"Mein Mann mochte
meine Schwestern nicht." Die Leute überlegen wirklich nicht, was sie auf
der Straße sagen und was sie damit anrichten können. Jetzt musste ich diesen
Satz mit in mein Büro nehmen, obwohl, nur eine Minute später wäre ich vor ihnen
an der Tür und im Haus drin gewesen. Wegen dieser Minute spukt mir nun dieser
Satz im Kopf herum.
Ob der Mann denn die Frau
gemocht hat? Ich sah nur ihr dickes, schwarzes Kraushaar und einen rosafarbenen
Stoffmantel, der ihrer Figur jeden Anflug von Taille raubte. Wahrscheinlich
hatte sie aber auch gar keine.
Mochte sie ihren Mann, der
ihre Schwestern nicht mochte? Ihre Stimme klang gleichgültig, eher wegwerfend
"mochte nicht". Erklärung allen Übels, einer Geschichte, einer längst
vergessenen Tragödie? Vielleicht. Vielleicht auch nur der Versuch, schnell über
einen Graben zu springen, Fragen abzuwimmeln, sich für die Zukunft frei zu
machen.
Irgendeine Schippe
scheuert in der Nähe unseres Hauses auf Sand. Gegenwart.
Der Mann, der die Schwestern
nicht mochte Vergangenheit. Meine Vergangenheit, die sie wegwarf, die ich
auffing, widerwillen, zu überrascht oder unachtsam. Genauso hätte mich auch ein
Auto überfahren können oder ein Fußball am Kopf treffen.
Was fange ich nun mit
seiner Vergangenheit an, mit ihrer, mit meiner?
Er ist aus dem Schneider,
obwohl er wahrscheinlich die Schwestern immer noch nicht mag. Dann wäre meine
und ihre Vergangenheit seine Gegenwart, vielleicht sogar auch noch die Zukunft.
Obwohl, das dürfte ihn wenig behindern, scheint er doch Frau und Schwestern
bereits in der Vergangenheit losgeworden zu sein.
Vielleicht mag er
Schwestern allgemein nicht. Das wäre dann auch ein Problem für ihn. Vielleicht
hatte er selber welche und deswegen genug davon für den Rest seines Lebens.
Oder er war als Einzelkind großgeworden, immer mit dem Neid auf die liebevollen
und geschenkversprechenden Geschwister der anderen.
Und sie? Sie hat
Schwestern, die ihr Mann nicht mochte. Gut, oder auch nicht gut. Auf jeden Fall
hat sie Schwestern, wie ein Haus, wie andere ein Moped oder einen Swimmingpool.
Sie hat sie eben. Sie sind da, durch nichts in Frage zu stellen, schon gar
nicht von einem Mann, der als Fremder dazugekommen ist und nur der Frau diese
Schwestern verdankt. Er gehört nicht dazu, das hätte er erkennen müssen.
Schwestern sind für ihn keine Frage des Mögens oder Nichtmögens. Das geht ihn
nichts an. War es das?
Sie trabte nicht, sie
stolzierte nicht, sie bewegte sich einfach nur vor mir her. Nicht besonders
fest, nicht watschelnd, nicht seicht. Eher unscheinbar, fast nicht gehend, und
doch nicht schwebend. Rollend vielleicht, auf unsichtbaren Rollschuhen mit
Spezialgummi. Vollkommen lautlos jedenfalls. Fast nicht anwesend, nur durch
diesen Satz, ihre vom Wind nicht bewegbaren Haare, ihrem festen, dicken
Wollmantel.
Erlebte er sie auch so?
Waren deswegen die Schwestern wichtig? Wichtiger als sie? Hätte sie, wenn es
oder sie anders gewesen wäre, sonst sagen können: "Er mochte mich
nicht?"
Oder sagt man so etwas
nicht. Immerhin käme das einer Niederlage gleich, einer Aberkennung von Reizen
und Gewinnmöglichkeiten im Geschlechterfressen.
"Er mochte meine
Schwestern nicht." Und ich mag sie nicht. Da mag ich schon eher diese
unablässig schippende Schaufel unter meinem Fenster.
Dieser Satz ist so
einfallslos, so ohne jedes Gefühl, ohne jede Beziehungsgeschichte. Er ist
statisch. Er mochte nicht, Punkt aus. Dazwischen gibt es nichts, kein Ereignis,
kein Geschehen, keine Liebe, keine Stunden der Hoffnung und keine Tage der
Enttäuschung oder des Zorns. Ein Satz zum Wegwerfen, eine Geschichte zum
Wegwerfen.
"Adolf Hitler mochte
die Juden nicht", ein Satz aus einem Schüleraufsatz. Ein ganzes Buch hat
solche Sätze und Schlimmere gesammelt. Zwischen diesem und ihrem Satz liegen
Welten. Ihrer stammt eher aus den frühen Siebzigern, dem Höhepunkt der
Wegwerfgesellschaft. Als man immer noch auch Hitlers "Nichtmögen" am
liebsten dem Sperrmüll übergeben hätte.
Nein, so zynisch oder missverstanden
ist ihr Satz nicht. Ich nehme jedenfalls an, dass ihr Satz nicht bedeutet, dass
er ihre Schwestern umgebracht hat. Ich glaube ihr. Ihr Mann mochte ihre
Schwestern wirklich nicht. Einfach so, wie es eben manchmal Antipathien geben
kann, eine "Chemie nicht stimmt".
So nüchtern betrachtet
gewinnt sie wieder etwas Sympathie bei mir. Warum nicht die Sache so auf den
Kern bringen. Warum lange herum schwätzen? Wen interessieren die durch heulten
Nächte denn wirklich, die Seitengefechte, die ersten Alarmglocken der Beziehung
zwischen ihm und ihr. Es ist vorbei. Er hat sie eben nicht gemocht, die
Schwestern. Da war kein Kraut gegen gewachsen gewesen.
Jetzt müsste ich
eigentlich anfangen können zu arbeiten, diesen Satz zu verlassen, ihn wegwerfen
wie sie. Es geht nicht. Er lässt mich nicht. Er ist wie ein Gesicht, das immer
wieder auftaucht, sogar in den Träumen des nächtlichen Schlaflagers.
Andererseits übt er keinen
Zwang aus. Er ist einfach da, wie ein weggeworfener Stein, den ich als Junge
vom Weg aufhob und jahrelang bei jedem Umzug mitnahm und immer wieder in das
Regal legte. Ich musste ihn nicht aufheben, noch weniger ihn immer wieder
mitnehmen und zur Schau stellen. Ich tat es trotzdem. Ein angenehmer Begleiter,
der selber keine Fragen stellt und mir andererseits alle Fragen an ihn erlaubt.
Ein Satz wie ein Stein,
wie ein Gesicht aus Stein, ein Marmorsatz, vielleicht auch aus Elfenbein.
Elfenbein wäre schlimm, ist so ein Satz wie "Hitler mochte die Juden
nicht", zynische Harmlosigkeit über Massengräbern.
Geschnitzt oder gemeißelt,
gelogen oder wahr, und wenn es doch etwas dazwischen gäbe?
Vielleicht mochte er die
Schwestern nicht, weil sie so albern waren, weil sie sich in jede Eheszene
hineindrängten und hineinhängten und seine und ihre Beziehung solange
auswrangen, bis sie gänzlich vertrocknet war.
Oder er mochte die
Schwestern nicht, weil sie ihr jeden Freiraum nahmen, Hemmungen und Skrupel in
ihr anhäuften, sie nie aus den Familienfesseln frei ließen, weil sie ihre
eigenen Eheenttäuschungen in seine Ehe einbrachten, ihr Misstrauen, ihre
Frigidität, ihre eigene Angst erwachsene Partner ihrer Männer zu werden.
Vorstellbar, wie aus dem
Bilderbuch einer Vorabendserie bei den Öffentlich-Rechtlichen. Da hieße es dann
aber "Wie gut, dass es Maria gibt", die dann käme, oder diese nette
große, hübsche Nonne, die Frau und Mann zart und dezent aus den Klauen und
Krallen der Schwestern befreien würde und wir alle hätten hinterher was zu
lachen. Die seelenhabgierigen Schwestern würden dem Spott freigegeben und ohne
ihr Opfer in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vor uns dastehen, wie hässliche Landmädchen,
die man zur Gaudi der Betrunkenen zum Striptease gezwungen hat.
Wenn die Geschichten des
Lebens doch so einfach wären.
Vielleicht ist es diese
trotzdem. "Mein Mann hat meine Schwestern nicht gemocht." Nichts ist
kompliziert und nichts so hässlich und dramatisch verlaufen, im Prinzip also
sogar eine gute Geschichte mit Happy End.
"Es hat nicht sollen
sein" und sie und ich wissen nun Bescheid und haben den Schlussstrich gezogen.
Warum noch hinterher weinen oder gar hassen und schmähen und schmutzige Wäsche
waschen. Die Welt ist voll davon. Da braucht es diese Geschichte nicht auch noch
dazu.
Warum noch grübeln,
zweifeln, Gründe rauf und runter klappern, Irrwege betreten, die Seele mit
unnützen Fragen und Wenn’s und Aber belasten. "Wenn de Hund nit schieten
ha, dann has och nich stunken", pflegte meine Großmutter immer zu sagen.
Ihr käme der Satz gelegen. Sie liebte auch diese kurzen Erklärungen. "Die
hat was smekt" zum Beispiel. Damit meinte sie ihre Stieftochter, die mit
einem "Säufer" davongezogen war und nur noch ab und zu ihr zurückkam,
wenn sie allzu "grün und blau geschlagen" worden war. "Die hat
was smekt." Die war sexuell hörig geworden, meinte Großmutter damit. Eine
andere Erklärung konnte es für diese Beziehung nicht geben. Die Tochter kam
erst frei, nachdem er am Suff krepiert war.
Aber es war eine andere
Welt, aus der Großmutter erzählte. Eine Welt mit elend kleinen Bauernhütten,
Häuslerhäusern, ohne Strom und Gas, ohne Fernseher oder Autos, ohne Discos oder
Nintendo-Gameboy-Super-Mario. Ohne unsere heutigen Kinderstuben also, als das
Wort „Kinderstube“ noch gute Erziehung meinte und nicht Tummelplatz von Hundertschaften
an Plastikfiguren. Man schlief, man arbeitete. Gab es nichts zu tun, was vor
allem im Winter mal vorkam, saß man in der Küche und wärmte sich die nass harte
Kleidung am Ofen. Da hatten andere Sätze keinen Sinn.
Aber heute, im 3.Stock
einer Genossenschaftswohnung? Ich weiß nicht warum, aber sie sah danach aus.
Oder nach Mehrfamilienhaus im Nachbardorf mit Bushaltestelle für die Pendler
vor der Haustür und zweimal Schulbus am Tag?
Vielleicht mochten die
Schwestern ihn nicht, weil sie keine Veränderungen mochten und er war eine
Veränderung, nicht nur für das Leben ihrer Schwester.
Vielleicht störte er ihre
Rituale, brachte zu viel von der neuen Welt in ihre mit eigener Hand umgebauten
oder angebauten Häuslerhütten, oder ihre stolz quadratisch, praktisch gut und
weiß getünchten kleinen Arbeiterhäuser, wie sie millionenfach die rechteckig
angelegten Siedlungen füllen. Vielleicht war es auch nur ein zu viel der
Veränderung oder befürchteten sie bei ihrer Schwester ebenfalls nur, dass
"sie was smekt" hat?
Mögen, Nichtmögen, was
setzt das voraus? Muss man sich dafür kennen, etwas voneinander wissen oder
reicht die sprichwörtliche Nase dafür aus? Konnte er die Schwestern einfach nur
"nicht riechen", ohne Grund, einfach so? Ist das vorstellbar, dass
das so tief ging und so wichtig ihm war, dass er dafür seine Ehe zu Bruch gehen
ließ?
Ging sie überhaupt zu
Bruch? Erklärte sie vielleicht nur, warum sie weit weg von ihrem Heimatort
entfernt wohnt? Ging es nur um die Begründung der Ortswahl. Wir sind hier, weil
er meine Schwestern nicht mochte. Jetzt bin ich hier allein, ohne Familie. Eine
andere Geschichte, der gleiche Satz.
Genauso eine Tragödie?
Oder genauso lapidar, gefühllos, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, eine einfache
Ist-Zustand-Beschreibung nach dem Motto "was solls".
Gibt es einen Unterschied
zwischen den beiden Geschichten? Was macht es, ob die Ehefrau oder der
Heimatort verlassen wird. Sie muss Trauer tragen, einen Verlust hinnehmen. Die
Beziehung zwischen ihrem Mann und den Schwestern bleibt gleich. Nur ihre
Entscheidung nicht. Beim Wegzug hat sie ihm zuliebe verzichtet. Musste sie es,
um ihre Ehe oder seine Zuneigung zu ihr zu retten?
Jetzt ist sie hier und
ihre Schwestern, ihre Freundinnen von Kindheit an, sind weit weg.
Egal wie ich mir den Satz
drehe und wende, die Frau verliert immer etwas und jemand. Sie hat den Verlust
und ihr Mann auf jeden Fall den Gewinn. Er ist die Schwestern los.
Die Schippe schweigt. Es
ist 16 Uhr. Feierabend. Wahrscheinlich nach Hause gegangen, der Mann mit seiner
Schippe, höre und sehe ihn nicht mehr. Ich habe auch Feierabend.
Ich schreibe den Satz in
den Computer. Formatiere ihn recht schön groß. Drucke ihn aus. Werfe ihn zum
Fenster raus.
Draußen sehe ich meinen
und ihren Satz auf dem Sandhaufen liegen. Der Mann mit der Schaufel ist mit
seiner Arbeit auch nicht fertig geworden.
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