Sonntag, 28. April 2013

Eine Bergfabel



Sie trafen sich im Tal, verliebten sich, kamen zusammen, was durchaus ungewöhnlich war, kam er doch von da und sie von dort, zogen zusammen, wo sich ihre Wege gekreuzt hatten, los auf den Berg, den höchsten, den sie finden konnten.

Sie dachten, nur der könne ihrer Liebe angemessen sein.

Unterwegs hinkte sie, stürzte er, lagen beide flach auf dem Bauch, auf dem Rücken, die Sterne zu schauen oder das Spiel der Sonnenstrahlen an den Hängen, in den Blättern der Baumkronen oder Büsche. Zogen trotzdem immer weiter hinauf, eine Rast hier, eine da, mal schnell, mal langsam, gingen dabei mal tage-, ja wochenlang gar nicht weiter.

Wie es ihrer Liebe entsprach, stellten sich unterwegs Kinder ein, drei an der Zahl, trugen sie, zeigten ihnen Stock und Stein, halfen ihnen, drückten von hinten, zogen von vorne, immer den Berg hoch. Jahr um Jahr, bis sie alt geworden, grau ihr Haar.

Da sagten die Kinder ihnen, es sei genug. Sie sollten nun hier oben rasten und so taten sie, bewunderten das Tal da unten, die anderen Berge rings um, den Himmel über ihren Köpfen und sagten sich, dass sie es weit gebracht hätten und für die Kinder nun nicht mehr so lang der Weg sei. Und starben mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht.

Traurig schulterten ihre Kinder sie und trugen sie Jahr um Jahr zurück in das Tal, um sie dort zu beerdigen.

Der Dorfvorsteher aber schaute traurig ob ihrer Tat und fragte sie, ob sie denn gar nichts verstanden hätten, warum sie denn die beiden nicht dort oben bestattet hätten.

„Ohne kirchlichen Segen?“ fragten sie entsetzt.

„Meine Kinder, dafür wären sie aber dem Himmel dort doch viel näher gewesen als hier unten!“

Da sahen sich die Kinder betreten an. Bis der Älteste trotzig rief: „Aber wir, wir haben doch wohl auch das Recht auf einen eigenen Berg?!“

„Ja,“ antwortete der Vorsteher ihm milde:“gewiss, aber was braucht es dafür Eure beiden Alten hier unten? Die müssen Euch nun von unten, statt wie sie es wollten, von oben Euch dabei zu sehen, liegen hier nah bei der Hölle statt dort nah beim Himmel.

Und Ihr? Ihr werdet Stück für Stück Euch von Ihnen entfernen und schon bald sie aus den Augen verlieren.“

„Ich nicht“, rief da der Jüngste, „ich bringe sie zurück nach oben. Das wird jetzt mein Weg.“

So geschah es und bald schon sahen sie sich nur noch von Weitem, konnten sich kaum noch erkennen, nur als kleine schwarze Punkte an den Berghängen. Aber verloren sich doch nie dabei aus den Augen und stiegen hinauf, fanden die Liebe, verloren sie auch, bekamen Kinder und stiegen aufwärts bis auch ihre Zeit gekommen war. 

Der Jüngste aber hatte die Eltern so ins Grab gebracht, dass alle immer einen Blick während ihres Aufstiegs dorthin werfen konnten.

(c) Bild (Blick vom Wendelstein)  + Text: Jörn Laue-Weltring

Keine Kommentare: