Samstag, 8. Juni 2013

Der Digitalisierer



Gekauft hatte ich ihn schon vor langer Zeit, eines Tages während des Wochenvorrateinkaufs bei einem der Discounter mit Sonderangeboten der Woche, die sich sehr zum Leidwesen meiner Frau, Lebensgefährtin, besten Freundin und was nicht alles noch mehr, im Keller stapelten, dort die eigentlich aus unserem Wohnleben ausrangierten Schränke und Regale füllten. Manches davon, das kann ich hier zu meiner Verteidigung anführen, stammte aus den Nachlässen unserer Eltern und insbesondere aus dem Fundus meines Vaters, der offensichtlich parallel zu mir und auch völlig unabhängig von mir zu den gleichen, unwiderstehlichen technischen Geräten gegriffen hatte, die angeblich das Arbeiten im Garten leichter, den Computer besser und die Wohnung schöner machten.

Das Gerät damals war klein, weder bei den geerbten noch bei den bereits von mir erworbenen Schätzen, war der neuen Zeit angemessen, ja, ein Verwandler von alter in neue Zeit, hieß deswegen wohl auch schlicht und einfach „GENIE“, alles in Großbuchstaben, als wäre der Hersteller unsicher ob wir Kunden nicht bei der Schreibform in Kleinbuchstaben das „GENIE“ einfach übersehen oder nicht für erstrebenswert halten.

Klein also, ein GENIE, ein „Dia-Film-Scanner“ auf den ab Eintritt in unser Haus hunderte, vielleicht tausende von Dias warteten, auf ihre Wiederbelebung und Reise in das digitale Zeitalter. Zu meinem Unglück hatte ich eigentlich nur Margarine, Dosenmilch und Mineralwasser einkaufen, auf gar keinen Fall schon wieder eines dieser Teile aus dem Wunderland der Elektronik kaufen sollen. Und so kam es, dass ich ihn erst einmal in einem der Schränke verschwinden ließ, in die sie, meine Geliebte, Frau und Wegbegleiterin, Mutter unseres Sohnes und viel mehr, so gut wie nie hineinsah.

Monate später sah ich ihn zufällig wieder, befreite ihn samt Beipackutensilien aus der Verpackung, beschloss es mit ihm und den Dias bei nächster Gelegenheit zu versuchen, verstaute alles wieder, damit er für sie weiterhin unsichtbar bliebe, vielleicht eine Möglichkeit für eine Geburtstagsüberaschung.

Dieses „demnächst“ entpuppte sich dann als ein ganzes Jahr, wonach er mir während der alljährlichen herbstlichen Aufräum- und Aussortierungsaktion wieder in die Hände fiel. Ich ersparte ihm natürlich das Kellerschicksal und nahm mir fest vor ihn nun wirklich endlich ein zu setzen. Und kaum hatte ich durch eine Krankheit mit längerem Hausaufenthalt den genügenden Freiraum und natürlich Zeit, holte ich ihn hervor, las mich in das „Instruction manuel“ ein, stellte gleich zu Beginn fest, dass kein Stromadapter fehlte, was ich eigentlich befürchtet hatte, taten doch schon zwei Video-Kameras und ein Akuschrauber aus diesem Grunde nicht mehr, sondern es sollten zwei Schienen dabei sein, auf denen Dias oder Filme in den „GENIE“ eingeführt werden konnten zwecks der Virtualisierung ihres in den letzten Jahrzehnten wahrlich schnöden Daseins. Und genau diese Schienen lagen nicht dabei, nur in meinem Gedächtnis als ein schemenhaftes Bild von der Aufräumaktion, leider ohne Schlussbild, wo sie denn gelandet sein könnten. Die schmale Reinigungsbürste hingegen, ein Teil, dass ich schon öfter verwundert in der Hand gehalten hatte, ohne jede Ahnung was das sein sollte und wozu gehörig, lag in der Nähe des GENIE auf dem gleichen Brett im Schrank. Also ging das übliche Großsuchen los, bei dem ich wieder einmal die Freude hatte, allerlei längst Vermisstem wieder zu begegnen und manchem, von dem ich gar nicht mehr gewusst hatte, doch noch oder überhaupt davon Besitzer zu sein. Aber als ich glücklicher, über alle Maßen erleichterter Mensch am Ende der Woche zufällig diese Schienen in die Hand bekam, war jede Chance für einen Einsatz des kleinen GENIE vorläufig vorbei. „Vorläufig“ belief sich auf ein gutes Dreivierteljahr, da erwischte mich meine Jahresgrippe und so konnte ich mich hustend, mit tränenden Augen und vom vielen Schnäuzen nassen Händen endlich mich wieder an den GENIE machen.
Dieses Mal war alles beisammen und froh darüber installierte ich erstmal gemäß „instruction manuel“ die Software, die sich zwar mit einer Fehlermeldung, dass sie etwas nicht konnte und ihr fehle, aber doch zügig darauf als „icon“ auf meinem Desktop einfand.
Gewöhnliches Doppelklicken, sofort sprang ein Bild mich an, verschwand wieder und das war es. Nichts weiter geschah. Alle meine Versuche von anderen Programmschwierigkeiten unter lauten Flüchen, Verzweiflungen über das Leben und die Ungerechtigkeit sowie Unzuverlässigkeit moderner Technik ausgerechnet immer bei uns her gespeichert halfen nichts.
Also, alles noch einmal Installieren. Und oh Wunder: es lief, jetzt kamen genau die Bildchen wie im „manuel“ blassfarben abgebildet, nur dass ich natürlich beim „Kalibieren“ schon verbotener Weise die ersten Dias eingeführt hatte und somit die Bilder eher aussahen, wie die ersten Bildverwandlungen unseres Sohnes mit Photoshop. Aber danach, also nach dem Kalibieren ohne Dias im Schacht, lief alles wie gewünscht.
Nur dass die Mutter unseres Sohnes, meine Geliebte, Freundin, Wegbegleiterin, Ehefrau und noch viel mehr, das häusliche Arbeitszimmer betrat, dass mir zugestanden wurde als Räucherkammer und Platz für all das, was ich meinte nie wegwerfen zu dürfen oder unbedingt für mein Seelenheil hier hinein tragen zu müssen. Sie sah mir über die Schulter, geschickt am kleinen GENIE vorbei zu den Diakästen und kommentierte, wie zu erwarten war, aus ihrer Weltsicht heraus: „Was gibst Du Dir damit noch so viel Mühe? Wenn wir seit Jahrzehnten die Bilder nicht mehr angesehen haben, werden wir das doch auch in Zukunft nicht tun?!“
Erleichtert darüber, dass sie kein Wort zum kleinen GENIE sagte, antwortete ich ihr einfühlsam, selbstbewusst und ganz liebender, fürsorglicher Ehemann, Freund, Geliebter, Vater unseres Sohnes und viel mehr, mit all dem, was mir dazu einfiel.
Dass wir die Bilder ja nur deswegen nicht mehr angesehen hätten, weil es mit dem Aufbau des Diaprojektors und der Leinwand immer so viel Mühe machte und auch nicht wirklich gut in unserer guten Stube aussah und es mittlerweile peinlich war, Dias zu haben und alle nur genervt gewesen wären von langweiligen Abenden mit Urlaubsdias, jetzt aber, in unserem Alter es doch trotzdem sehr schön und wichtig für unsere Psyche wäre, unsere Zeit in Bildern wieder mal an zu sehen, all die Momente, die unser Leben gestaltet, geformt, geprägt hätten.
Es war ein guter Tag. Sie gab mir ihr Einverständnis mit den Worten:“Dann können diese hässlichen Kästen auch endlich aus meinem Arbeitszimmer verschwinden.“
Tapfer legte ich jeweils drei Dias in die Schiene, schob diese nach und nach durch den GENIE und gab erst weit nach Mitternacht auf, nach 356 Dias immerhin, schaffte die ersten Kästen, immer noch grippig blökend, schniefend, nassnasig aber dafür nun stolz in den Keller, denn gleich in den Müll, das traute ich mich nicht, wie üblich, ließ hundemüde wie ich war den PC laufen und legte mich herrlich müde und zufrieden ins Bett.
Am nächsten Morgen war sie vor mir aufgestanden, jedenfalls lag sie bei meinem Erwachen nicht mehr neben mir im Bett. Dafür hörte ich komische Geräusche vom Flur, die mich sofort aus dem Bett in den selbigen trieben und vor dort zur Quelle, in mein Arbeitszimmer. Sie weinte tatsächlich. Sie, meine Ehefrau, Mutter unseres Sohnes, beste Freizeitkameradin, Geliebte und noch viel mehr, saß vor dem Computer und weinte laut mit allem Drum und Dran wie anfallartigem Schulterzucken, lauten Schniefgeräuschen und auf und abschwellendem Heul- und Schluchztönen. Ich trat leise auf sie zu, legte vorsichtig meine Arme um sie und sah auf den Bildschirm. 
Dort lachten wir beide, Arm in Arm, im wahrsten Sinne des Wortes lauthals, entsprechend verzerrten Gesichtern, aber mehr als fröhlich und irgendwie auch richtig glücklich, völlig losgelöst von der Erde, dem Lebenstrott mit seinen Nicklichkeiten und Hürden.
Sie drehte mir ihr Gesicht zu und lächelte, sagte nur „Da!!“ und schmiegte sich an mich wie lange nicht mehr. Ja, „Da!!“.
Dank GENIE sahen wir das Bild, unser Glück in einem wahren Moment der heiteren Zweisamkeit. Da passte kein Seidenpapier mehr zwischen uns, so nah und innig waren wir auf dem Bild. Es brachte mir die schönsten und gewaltigsten Freudentränen, die ich je erlebt hatte und ein wunderschönes Wochenende mit vielen altern Bildern, uns unser altes Leben zurück in vielen kleinen, längst verdrängten Puzzleteilen.
Aber vor allem das eine Bild brannte sich auf unseren eigenen, nicht durch Discounterangebote „tun-“ oder „optimierbaren“ Festplatten tief und fest ein.

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