Daran
kann ich mich noch genau erinnern: Es war der dritte Tag mit unglaublicher
Hitze und das Land verfärbte sich bereits in trockengelb und –braun nach den drei
Wochen davor mit nur Sonnenschein und ohne einen Tropfen Regen.
Ich
hatte einen möglichen neuen Kunden in dem Dorf hinter mir, mehr gab es da nicht
für mich zu holen, ging durch die Neubausiedlung für Pendler der nahen
Kreisstadt bis zur Dorfstraße und auf ihr an der Kirche vorbei zurück zu meinem
Wagen.
Ich
parke gerne etwas weiter weg, so habe ich wenigstens etwas Bewegung und kann
mir die Umgebung ansehen, mich so ablenken und Kraft tanken für den nächsten Kunden.
Dieser
hier am Ende einer Sackgasse mit 30-Zone-Buckeln, nannte einen ordentlich
gestriegelten Vorgarten und einen eben solchen hinter dem geklinkerten Haus sein
eigen, war gemäß der aktuellen Möbelhausprospekte eingerichtet gewesen, er hatte
aber trotzdem beteuert, dass er mein Kunde leider, leider nicht werden könne, denn dafür
reiche es bei ihm zur Zeit nicht, auch wenn er, natürlich, es gerne gewollt
hätte.
Das
Dorf hier hatte die letzten Jahre und das Raussterben der alten Besitzer sichtbar
kräftig genutzt für eine Aufhübschung ihrer Fassaden. Die strahlten jetzt in
der Hitze besonders grell und weiß zwischen den dunklen Fachwerkmustern. Überall
zeigten die Wahrnehmungen der jahreszeitlichen Angebote umliegender Gärtnereien
ihre Blüten und Blätter, schienen aber in Froststarre verfallen zu sein trotz
der Hitze, duckten sich in der schweren Luft, in der ich bald schon meinte, zu wenig
atmen zu können und so fuhr ich zu einer Anhöhe, auf der ich eine Bank unter
einer alten Eiche von Ferne gesehen hatte.
Hier
wollte ich durchatmen und den Schatten genießen.
Allein:
der Schatten reichte nicht, auch war kein Wind da und so schwitzte ich auch
dort weiter.
Ich
zog den Laptop aus der Tasche und nahm mir meine Ergebnisse der Woche vor.
Immerhin war schon Donnerstag, aber das was ich da fand: es reichte nicht. Wie
schon so lange.
Es
reichte nicht, endlich einmal das Konto wieder glatt zu bügeln, nicht mir einen
Urlaub zu ermöglichen, ja nicht einmal für einen guten Abend beim Italiener
reichte es diese Woche.
Dafür
spürte ich plötzlich feine Tropfen auf meiner Hand, so dass ich den Laptop
schnell wieder in der Tasche verstaute und als ich mich danach umsah, zu dem
Feld mit dem hochstehenden Mais, das sich von hier bis runter zum Dorf schmutzig
grün und gelb ausbreitete, sah ich einen zarten Schleier aus langsam fallenden
Tröpfchen und eine Stimme neben mir brummte:
„Es
reicht nicht!“
Erschrocken
drehte ich mich in die Richtung des Gehörten. Ein älterer Mann mit dickem Graubart
stand da neben der Bank, auf einen rotbraunen Stock aus Holz gestützt, wie man
ihn früher zum Wandern benutzte. Aufgrund seiner Kleidung, er trug eine vom Waschen
verblichene wohl ehemals blaue Latzhose und darüber trotz der Hitze eine
dunkelgrüne Allwetterjacke, nahm ich an, den Bauern des Maisfeldes vor mir zu
haben.
Wie
hatte der sich nur so anschleichen können? Einen Moment lang schlug mein Herz
viel zu kräftig und von irgendwoher in meinem Körper kam noch mehr Flüssigkeit
heiß mir über die Haut gekrochen. Ich versuchte mich zu beruhigen, fragte ihn
leicht verärgert:
„Was
meinten Sie?“
„Es
reicht nicht. Sehen sie die kleine graue Wolke da oben, “ er zeigte mit dem
Stock in den Himmel, wo einsam und alleine eine kleine graue Wolke über uns schwebte.
„Das
ist sie. Die Alte „Es reicht nicht“!“
Ich
muss ihn wohl sehr verwundert angesehen haben, denn er begann sofort mir seine
Worte zu erklären.
„Wissen
Sie, da unten, bei uns im Dorf, da hat sie gelebt, die Frau. Jeder kannte sie
und nannte sie so.
Und
das hatte seinen Grund und wie, sie werden es sehen.
Diese
Frau ging zum Beispiel in ein Textilgeschäft, ließ sich alle möglichen Blusen
oder Röcke vorlegen, probierte sie an, nur um zum Schluss ihre Geldbörse aus
der Handtasche zu ziehen, sie auf zu klappen und hinein zu sehen, dann zur
Verkäuferin zu sagen: „Sehen sie, es reicht nicht!“ Dann ging sie raus, ohne
etwas zu kaufen. Weil sie das so oft tat, holte die Chefin des Ladens schon
mal, kaum dass die Alte das Geschäft betreten hatte, ein aussortiertes
Kleidungsstück aus dem Lager, in ihrer Größe, denn die kannten alle
Verkäuferinnen mittlerweile auswendig, und schenkte es ihr.
Oder
am Samstag auf dem Markt, da nahm sie das Obst in die Hand, drückte es, legte
es zurück und nahm ein anderes. Wenn der Standbetreiber sie aber ansprach, was
sie denn nun kaufen wolle, holte sie wieder ihre Geldbörse aus der Tasche,
öffnete sie, sah hinein und sagte: „Es reicht nicht“. Da griff schon der eine
oder andere, um sie daran zu hindern sein Obst anzupatschen und zu drücken,
eine dafür schon gleich zu Beginn des Marktes gefüllte Tüte mit nicht mehr ganz
taufrischem Obst oder mit den Früchten, die bereits kleine Stellen aufwiesen
und schenkte ihr diese.
Nun
trieb sie es ebenso in der Kreisstadt, dort in den Reisebüros, wo sie
tatsächlich dann mühsamst für sie gesuchte Reisen aus Gewinnspielen geschenkt
bekam, in den Banken, wo sie sich für Geldanlagen beraten ließ und schon mal
einen Schein verlegen zugesteckt bekam, ja sogar im Tabakladen, wo sie sich
bezüglich Zigarren und Pfeifen beraten ließ und gelegentlich mit solchen
beschenkt, den Laden verließ.
Kein
Mal aber bedankte sie sich, schaute nur traurig, so traurig, dass es den Leuten
fast das Herz brach und sie sich schämten, so ungeduldig im Umgang mit der
Alten gewesen zu sein.
„Es
reicht bei ihr eben nicht“, sagten sie und „arme Alte! Wer weiß was für ein
schlimmes Schicksal dahinter stecken mag.“
Die
Frau war bei ihren Ausflügen stets ordentlich gekleidet, mit der Zeit aber fast
nur noch in den Geschenken der Umgebung. Darunter waren auch Sachen, die in
anderen Dörfern in die Altkleidersammlung kamen, inklusive Schuhe, Brillen,
Handtaschen. Auch erhielt sie elektrische Geräte und Möbel, was man bei uns
nicht mehr zum Sperrmüll stellte sondern zu ihr brachte und sie sortierte für
sich dann aus.
Und
am Sonntag, wenn der Klingelbeutel in der Kirche rumging, tat sie es auch, zog
ihre Geldbörse hervor, öffnete sie umständlich, sah hinein, sagte „Es reicht
nicht!“, bis die Nachbarn links und rechts von ihr für sie ein paar Münzen
hineinwarfen.
Wenn
sie Besuch bekam, ging sie mit dem in die Küche, öffnete die Kaffeedose, zeigte
sie dem Besuch und sagte auch wieder: „Es reicht nicht!“ Was natürlich dazu führte, dass jeder, der sie
warum auch immer besuchen kam, Kaffeepulver und Kuchen, bisweilen sogar ganze
Mittagsgerichte mitbrachte.
Bald
schon hieß sie bei uns nur noch die „arme alte Frau - es reicht nicht“. Und
keiner konnte sich noch daran erinnern, wie sie war, bevor ihr der Mann
verstarb, auf jeden Fall aber noch nicht mit dieser Tour und ihrem bald fast
schon gefürchteten Gesichtsausdruck. Es gab sogar welche im Dorf, die meinten
von ihr geträumt zu haben und das sei nicht angenehm gewesen. Auch hätte man
sofort ein schlechtes Gewissen bei ihrem Anblick und manchmal ließe einen das
den ganzen Tag nicht los.“
Dann
schwieg der Bauer und sah zur Wolke, dann freundlich lächelnd, dabei seinen Kopf
leicht nickend, zu mir hin.
Ich
sagte: „Unglaublich!“
„Nicht
wahr! Aber was meinen sie, was geschah, als die Frau starb?“
Ich
zuckte mit den Achseln, dachte mir aber mein Teil. Und tatsächlich sagte der
Mann:
„Die
Frau war stinkreich, überall hatte sie Geld versteckt, tausende an Tausendern,
eine richtige Millionärin war die, wenn auch in D-Mark, die damals gerade
abgeschafft worden ist. So etwas hatte noch keiner von uns hier je gesehen oder
gehört.“
„Das
ist ja dreist!“
„Nicht
wahr. Aber was meinen sie, was geschah als die Frau in den Himmel kam?“
Wieder
zuckte ich mit den Schultern. Im Himmel kenne ich mich erstens nicht so recht
aus und zweitens, war mir schleierhaft woher der alte Bauer davon wissen
wollte.
„Tja,
dann will ich ihnen das auch erzählen. Da stand die vor Gabriel, dem Erzengel,
wissen sie und der sah die Frau lange an, las in seinem dicken Buch, sah sie
an, las, bis sie nicht mehr länger warten mochte.
„Was
ist denn nun! Kann ich endlich rein?“ quängelte sie.
Der
Gabriel schüttelte seinen Kopf, sagte dann mit leiser, betrübter Stimme: „Es
reicht nicht!“
Und
jetzt glauben Sie bestimmt, die arme Frau wäre in die Hölle gekommen. Aber die,
junger Mann, wurde schon längst weg rationalisiert. Auch der Himmel muss
sparen. Schließlich werden die Kostgänger dort im Paradies jedes Jahr mehr,
auch wenn wir uns das hier, wie das so bei uns läuft, nicht recht vorstellen
können. Das noch so viele es schaffen in das Paradies, meine ich.
Die
alte Frau stand also verlegen vor Gabriel, wird sich wohl auch vor der Hölle
gefürchtet haben und musste weiter warten. Schließlich hielt sie es wieder
nicht mehr aus.
„Was
geschieht denn jetzt mit mir. Wann kommt der Teufel und holt mich?“
„Teufel?
Resozialisiert!
Meinen
sie wirklich, was ihr auf Erden könnt, bekämen wir hier, im Paradies, nicht
zustande?
Nein,
ich warte auf ihr Wölkchen.“
„Wölkchen?“
„Ja,
so ein kleines graues Wölkchen. Davon haben wir genug, die sind nicht so
energieintensiv wie die Hölle, für deren Feuer reicht es hier oben bei uns schon
lange nicht mehr. In Ihrem Fall habe ich die Anweisung, auf die Kleinste zu
warten. Auf der werden sie dann in Ewigkeit zwischen Himmel und Erde um den
Globus gleiten. Ach, da ist sie ja.“
Gabriel
stand auf und zog die Frau zu einer grauen Wolke, die nicht größer war als eines
ihrer Sitzkissen auf den Küchenstühlen.
„Und
was ist mit meiner Harfe?“
„Harfe?
Dafür reicht es bei Ihnen nicht. Diese Wolke, das ist alles, mehr gibt es
nicht.“
Und
seitdem sitzt die Arme auf diesem grauen Wölkchen und wenn es ihr zu viel wird,
weint sie bitterlich und was Sie hier sehen, sind ihre Tränen. Leider nicht allzu
viele, für die Pflanzen reicht es nicht. Sie sehen es ja, alles verdampft
sofort.“
Und
tatsächlich sah ich einen Hauch von Dampf von dem Feld aufsteigen und dann hörten
die kleinen Regentropfen so plötzlich wieder auf, wie sie gekommen waren. Als
ich mich dem Bauern wieder zuwenden wollte, stand er nicht mehr da, konnte ich ihn
auch sonst wo nirgends entdecken, war verschwunden, wie er gekommen war. Von
mir völlig unbemerkt. Wie ein Geist, aber an die habe ich damals schon nicht
geglaubt.
Es
reichte mir! Ich stand auf, ging zügig durch die pralle Sonne zurück zu meinem
Wagen, schaltete die Klimaanlage an und fuhr zum nächsten Termin, ohne auch nur
einen Blick zurück zum Dorf oder zur kleinen grauen Wolke über mir zu werfen.
Ich habe diese Wolke seitdem auch nie wieder gesehen. Wer weiß, vielleicht
reichte es irgendwann ja doch noch für die alte Frau „Es reicht nicht“ und das
Paradies oder auch ihr Wölkchen ist einfach wegrationalisiert worden.(c) Bild und Text: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013
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