben und verrecken konnte. Sie hatten die Holzläden geschlossen, denn unser Schützenfest fand immer an feuchtkalten Herbsttagen statt, an denen aber noch keiner den Ofen mit den teuren Briketts fütterte. Und da hat der Adolf dem Vater erzählt. Stockend, schluchzend und sich erinnernd.
„Die Maria, ich weiß, ihr nennt sie die Mürrische, alle tun das, und sie weiß das, die Maria. Sie ist nicht so. Es ist halt ihr Gesicht, aber, und das kannste mir glauben, wenn die Maria mal lacht oder sich freut, wenn wir uns mal drücken und so, da hat sie ein Gesicht, Du, das hat keine andere Frau. Wirklich nicht, wenn ihre Augen strahlen geht der Himmel auf, wirklich, und es wird einem warm ums Herz, die Brust, Du weißt schon, und das hat die Maria nur für uns, für mich und die Kinder, denn sie liebt uns. Die Maria hat ein Herz, sag ich Dir, das ist wirklich aus Gold. Für sie ist keine Arbeit zu viel, wenn es nur man für uns ist. Um jeden sorgt und kümmert sie sich. Und wenn sie dann mal fröhlich ist, lächelt, dann ist immer alles gut hier und mögen auch Tage und Wochen, ja Monate bis zum nächsten Mal vergehen, dann ist das egal, weil es ja kommen wird, wiederkommen, ihr Strahlen, ihr leises Lachen, ihre Fröhlichkeit, denn die kommt bei ihr, weißt Du, wirklich von hier, ganz tief aus ihrem Herzen. Nein, sie ist keine Mürrische, guckt halt wie sie guckt, ohne böse Gedanken, ist halt schwer unser Leben, diese ganze Plackerei, da kannste nicht den ganzen Tag lächeln und Leute anstrahlen. Das kannste nicht, sie schon gar nicht. Bei ihr ist immer alles echt. Es gab bisher nie ein böses Wort zwischen uns. Nie. Und ich liebe sie so!“ Und dann hatte der geweint und Vater mit seinen Händen um das Schnapsglas daneben gesessen und ihn heulen lassen. Schließlich habe er dem Adolf die Hand auf die Schulter geklopft und sich davon gemacht in den Regen, der in der Nacht besonders heftig gewesen sei. Und der Adolf habe eine Weile einen Bogen um den Vater gemacht, weil dem das wohl dann arg peinlich gewesen wäre, die Nacht, seine vielen Worte und das Geheule danach.
Tja, da schämten wir Kinder uns plötzlich ein bisschen, denn uns war klar, dass der Adolf geweint hatte, weil wir zu seiner Maria alle nur die Mürrische sagten und er sie doch so sehr lieb hatte.
Unsere Mutter hat unseren Vater danach lange ernst angesehen und dann gesagt: „Ich hoffe, dass Du Schietkerl über mich auch mal so nette Worte verlierst. Muss ja nicht jetzt sein. Aber wenigstens vor meinem Sarg.“
Vater war verlegen und wir haben zusammen mit Mutter über ihn gelacht. Jedenfalls, so war das mit der Mürrischen in unserem Dorf damals.
Ich suche noch heute in den Augen meiner Frau, denn natürlich bin ich längst verheiratet und Silberhochzeit war auch schon, nach diesem Lächeln, dieser Fröhlichkeit die der Adolf bei seiner Maria erlebt hatte, die den Himmel bringt und das Herz ganz warm macht. Und wenn es dann geschieht, verstehe ich ihn und habe das Gefühl zu schweben. Als ich meiner Frau das mal erzählt habe, schüttelte die nur den Kopf und meinte: „Was bist Du‘n für‘n Döskopp!“ Aber das meinte sie nicht so, wie die Mürrische damals ihren Gesichtsausdruck ja auch nicht so gemeint hat.
Der älteste Uppschulte, der Heinz, der jetzt mit der Fehrens Gritta, der hat später auch noch mal ne Klopperei angefangen, als mal wieder das Wort "die Mürrische" fiel, aber danach hat sie nie wieder jemand im Dorf so öffentlich genannt und der Adolf ruht ja auch schon lang neben ihr auf dem Waldfriedhof.

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