Freitag, 7. Oktober 2011

Die Verwöhnungsfalle: „Alles haben, alles wollen – nichts können.“

 

Die Verwöhnungsfalle

Kinder wollen Regeln, Eltern ihren Frieden. Dr. Albert Wunsch, Autor des Buches „Die Verwöhnungsfalle – mehr Konsequenz in der Erziehung“ sprach zum Auftakt der 2. Lingener Bildungswoche auf Einladung des Ludwig-Windhorst-Hauses. .


Auf der ersten Folie eine Karikatur mit einem Kind, das juchzend an den beiden Nasenringen der Eltern schaukelt. „Alles haben, alles wollen – nichts können.“
Seine Position:
Der Kleine muss selbst Hand anlegen; sollte aber jederzeit Hilfestellung fordern dürfen. Jedoch ohne den verzerrenden Elternanspruch an sich selbst: „Ich helfe, also bin ich.“
Wer als Elternteil die Spannung aushält, einfach mal die Forderungen seines Sprösslings „aussitze“, beweise nicht nur starke Nerven, sondern „coache“ auf diesem Wege auch den Nachkömmling im Durchhaltevermögen, in Toleranz und Rücksicht.
Die beruflich und im Erwachsenenalter gefragten Sozialkompetenzen wie Kreativität, Problemlösefähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Durchhaltevermögen, Mut und Kraft, Zielstrebigkeit und Teamfähigkeit seien bei vielen jungen Menschen unterentwickelt und nicht „abrufbar“
Wer jeden Wunsch erfüllt - am besten jetzt und sofort - und Aufgaben oder Konflikte für andere löst, der verwöhne. Und wer sämtliche Unannehmlichkeiten von Kindern fern hält der nehme ihnen die Chance, die im Leben notwendige Konfliktfähigkeit zu erlernen und eine eigenverantwortliche Persönlichkeit zu werden.
Albert Wunschs ZEIT-Artikel »Droge Verwöhnung« löste ein gewaltiges Medienecho aus. Die Resonanz reichte von begeisterter Zustimmung bis empörter Ablehnung. Er zeigt, dass Verwöhnung in der Erziehung (z. B. Erfüllung aller Wünsche – und zwar sofort, ständiges Verhätscheln, Inkonsequenz, Konflikte für ein Kind lösen) die Fähigkeit gefährdet, später ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Dieses nicht am Kind orientierte Verhalten unterstützt auf Dauer das Anspruchsdenken, mindert die Kontaktfähigkeit und beeinträchtigt die Willens- und Persönlichkeitsbildung.
Albert Wunsch fordert deshalb, Kindern und Jugendlichen bewusst Herausforderungen zuzumuten, ohne sie dabei sich selbst zu überlassen: Wenn Eltern und Erzieher ermutigen, klare Orientierungen bieten, konsequent sind, Grenzen setzen und wohl wollendes Verhalten zeigen, fördern sie die Eigenständigkeit ihrer Kinder.  
Er weiß humorvoll zu erzählen und anschauliche Beispiele als Grundlagen seiner Thesen an zu führen. Blendet aber die gesellschaftliche Situation dabei aus. Zwar sagt auch er, dass die Politik als Unterstützer versage, dass es bestimmter Rahmenbedingungen bedürfe, lässt aber trotzdem selber die „Erziehenden“ da allein, wo sie Erklärungen bräuchten für ihr Verhalten. So bleibt der Anspruch an sie hängen, was sie besser zu machen, bzw. zu meiden hätten unabhängig von ihrer Situation. Erziehung findet bei ihm nur zwischen Eltern und Kindern statt, andere Beziehungen „sozialisieren“ für ihn nur, erziehen aber nicht.
Jeder erzieht jeden! Nicht erst seit der Aufklärung gehört „erziehen“ zu einem Verhaltensmuster der Menschen, egal ob klein oder groß. Dahinter steckt das Bedürfnis nach Formung des anderen im eigenen Interesse.

Da hilft durchaus Wikipedia weiter: „Erziehung und erziehen (lt. Duden von ahd. irziohan = herausziehen) bedeutet, jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern. Im Allgemeinen versteht man unter Erziehung soziales Handeln, welches bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will, um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens zu erreichen, die bestimmten, vorher festgelegten, Erziehungszielen entsprechen. Allerdings ist dieser Erziehungsbegriff hierarchisch definiert, indem beteiligte Personen Erzieher oder Zögling sind.“ Teile dieser Hierarchie waren jahrtausendelang auch die Geschwister oder anderen Kinder des Stammes, der Siedlung oder der Straße.
Wikipedia versucht sich auch an einem anderen Begriff: „Ausbildung umfasst die Vermittlung von Vermögen, Kenntnissen und Wissen an einen Menschen beliebigen Alters durch eine ausbildende Stelle, bspw. eine staatliche Schule, eine Universität, oder ein privates Unternehmen.“ Demnach findet Ausbildung erst seit der Neuzeit statt. Das halt ich für absoluten Quatsch. Nimmt man die hier genannten Inhalte ohne die genannten Institutionen, so bleibt das übrig, was jahrtausendelang der eigentliche Job der Eltern und Erwachsenen gegenüber ihren Kindern war: nämlich Ausbildung.

Erziehung und Ausbildung sind innerfamiliäre (kann auch Stamm, Gemeinde, Gruppe sein) Formen der Beziehungsgestaltung zu Kindern gewesen. Werte dagegen waren funktionale Verhaltensweisen aller gegenüber allen der Gruppe und Zugehörigkeitsfelder (Religion, Staat, Stamm etc.). Werte stellten bis vor wenigen Jahrzehnten die eigentlichen rechtlichen Grundlagen des Zusammenlebens dar und wurden eingefordert, wurden verankert durch Rituale der Gemeinschaft, abgesichert durch Sonderfunktionen (Priester, Druiden, Medizinmänner).
Jahrtausendelang waren Kinder nur kleine Menschen die sich von den großen Menschen nur durch Größe, Alter und Fähigkeiten unterschieden.
Auch wir heutigen Menschen haben diese uralt Erfahrungen und die damit verbundenen Rollenbilder, Verhaltensweisen und Erwartungen noch in uns. Es wird zu leicht vergessen, wie kurz der Zeitraum der heutigen Verhältnisse mit ihren ganz anderen Anforderungen ist, und damit wie kurz die Zeit sich darauf ein zu stellen und diesem entsprechendes zu erlernen, zu verankern und ab zu sichern. Wir Menschen sind historisch geworden, geprägt und können die Vergangenheit nicht einfach abschütteln. Unsere Verhaltensmuster entstammen gesicherten Erfahrungen vergangener Jahrhunderte. Unsere Psyche rückt ungerne davon ab, so lange sie sich nicht sicher fühlt in neuen Mustern.
So gesehen wäre das „Verwöhnverhalten“, wenn es denn das wirklich gibt, zu untersuchen darauf wie es sich zu den tradierten Verhaltensmustern verhält und inwieweit es Resultat sein könnte auch unabhängig von der jeweiligen individuellen Situation (z.B. Stress, Überforderung).
Bei Wunsch wie überhaupt seit der Aufklärung gibt es den Grundgedanken, dass Erkenntnis weiter zu geben sei und zu pädagogisieren, heißt in einen Erziehungsprozess ein zu bringen. Unsere Lehrer- und Erzieherausbildung geht davon aus, das das richtige Wissen über Ziele und Inhalte und die richtigen Methoden richtig angewendet zum Erfolg führen müssten. Anders gesagt: Misserfolge entstehen durch die nicht konsequente Anwendung des Erlernten.
Bei Wunsch hieße, wer verwöhnt statt fördert, Grenzen setzt, Herausforderungen erlaubt und schafft ist schuld am negativen Ergebnis. Als wäre der Prozess der Heranreifung der menschlichen Persönlichkeit ein einfacher kausaler Prozess.

Ich weiß, dass ich ihm hier etwas unrecht tue, da er sicher auch davon ausgeht, dass andere Faktoren mitwirken und Situationen, Umfeldbedingungen ebenso zu diesem Prozess gehören.
Ein Beispiel: Eltern erleben die Anschaffung neuer Technologien heute vor allem über ihre Kinder. Dies ist ein Prozess der in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals in der Geschichte angefangen hat. Bis dahin entschieden die Erwachsenen über solche Anschaffungen und zwar erst mal für sich und waren auch die „Beherrscher“ dieser neuen Dinge. Das betrifft nicht nur die Anschaffung von Computern oder Handys. Die Automobilwerbung spricht bewusst heute die Kinder an, da sie maßgeblich Teil der Kaufentscheidung über ein neues Fahrzeug geworden sind (nur dass sie das noch nicht fahren können). Kinder zeigen heute ihren Eltern das Arbeiten mit Computern, Fernbedienungen, I-Pods, Internet etc.. War ich noch Lernender und Staunender in der Optikerwerkstatt meines Vaters, staune ich heute über den MAC meines Sohnes und seine Programme darauf. Hier hat eine Umkehrung stattgefunden, für die die Elterngeneration überhaupt nicht vorbereitet ist. Genauso wenig Lehrer und Erzieher.

Aber statt uns damit auseinander zu setzen, reden wir darüber ob und ab wann wir unseren Kindern solche Geräte erlauben, bzw. „schenken“ dürfen oder sollen, wie viel Autonomie wir ihnen bei der Benutzung zugestehen können oder dürfen. Natürlich ist letzteres ein wichtiger Punkt. Gravierender aber ist, dass wir von der handwerklichen Seite her keine Ahnung von diesen Dingen haben und dass unsere Rollenmöglichkeiten gravierend verändert sind, unabhängig davon, was davon wir unseren Kindern selber in die Hände geben.
Die Frage ist also nicht, ob wir unsere Kinder verwöhnen mit dem Kauf der Geräte, sondern wie wir selber auf diese reagieren und uns mit ihnen auseinander setzen.
Fakt ist: wir lassen die Kinder damit allein. Und diese akzeptieren das, da sie ja offensichtlich nicht zu unserem Angebot für sie gehören. Zu sehr machen wir unseren Kindern dies mit unserer Hilflosigkeit gegenüber dem rasanten Tempo auf dem Gebiet deutlich. Wenn meine These stimmen sollte, dass in Wirklichkeit Ausbildung Hauptaufgabe der Eltern war, stehen wir diesbezüglich wohl vor einem Scherbenhaufen. Wir können die klassischen Methoden der Ausbildung nicht mehr anwenden, die uns bisher auch unsere Autorität gesichert hatten: Vormachen, Nachmachen. Wir machen inzwischen nach, die Kinder vor.
Und wie verhält es sich mit der Erziehung? Meine These war ja, das die eigentlich die Herangehensweise Kinder untereinander war: die Älteren erzogen die Kleineren vor allen in Sachen Sozialkompetenz. Durch Vorleben, Einfordern, durch älter werden leicht erklimmbarer Hierarchieleitern. Das neue „Handwerk“ führt zu Vereinzelung. Die Kinder sitzen allein damit rum? Falsch! Sie „vernetzen sich“ und dies permanent. Sie schicken und erhalten SMS, twittern, chatten, spielen im Netz gegen und mit anderen. Sie bilden neue Hierarchien, unabhängig vom Alter der anderen Kinder. Stürmen die Hierarchien und ziehen andere nach.
Was geschieht mit den Werten, den Sonderfunktionen? Sie tauchen in der virtuellen Welt nicht auf. Dafür nutzen andere diese Lücke: Medienstars.

Aber Kinder waren jahrtausendelang auf sich allein gestellt in diesen Fragen und haben sich gegenseitig geholfen in die Erwachsenenwelt hinein zu wachsen. Daher vermissen sie uns auch heute viel weniger in diesem Prozess als wir das gerne haben. Sie machen den Abgleich zwischen der neuen und der wirklichen Welt von alleine. Geben nicht den Fußball auf oder die „Live-Veranstaltung“. Aber uns gegenüber sind sie milde, drücken viele Augen zu, wenn wir mal wieder nichts kapieren. Sie leisten ungeheuer viel. Schaffen es mit der Entwicklung der Technik Schritt zu halten im Gegensatz zu uns Eltern. Hatte die Schule bis vor ein paar Jahrzehnten noch das Monopol auf Lerninhalte und den Vorgang des Lernens überhaupt, so hat sie dies massiv verloren. Schon in der Grundschule bilden sich Kinder in ihrer Freizeit selber aus und lernen tagtäglich dazu, ohne Lehrer.

Sie reagieren ohne Umweg und zielgerichtet auf die Situationen, ohne dafür Akzeptanz oder gar Hilfestellungen von uns zu erhalten. Wie wir das Geld für den ganzen Kram verdienen verheimlichen wir ihnen, da sie keinen Zugang mehr zu unseren Arbeitsplätzen erhalten. Deswegen bin ich auch so für Betriebskindergärten, böten die doch wenigstens eine kleine Chance, dass sie unseren Hauptlebenshintergrund miterleben könnten, nachvollziehen und berühren. Stattdessen kommen wir müde, ausgelaugt, gelegentlich verärgert von der Arbeit, gepaart mit dem schlechten Gewissen, uns nicht genügend um sie kümmern zu können, hängen ab vor der Glotze und entreißen sie ihren Beschäftigungen, weil wir meinen mal wieder einen Ausflug mit ihnen machen zu müssen. Immer mehr Eltern leiden unter Burn-Out, geben wenn sie es denn überhaupt sich eingestehen, der Arbeit die Schuld, was sicher aufgrund der existenziellen Bedeutung und der Gefahr möglicher Arbeitslosigkeit und HARTZ IV, berechtigt erscheint. Die wenigsten aber machen sich klar, dass zu ihrer immer unsicherer werdenden Existenzsicherung die Überforderung in der Familie dazu beiträgt.
Verwöhnen mag ja vom Wort „Gewöhnen“ herkommen. „Sich etwas gutes tun“ (=verwöhnen) und der Familie ist aber eine notwendige Reaktion auf die Situation. Und wer als 11. Gebot postuliert: Du sollst nicht verwöhnen, geht damit an der realen Situation vorbei.
„Alles haben, alles wollen – nichts können“ stimmt also nicht. Das Wollen und Haben lebt die Gesellschaft vor: produktorientiert sind nicht nur die Medien, auch wir unterhalten uns vor allem über Produkte. Da sie in der Kindheit irgendwie immer da waren, können Kinder nicht nachvollziehen, warum das nun plötzlich an ihre Leistung  geknüpft sein soll. Vor allem da sie ja die Meister der Produkte sind und damit natürlicherweise ihre berechtigten Besitzer. Und „nichts können“ geht schon gar nicht. Haben sie doch erlebt, dass ihre Eltern nichts können: zwar so „unwichtiges“ Zeugs wie Abwaschen, Staubsaugen usw. aber nicht das Surfen im Internet oder Warcraft. Es sind die Medien und später die Arbeitsplätze selbst die den Kindern recht geben, Tag für Tag.

Fazit: unsere Fehler in der Erziehung werden Fehler bleiben, egal welchen „klugen“ Ratschlägen wir folgen, so lange wir uns nicht der eigentlichen Situation bewusst werden, einzeln und als Gesellschaft, und die notwendigen Konsequenzen bezüglich der Rückeroberung der Ausbildungsfähigkeit ziehen und diese umsetzen. Wir haben kein Erziehungsproblem. Wir haben ein Ausbildungsproblem. Dort entscheidet sich unsere Akzeptanz. Dass Eltern oder Erwachsene in bestimmten Institutionen erziehen ist ein Märchen der Neuzeit. Und wird es bleiben. Wir haben die Hoheit bei Ausbildung und Lernen verloren. Daran müssen wir arbeiten.

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