Freitag, 5. April 2013

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 6



Neben Karls Wange machte sich ein warmer Duft bemerkbar.

"Wie geht’s, großer Schweiger?"

Geht so, wollte er ihr antworten. Es wurde nur ein Krächzen. Dafür nahm er seine Umgebung wieder stärker wahr, als zöge ihn sein Bewusstsein von der Frau neben ihm fort.

Das erste Mal fiel ihm auf, dass die Bunkerwände eigentlich ganz schön hoch waren und durch die inzwischen angesammelten Möbel aus verlassenen und kaputten Häusern der Raum fast Wohnzimmeratmosphäre besaß. Zirka 50 Köpfe zählte er. Es interessierte ihn, wie viele noch hierher kamen. Ob wieder welche in den Häusern geblieben waren, keine Lust mehr hatten? Die Russen sollen kurz vor Berlin stehen, hatten sie vorgestern auf der Arbeit gesagt. Die Arbeit. Auch vorbei. Die Werft war durch Riesenkraft einfach verbogen worden. Verkrümmt hockte die Hellige jetzt auf dem Gelände. Rundherum hatte die gleiche Kraft mit allem, was herumlag "Fußball" gespielt. In dem Werftgebäude waren nicht nur die Fensterscheiben durchlöchert worden. Das war nicht anders zu erwarten gewesen.  

"Du sprichst wohl nicht mit jedem?" Wieder diese junge, aber auch auf merkwürdige Art bereits tiefe Stimme an seinem Ohr.
Erst wollte er "doch" sagen, verkniff es sich aber. Überlegte, ob er ihr von seinem Arm erzählen könnte.

Wäre sie jemand, der zuhört?  Würde sie verstehen, warum er sich in die Maschine hatte fallen lassen, warum er lieber als Krüppel denn als Soldat weitermachen wollte?  Könnte er ihr von seiner mordsmäßigen Angst erzählen, von seiner Angst aus der Straßenbahn auszusteigen? 

Er sah sie wieder vor sich, die ca. 10 Jugendlichen, eindeutig seine Parteikameraden, wie sie sich mit ungefähr genauso vielen Kommunisten prügelten. 1932 kam das öfter vor.

Er kannte viele solcher Szenen, war dann sogar selber dieses eine Mal bei einem Überfall auf eine Veranstaltung der KPD „rein geraten“, als zufälliger Zeuge in der Straßenbahn. Ganz hinten und ohne eingreifen zu müssen.
Aber denen vor ihm ging es schlecht. Sie zogen eindeutig den Kürzeren.

Da war ihm der Schweiß ausgebrochen.  Er hatte die Uniform an. Die Straßenbahn hatte länger gehalten.  Alle Fahrgäste wussten, zu welcher Seite er gehörte. Er stieg nicht aus, blieb mit rotem Kopf sitzen. Ein bulliger Mann mit Glatze hatte ihn dann gefragt: "Warum bist Du denn nicht raus?  Was hast Du so eiliges zu tun, dass Du Deine Kameraden im Stich lässt?"

Hinterher hatte er sich viele Antworten zurechtgelegt.  "Warum sind Sie denn nicht selber?" zum Beispiel.  Der Zweifel an seiner Haltung und die Gewissheit, ein Feigling zu sein, blieben. Könnte er ihr so etwas sagen, als ihr Lebensretter?

Zwei Kinder entledigten ihn der Antwort.  Sie kamen plötzlich aus dem Dunkel. "Onkel, spielst Du mit uns?" Das größere war ein Mädchen.  Er fand es drollig in ihrem Wollkleid, das offensichtlich aus den Resten alter Strickjacken oder Pullover zusammengenäht worden war.  "Ruth, Gerold.  Lasst den fremden Onkel in Ruhe. Er ist verwundet, das seht ihr doch."

Fremder Onkel - es durchschnitt ihm den Leib. Nachbar, Kamerad, Parteigenosse ja. Aber fremd und Onkel!  Er fühlte sich plötzlich ausgestoßen aus der Bunkergemeinschaft.

"Offensichtlich ist es bald vorbei." Wieder die Stimme. Diesmal drehte er sich wenigstens so, dass er die junge Frau betrachten konnte. Was mochte sie sein? Sah resolut aus, nicht wie Hilde, anders, aber resolut, gebildet irgendwie. Er wusste selbst nicht, wie er darauf kam. 

Was meinte sie mit ihrer Frage? Den Angriff oder den ganzen Krieg?

"Beides!" sagte sie leise. Er nickte. Sie hatte recht. Doch. Es musste nun bald mal zu Ende gehen.  Er hatte auch keine Lust mehr in der Straßenbahn zu sitzen und zuzusehen.

Er stand auf und zog an ihrem Arm. Hans Albers stand plötzlich am Pfeiler."Geh nur, mien Dschung. … Geh! … Du verpasst sonst noch den Schluss der Vorstellung."

Karl zog das Mädchen hinter sich her, achtete nicht auf Krüger, der mit einer Pinzette wegen der Steinchen hinter ihm herlief. 

"Feldmann!!! Mensch, es ist doch noch keine Entwarnung gekommen. Halt, Feldmann, bleiben Sie, hier!"

Sie duckten sich zusammen auf die Treppe. Die Tannenbäume zogen gerade über sie hinweg. Dann bebte die Erde eine Minute lang. Karl sah, davon unberührt in den Himmel. 

"Eines Tages sind dort nur noch die alten Sterne. Und die werden keine Bomben auf uns werfen und nicht mit MG's schießen, nicht unsere Straßen in Feuerflüsse verwandeln oder unsere schönen Häuser in Stein- und Schutthaufen."

Karl war an Deck, spürte das Wasser sich an den Bug drängen, das Schiff anheben, spürte wie es im Spiel der Wellen wieder sank.  Es rauschte an seinem Ohr.  Als er das Mädchen vor Zufriedenheit an sich drücken wollte, stieß er gegen ihre Nase. Sie hatte ihm ins Ohr geprustet.

"Du hast Nerven. Die Tommies bewerfen uns und Du schläfst ein."

Er schüttelte nur etwas den Kopf, stand wieder auf und zog sie mit aus dem Eingang. Sie sah ängstlich nach oben, wo die Punkte sich schnell entfernten. Rund um sie herum qualmte es, und bizarre Mauerreste bildeten die Figuren der Unterwelt nach.  Nirgendwo ein lebender Mensch. Über der ganzen Stadt hing ein heller Schein. Es schien überall zu brennen.  Karl sah das nicht.  Er sog nur die brenzlig riechende, kalte Nachtluft tief ein. 

Ja, diesem Mädchen würde er es sagen können. Schluss mit der Straßenbahn, nie mehr Kampf um Rom. 31, da war noch vieles drin.  Warum mit den ungehobelten Größen untergehen. Hätten sie nicht auch feiner und vorsichtiger zu Werke gehen können?

"Weißt Du schweigsames Rätseltier eigentlich, wie ich heiße?"

Mit dem Segelschiff in die Südsee, da mußte sie mit.  Irgendwie, irgendwann.  "Roswitha heiße ich, Du sturer Esel. Sag mal. Was willst Du eigentlich von mir, wenn Du nicht mit mir redest? Erzählst erst romantische Sachen von Sternen, pennst ein, reißt mich hoch, ohne dass Entwarnung ist …?!“
"Psst!" Er zeigte auf das Haus, an dem sie schon vorbeigehen wollten.

Karl verlor jede Farbe im Gesicht, das Leuchten in den Augen und diesmal blieb Hans Albers verschwunden. Er schüttelte die Hand des Mädchens ab und rannte durch den verbrannten Garten auf die offene Tür zu.

Oben sah das Mädchen Licht brennen.  Ein Fenster war nicht verdunkelt.  "Feldmanns sind verrückt geworden.  Schade, vor allem um ihn."

Hinterhergehen mochte sie nicht.  Etwas verloren ging sie die Straße weiter hinauf, wagte kaum, die Reste der Häuser links und rechts zu betrachten.

"Diesmal hatten sie es total auf uns abgesehen", dachte sie. "jetzt kann es nicht mehr lange dauern."

Karl meinte die Treppe hochzufliegen. Jede Trance war von ihm gewichen. 

Sie saßen in der Stube, beide, drehten ihm gleichgültig ruhig ihre groben Gesichter zu, über sich den Volksempfänger mit seinem Krächzen: „… errangen einen vollen Abwehrerfolg gegen die starken feindlichen Kampfflugverbände. In der Schlacht um Berlin konnte die alte Kampflinie trotz starker feindlicher Panzerverbände gehalten werden. Der Führer weilt heute in Berlin, um die neuen Rekruten persönlich unter seinen Eid' zu nehmen."

"Wir leben noch", sagte Hilde ruhig in das Quäken der Radiostimme hinein.  Sie sah ihn von oben bis unten an. Stumm war er in der Türöffnung stehen geblieben. Dachte nichts. Wartete. Die Frau mit der so jungen tiefen Stimme hockte in ihm wie ein kleines Pfand.  Er musste Lächeln bei dem Gedanken an sie.

"Dieser Idiot", dachte Hilde und beschloss aufgrund der Ungehörigkeit dieses Lächelns nie wieder mit ihm zu reden.

Sie stand auf, drängte ihn beiseite, kam mit seinem Bettzeug, einem Bleistift und einem Zettelblock zu ihm zurück, auf dem sie geschrieben hatte:

"Benutze ab jetzt diesen Block, wenn Du mir etwas zu sagen hast.
Dein Bett schlage auf wo Du willst. Meinetwegen auch auf Deinem geliebten Scheißhaus.
Ich rede und schlafe nie mehr mit Dir.
Schieß Dir deswegen kein Loch in Deine hohle Birne. 
Es wäre zu schade um die Kugel."

Er bewahrte den Zettel bis zu seinem Tod in der Brieftasche auf.

Wenige Tage später rollten amerikanische Panzer durch die Reste ihrer Straßen. Hilde und Karl winkten ihnen mit weißen Taschentüchern zu.

"Lass Dein Parteibuch verschwinden. Und bau bloß keinen Scheiß jetzt. Wir haben überlebt. Das reicht!" hatte sie ihm aufgeschrieben.

Seit der schriftlichen Form des Gesprächs mit ihr, hatte er das Gefühl, sich viel besser mit ihr zu verstehen. 

Die Mutter dagegen sprach ihn noch direkt an.  "Steh auf, Du Drecksack." oder "Komm her!", „Hau ab!","Halt mal"'. 

Aber ab und zu, wenn er mit. der Mutter allein war und zu sehr hin und her geschubst wurde, kam Hans Albers zu ihm.  "Dschung, die Südsee wartet. Du wirst sehen."

Es war der Arzt, sein Hausarzt, der ihn vor der Front bewahrt hatte, den Hilde aufgrund seiner „Komischkeit und Dollheit“ ins Haus bestellte zur Untersuchung, der ihn beiseite nahm und ruhig und lange mit ihm sprach. Dann gab er ihm Termine jeweils am Ende der Besuchszeit, die Karl jedes Mal freudig wahrnahm. Hilde bekam davon nichts mit, nur ihre Mutter murrte, was der Kerl dauernd bei dem Quacksalber wolle, helfen täte der doch offensichtlich ihm nicht, der Karl sei so dull wie vorher, wenn nicht sogar mehr.

Karl unternahm nie den Versuch, aus zu ziehen in eine kleine Wohnung, oder sich an eine der nun zahlreich vorhandenen und oft nicht abgeneigten Kriegswitwen an Hildes statt zu nehmen.“

Der Arzt! Gab es nicht einen Arzt in der Familie, der Bruder von Opa und dem Malermeister. Über den gab es auch ein Gerücht. Der oberste Nazi und Jäger, offiziell Polizeichef, hatte den gleichen Familiennamen wie sie, kam aber aus einer anderen Linie, worüber alle, zumindest nach 45, angeblich sehr froh gewesen waren. Das war so im Gespräch mal aufgetaucht, wenn ich mit meinen Buntstiften dabei saß und meine Segelschiffe und Inseln gemalt hatte.

Ja, ich habe als Kind vorwiegend große Segelschiffe und Inseln gemalt, gezeichnet, getuscht. Ja, das führte mich in Karls Nähe, gab mir eine Ahnung von seinen Träumen. Ich hatte alle Bücher vom Dachboden bei Diddi gesäubert und gelesen, alle die, die auch Karl gemocht hatte. Mein Onkel hatte sie dort versteckt nebst einigen anderen Sachen aus der Nazizeit.

Und so hörte ich, was nicht für mich bestimmt war, der Name, der sonst nirgendwo mehr ausgesprochen wurde und den ich Jahre später erst in einer Chronik der Stadt zufällig entdeckte. Zu meiner größten Verwunderung haben mich auch alte Genossen und Widerstandskämpfer der Stadt später nie auf die Namensgleichheit angesprochen, obwohl der ein mieser scharfer Hund gewesen sein musste.

Und dieser scharfe Hund soll den Arzt nur wegen der Namensvetternschaft in Ruhe gelassen, von der Verfolgung und Ausspitzelung ausgeschlossen haben. Angeblich weil der Angst gehabt hätte, durch den Namen vielleicht Schaden an seiner Kariere nehmen zu können oder mit verdächtig zu werden. Was und warum der Arzt überhaupt in diese Bredouille gekommen sein soll, wurde nie gesagt.

War der Arzt der Hobbel, der Karl dann langsam …?

Quatsch, die gab es nicht. Ich habe alles durchsucht und nachgefragt. Nichts. Von so einer Gemeinschaft oder Organisation hatte nie jemand etwas gehört. Muss wohl ein sehr geheimer Geheimbund gewesen sein, wenn es ihn denn wirklich je gegeben hat. Ich wurde langsam einerseits etwas sauer auf Roswitha, andererseits auch besorgt um sie und überlegte auch, ob es nicht besser sei ihre Kinder zu informieren.
Ein Besuch enthob mich weiterer Überlegungen in dieser Richtung. Es war 19 Uhr und ich hatte gerade vor, noch einen Bummel um die Häuser zu unternehmen, um „den Pudding“ gehen hieß das hier, da klingelte es. Zuerst hatte ich es gar nicht gehört und beeilte mich daher umso mehr rasch an die Tür zu kommen beim zweiten, stärkeren Klingeln. Ich rechnete mit niemanden, konnte eigentlich mit niemanden rechnen und öffnete doch die Tür, als würde ich mit jemanden rechnen können, tat es irgendwie nebulös auch, war daher um so erstaunter einen kleinen weißhaarigen Mann vor mir zu sehen, der lächelnd zu mir auf sah und sich mit leiser, angenehm weicher Stimme vorstellte. Ich hörte meinen eigenen Namen und begriff gar nichts. Er sah mir das wohl an, übernahm die Initiative und fragte, ob er wohl kurz eintreten dürfe, wolle auch nicht stören, nicht lange jedenfalls aber die Roswitha habe so besorgt geklungen und da sei er eben mal vorbei gekommen.

Was sollte ich machen. Ich ließ ihn ein, nahm ihm seinen Trenchcoat ab, dachte, warum tragen solche Männer immer Trenchcoats in solchen Szenen und bat ihn im Wohnzimmer auf dem Sessel Platz zu nehmen. Auf dem Sofa wäre es auch schlecht möglich gewesen, denn das lag noch voller Bilder, wie auch der übrige Fußboden.

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