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Freitag, 24. Januar 2014

Als ich ein Model gegen einen Mülleimer tauschen wollte


„Lieber würde ich mit einem Mülleimer das Bett teilen, als mit Dir.“ Der das so sagte, wörtlich, ohne dabei rot zu werden, ganz ruhig und freundlich der so Angesprochenen in die Augen sehend, das war ich. Wir saßen kurz vor Mitternacht zusammen mit den anderen aus der Clique in Gudruns Garage, Gudrun, der Goldschmiedin oben auf dem Berg, wo die reicheren Städter ihre Häuser hin verpflanzt hatten.
Es sollte in wenigen Minuten das Jahr 1970 beginnen und schon lagen die eingehakten Marschreihen und Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufe sowie die Hausbesetzungen Lichtjahre hinter uns. Noch hatten wir das zweite Jahrzehnt in unserem Leben nicht erreicht und doch schon, so jedenfalls fühlten wir es, gewaltig viel. Unsere Stadt mit unseren Aktionen gegen die Fahrpreiserhöhungen, in Bonn gegen die Notstandsgesetze das Land zum Zittern gebracht. Rudi war angeschossen worden und ein Regisseur hatte uns in seinem Film verewigt. „Ich bin ein Elephant, Madam.“ Da spielte unser Treffpunkt, die Lila Eule eine tragende Rolle.
Wir hatten uns längst in lausige Kleingruppen aufgeteilt, planten dort neue Parteien, Unterwanderungsstrategien und die Weltrevolution, völlig überzeugt davon, dass unsere Welle weiter rauschen würde und das Land verändern. Hätten wir das Wort Tsunami schon gekannt, das erst Jahrzehnte später grauenvoll Inseln zerstörte, hätten wir uns wohl mit dem identifiziert.
Ganz im Geiste jener Jahre machten wir vor nichts halt und keinem Thema. Sex und Drugs waren noch die kleinsten davon. Alles Etablierte bekams auf die Mütze oder Schnauze, je nachdem. Und so war gerade die Tatsache, dass ein aufstrebendes, bereits europaweit auf Titelseiten gedrucktes Model neben mir hockte, Verstärker spielte für meine Lust auf diesen Satz ihr gegenüber.
Nun war es nicht so, dass es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben hätte, dass sie vorgehabt hätte mit mir statt eines Mülleimers in das nächste Bett oder wo auch immer hin zu marschieren für, na sie wissen schon. Im Gegenteil, nichts dergleichen hatten wir in dieser Silvesternacht im Künstlerdorf unweit meiner Heimatstadt vor. Nein, wir waren nur dabei uns zeitgemäß zu unterhalten und aus zu tauschen.
Und so diskutierten wir bis zu den ersten Sektkorken und deren Flug an die niedrige Betondecke der Garage über Mülleimer und Models, deren Vorzüge und Nachteile im Sinne Lenis und Freuds und wem auch immer. Dabei gestand sie mir, auch viel zu lesen und demnächst studieren zu wollen. Ja, damals, damals rechtfertigten sich die Erfolgreichen noch, suchten Argumente und hörten uns Underdogs betroffen zu.
Ja, damals, 1969, am Ende des Jahres, noch. Und sie besonders. Was mich von Herzen erfreute und mir zeigte, wie viel Macht wir uns doch bereits erkämpft hatten. Zumindest ihr gegenüber.
Schlafen ging ich dann mit einem anderen Mädchen, jünger, kleiner, Schülerin. Deren Eltern feierten außerhaus und sollten erst am Morgen wieder auftauchen.
Ja und dann geschah es, die Praxis von der Theorie. Das erste Mal. War ich unsicher, verklemmt, aufgeregt, kaum dass mir noch was hart bleiben wollte und als sie mich aufgenommen hatte, fast schon routiniert und sportsmäßig, war es auch schon vorbei in mir. Da kleckerte sich was raus und ich musste mich schämen, was sie sofort bemerkte und bestritt womit ich wieder zurück in meinem Leben war, dem Diskutieren.
Leider kamen deren Eltern früher heim und so musste ich nacktarschig und mit den Klamotten unterm Arm durch Fenster und Garten flüchten, was mir wenig gefiel, lag in jener Nacht doch verdammt viel Schnee.
Ich floh zum Kumpel, der damals noch bei der Tochter eines berühmten Jugendstilmalers als Mieter wohnte und Bob Dylan super imitierte. Bei dem schlief ich mich aus, nachdem ich noch seine Bände von Brecht, Marx, Lenin und Freud bewundert hatte. Natürlich auch von Wilhelm Reich.
Ich kam erst weit nach Mittag in die Wohnung meiner Mutter zurück, bei der ich damals noch wohnte wegen der niedrigen Löhnung als Schriftsetzerlehrling, Auszubildender nannte man das erst später, dafür standen uns noch ein paar Kämpfe bevor, Lehrlingsbewegung und sowas.
Meine Mutter war zu meiner Überraschung nicht da, dafür klingelte das Telefon, am anderen Ende ein Mann. Ob er meine Tochter sprechen könnte. Er meinte meine Mutter.
Da fühlte ich mich wieder stark und war gewiss, älter geworden zu sein, ein Mann, in jener Nacht, die eigentlich damit begonnen hatte, dass wir in einer Garage viel Wein gekippt hatten und ich lieber mit einem Mülleimer die Nacht verbracht hätte. Sie wissen es ja nun.
Wenige Monate später hat ein Städter auf dem Weg vom Künstlerdorf zu unserer Stadt das Model überfahren. Zurückblieben eine Mutter und eine Großmutter, wunderbar gebildete und feinfühlige Frauen, alle auch im Alter noch sehr schön so wie ihre Tochter es einst war, als sie noch lebte und auf Titelseiten glänzte. Die Zeiten änderten sich weiter rasch, aber nicht mehr nur zum Guten, das wurde auch mir da langsam klarer. Wie sehr, darüber zu schreiben fällt mir heute nicht leicht, nicht so leicht wie über jene Tage als alles leicht schien und überwindbar. Bis der Tod sich auch bei uns einschlich.

Sie war nur die erste, andere folgten, viele an der Nadel, einige erhängten sich, sprangen von Brücken. Ins Künstlerdorf kamen Terroristen, heimlich, zum Übernachten. Aber das gehört nun wirklich nicht mehr zu dieser Geschichte.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Im Koffer nach Berlin


 
Es war eines Tages, das weiß ich noch genau. Da hockte ich im Garten der Großeltern zwischen Linoleum Verschnitt und baute mir daraus ein Boot. Der Garten befand sich in einer alten Handelsstadt, deren reiche Bürger einst Schiffe auf dem Meer fahren ließen. Mehr noch aber gefielen mir die Piraten, wie der Störtebecker einer gewesen.
Also baute ich mir ein Boot um damit zur See zu fahren. Es war die Zeit, in der Freddy Quinn im Radio vom Seemann sang und der See, obwohl er wie der Adolf doch aus Österreich war und dort gab es nur große Berge, sagte Großvater, aber kein Meer und Matrosen brauchte man da auch nicht. „Dafür macht er keinen Krieg wie der andere,“ sagte Großmutter, was ich nicht verstand und wohl auch nicht verstehen sollte. Denn damals hieß es oft: „Dafür bist Du noch zu klein!“ Aber ein Boot würde ich mir schon bauen und damit hinaus auf die große See fahren. Sie würden es schon sehen.
Wegen dem Freddy und anderen Sängern, deren Namen ich vergessen habe, schrieb ich später in der Schule immer Seensucht, weil ich dachte, das käme von der See wie Seefahrt und so. Wie konnte ich ahnen, dass See und Sehnsucht nichts miteinander zu tun haben. Das ganze Radio war damals voll mit Sehnsucht und meist ging es dabei um See und Meer, mal in Piräus, mal in Tahiti oder um Kap Horn.
Das ist wegen dem Krieg, behauptete Großvater. Die Leute denken an die Soldatenzeit zurück, als die Männer an der Front waren und Sehnsucht gehabt hätten nach Hause und ihre Frauen umgekehrt nach ihren Männern. In Wirklichkeit wäre die See der Krieg. Was Großmutter auf den Plan brachte. „Musst Du dem Jungen immer son Zeugs erzählen. Das versteht der doch noch nicht.“ Dann grinsten Großvater und ich uns immer an, wie es sich für alte Verschwörer gehört.
Ich hockte also zwischen den Stücken aus grauem Linoleum, dass so grau und gesprenkelt war wie die Steinplatten unter dem Balkon, wo die leeren Kartons standen. In denen hatte ich zuerst Boot gespielt. Aber ich war ja nicht doof. Pappe weicht auf im Wasser. Mit denen würde ich nie auf dem Meer fahren können.
Also rollte ich das Linoleum zusammen, dass es aussah wie ein U-Boot. Diese Schiffe kannte ich, weil Großvater sie mir im Hafen gezeigt hatte. Dort arbeitete Großvater und sagte, dass die vom letzten Krieg her übrig geblieben wären, aber kaputt, dafür hätte der Tommy in einer Nacht damals gesorgt, als er die U-Bootbunker bombardiert hätte. Meine Mama hätte zuerst einen U-Boot-Matrosen geliebt, bis der mit dem Boot im Mittelmeer versenkt worden war. Da wäre sie sehr traurig gewesen, bis sie meinen Papa kennengelernt habe und ich zur Welt gekommen sei.
Großvater erzählte öfter so Sachen, meist vom Krieg und jedes Mal taten ihm die Leute in seinen Geschichten leid. Ich habe damals wenig verstanden, von dem was er sagte. Für seine Geschichten war ich wohl tatsächlich noch zu klein. Großmutter sagte das ja auch öfter, wenn er beim Abendbrot wieder damit anfing.
„Der Krieg ist vorbei, Gott sei Dank,“ so sagte sie meist. Also konnte ich in Ruhe mein Boot bauen und zur See damit fahren.
Auch wollte ich einen Abstecher zur Reeperbahn machen, denn dort musste es um halb eins phantastisch zu gehen, jedenfalls sang das Großmutters Lieblingssänger der Hans Albers so. Der wollte auch, dass eine Luise auf die Schaukel käme, so eine wie der Wolfgang neben an von seinem Papa gebaut bekommen hatte. Dessen Papa war Kapitän und den sah man fast nie. Denn, natürlich, der war auf hoher See. Großvater wollte mir auch so eine Schaukel bauen, sobald das Linoleum verlegt war im Haus. Und eine große Windmühle hier im Garten. Größer als die bei den anderen in den Vorgärten.
Bis es soweit war, wollte ich erstmal zur See und baute mir mein Boot. Es hielt. Ich konnte mich damit auf dem Rasen kullern und es hielt. Blieb die Frage zu lösen, wie ich es zum Wasser hinbekam. Der Hafen war nicht weit. Über den Dächern konnte ich die Helligen der großen Werft leuchten sehen. Vielleicht würde mir Wolfgang, der Nachbarsjunge mit der Schaukel, dabei helfen, es dorthin zu tragen. Und dann könnte ich am kaputten U-Boothafen vorbei den Fluss bis zum Meer hochfahren.
Dafür würde ich ein Paddel brauchen. Das nächste Problem. Bevor ich es lösen konnte, rief Großmutter, ich solle reinkommen, es wäre Abendbrotzeit.
Aber ich wollte doch zur See und musste ein Paddel finden. Also blieb ich unten im Garten. Die Sonne schien noch hell, kein Hauch von Abend. Wozu also schon das Brot. Hunger hatte ich auch nicht. Überhaupt die Sonne. Die hatte es schwer bei uns in der Stadt in jenen Tagen. Sie kam kaum durch den ständigen Nebel, der grau um uns herum hing, noch vor den Wolken. Die Strahlen waren so schwach, die bei mir im Garten ankamen, dass sie die Blätter der Apfel- und Birnenbäume, Großmutters ganzer Stolz, kaum zum Leuchten brachten, auch nicht die Äpfel und Birnen, wenn sie im Herbst auf Großmutters Pflücken warteten. Den Blumen hier ging es nicht besser. Ihre Farben blieben dunkel und matt. Nichts hier konnte strahlen oder leuchten in den Sonnenstrahlen. Aber auf See, da funkelten die Sonnenstrahlen auf dem Wasser und auf den Inseln leuchteten alle Blumen und Bäume pausenlos. Das wusste ich durch Siegesmund Rüstig und Robinson Crusoe, von denen Großvater mir erzählt hatte.
Also überlegte ich weiter, wo ich ein Paddel herbekommen könnte und ignorierte Großmutters lauter und strenger werdendes Rufen, wo ich denn bliebe, rasch sollte ich kommen, auf der Stelle. Aber ich brauchte jetzt kein Abendbrot sondern ein Paddel, damit ab zur See, mit einem Brot ist schlecht paddeln. Brot brauchte ich für die Möwen. Damals fütterte man Möwen noch. Sonntags, wenn wir in den Hafen gingen, nach zu sehen, ob neue Schiffe aus Übersee angelegt hatten. Deswegen hieß der Hafen auch Überseehafen. Übersee hieß von ganz weit weg, Uusaa zum Beispiel oder Kap Horn, Timbuktu und Shanghai. Da wollte ich jetzt auch hin, brauchte aber ein Paddel.
Ich stellte mir vor wie am Heiligabend Papa, Mama, Großvater und Großmutter vor dem Radio im Wohnzimmer sitzen würden und lauschen, wie ihre Grüße mir gesendet würden und ich zurück grüßte über mein Funkgerät.
Funkgerät hatte ich noch nicht, ließe sich aber bestimmt in Amsterdam oder New York im Hafen auftreiben. Das würde schön. Ich war ganz gerührt bei dem Gedanken. Jeden Heiligabend saßen wir nämlich vor dem Radio und hörten den Sender Norddeich und wie die Seeleute gegrüßt wurden und zurück grüßten. Einmal haben wir sogar den Kapitän gehört, den Papa vom Wolfgang nebenan mit der Schaukel. Von diesen Seeleuten wollte ich jetzt einer von sein.
Also Paddel suchen. Ging aber nicht, weil Großvater kam, mich packte und nach oben in die Stube trug, wo Großmutter bereits am Abendbrottisch saß. Sie schimpfte, wo ich denn geblieben sei, warum ich nicht gehorcht hätte, das sähe mir doch gar nicht ähnlich. Ich erzählte ihnen von meinem Boot, der See und dass ich noch kein Paddel hätte, dringend aber eines bräuchte. Das überzeugte sie nicht. Im Gegenteil. Sie schimpfte weiter, bis ich es nicht mehr aushielt und laut schrie: „Ich pack Dich in einen Koffer und schick Dich nach Berlin!“
Wieso ich das rief? Damals packten wir dauernd Pakete für Berlin. Bei fast jedem Einkauf wurde etwas für diese Kartons mit eingekauft. Auch Süßigkeiten. Wenn ich von denen etwas haben wollte, hieß es: „Nicht, die sind für die Armen in der Zone.“ Was das genau war, die Zone, verstand ich nicht. Auf jeden Fall nichts auf hoher See, dafür in Berlin.
Das Großmutter zu groß war für eines dieser Pakete, war mir klar. Irgendwie gab es da auch so ein Lied, wo jemand noch einen Koffer in Berlin hatte und vielleicht kam ich darum auf diese Idee mit dem Koffer.
Es war tatsächlich nach meinem Ausbruch plötzlich still im Wohnzimmer. Bis Großmutter leise anfing zu weinen und Großvater mich vorwurfsvoll ansah. Ich schämte mich, wenn ich auch nicht ganz begriff warum, drückte mich schnell an Großmutter ran und versuchte sie zu trösten.
Zu meiner Seefahrt kam ich an dem Tag nicht mehr, da sie mich zu Bett brachten und ich mich nicht traute wieder von meinem Boot und dem Paddel anzufangen.
Am nächsten Tag kam Jochen vorbei, der wohnte in den dunkelroten Zollhäusern am Anfang der Kreuzung. Er wollte mit mir zum Schrottplatz, Schwerter besorgen. Das fand ich gut, denn Ritter zu sein, das war uns Jungs damals das höchste und größte. Cowboys waren wir lange genug gewesen und die Ballerei mit den Platzpatronen war teuer und auf Dauer öde. Aber mit Schwertern so richtig auf einander einschlagen, das war besser. Und so zogen wir los und als ich wieder kam, war das Linoleum verschwunden, meine Handflächen von den Eisenstangen vom Schrottplatz eingeschnitten und so erstmal der Traum von See und Boot und Timbuktu ausgeträumt. Dafür hatte ich mich als Ritter prächtig geschlagen. Jochens Hände bluteten noch mehr als meine.
Auch später ist es mir nicht gelungen ein Boot herzustellen und damit auf die hohe See zu gelangen. Fand es auch besser so, als ich das erste Mal am Meer war mit Papa und Mama. Das war im Jahr vor ihrer Scheidung. Da hatten sie das erste Mal in ihrem Leben Urlaub gemacht. In Holland, an der Küste und ich bin fast ertrunken, als ich durch die hohen Wellen mich nicht mehr an meiner Luftmatratze festhalten konnte und hätte ich Papa nicht in den Bauch getreten, dann hätte er mich da unter Wasser gar nicht gefunden und am Fuß greifen können und der See entreißen. Danach war ich wirklich froh, dass Großmutter mich an jenem Tag zum Abendbrot gerufen hatte, denn was wäre gewesen, gleiches wäre mir mit dem Boot passiert und mein Papa wäre nicht dagewesen, dass ich ihn in den Bauch treten kann und er mich rausziehen.
Meine Großmutter ist 99 Jahre alt geworden und hat mir in jedem ihrer Jahre seitdem immer wieder vom Koffer erzählt, in den ich sie hätte packen wollen und nach Berlin schicken und wie sehr sie enttäuscht gewesen wäre von mir an jenem Tage, wo sie doch gedacht hätte, ich hätte sie sehr lieb, wo sie mich doch aus dem Heim geholt hatte, als Papa und Mama noch nicht verheiratet waren.
Ja, das sind die jetzt auch schon lange nicht mehr, verheiratet. Ins Heim musste ich trotzdem nie zurück und Großmutter hatte ich bis zu ihrem Tod unheimlich lieb. Nicht nur wegen dem Heim, was mir als Kind in jenen Tagen gar nicht so schrecklich klang. Wollten die, die im Radio rumsangen nicht alle gerne heim? Nachdem sie erstmal auf See waren und dann hatten sie im Heim wieder diese Sehnsucht, die ich immer noch lieber als Seensucht schreiben würde.

Wie oft habe ich Großmutter wegen diesem Koffer nach Berlin noch trösten dürfen und meine Liebe zeigen und beteuern, dass ich auch nicht wüsste, was mir damals in den Kopf gefahren sei. Sie war mir wohl auch nicht wirklich böse, genoss einfach gerne meine Liebesbeteuerungen. Und war mit mir froh, dass weder sie im Koffer nach Berlin noch ich zur See gekommen bin. Nach Berlin allerdings kam ich eines Tages, weder mit dem Koffer noch mit dem Boot, mit der Bahn war es. Und es war dort durchaus schön und ich dachte, dass es ihr ja vielleicht dort gefallen hätte, in Berlin. Von dem Koffer mal abgesehen.

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014

Samstag, 12. Oktober 2013

Im Bremer „Rauchfang“


































nach der ersten Hausbesetzung
bei Bettina am Wall
Raubdrucke geklaut Wilhelm Reich und Freud
über ihrem Buchladen
im Wallcafé gelesen
mit geschnorrter Cola-Rum

tagsüber vor dem Setzkasten
unsere steifen Finger in den Schriften aus Blei
Kaskade und Joffel im Rauchfang
nicht weit vom alten „Remmer“ mit Varieté
der Auftritt der zwei Modells mit den Silberaugen
damals kam der Tod
noch frisch aus Amsterdam

Joffel hatte sein letztes Bild fertig auf der Staffelei
bei Kaskade verklangen die letzten Töne Leo Ferré: avec le temps
et les fleurs du mal
als man sie mit dem gelblichen Glibber vor dem Mund fand

saßen Reinhard und ich
im Rauchfang Henry Miller im Sinn
Kinski im Ohr der gleiche Text die gleiche Musik
auch hier nur Lehrling
drehten wir  uns die Joints niemals selbst

was haben wir so zusammen gelebt
und wichtiger
für wen

immerhin
wir fragen noch
was jetzt anstelle des Rauchfangs dort abgeht

Donnerstag, 10. Oktober 2013

Mein Bremen


eine Stadt
zwei Türme kupfergrün groß ihre Schatten über dem Land
dort den Bauern war ihr Preis stets zu hoch
schon früh von den Bürgern
gegen den Dom
ein Rathaus gepflanzt
ohne Türme
Rathaus und Dom
davor der steinerne Roland
ihm gegenüber
in der Börse noch immer mit Getreide gezockt
schön aber ihre Renaissancefassaden
im Fadenkreuz von Napoleons Heerstraßen
ist die Welt für uns nicht weit

*
vergattert in den Gesang von Werkssirenen
warteten wir auf die Ferien
unsere Ohren tief in die Kopfkissen versenkt
unser Horizont
die Helligen von AG Weser von Vulkan
die Schiffe aus Übersee
beladen entladen
weiter unten
wo die Stadt spitz zum Meer hinzeigt
der flüssige Stahl
sind einige hineingesprungen gefallen
wie es hieß
wurde viel erzählt
am Kiosk beim Bier fiel für uns das Pfandgeld ab

*
oft auf der anderen Seite vom Fluss
wo sie die Zigarren drehten
fand mein Onkel kein Glück
zwei Zimmer einer Familie Wohnung grau das Haus grau die Zeit
zum Liebe machen kam er auf unsere Seite der Stadt
zu den Glühlampengirlanden frisch lackierte Baracken am Hafen
wo schon Großvater sich hingetragen
nackte Weiber satt
nichts gegen ihre Frauen dick angezogen im Kittel den ganzen Tag
kam von der See ein anderer Onkel
zurück mit wilder Braut
aus seiner Kneipe dort wuchs der letzte alte Lindenbaum
deren Geschlecht unserer Straße den Namen gab
hingen wir Kinder vor seiner Theke
kickten die Murmeln auf nackter Erde bis vor die Nacht

*
nie zu sehen für uns
der Stadt Bürgerbarone Kaufmannes Macht
Schätze versteckt hinter blätternden Fassaden
munkelte man hinter verschlossenen Türen
aus England mitgebracht bezahlt
aus Waffenhandel plus geröstetem Kaffee für die ganze Welt
vom Kaffee wurde geprahlt
Waffen verlassen den Hafen noch immer diskret
freuten wir uns über neue Knallpatronen
aus Tante Emmas Schreibwarenladen
für die Trommeln unserer Plastikcolts
Wyatt Earp war das Vorbild
Gandhi hatte bei uns noch keinen Schlag

*
In dieser Stadt
wurden wir dies wurden wir das
schnell kamen die Kinder nur im Suff
wie verschwiegen es aus unseren Häusern kroch
legten wir stolz unsere mühsam geschnorrten Groschen
auf die Ladentheke für Sigurd Heftchen im Querformat
Mecki auf Reisen in Din A 4 mit Hardcover Umschlag
Hör Zu zum Lesen in kargen Zeiten der Kirchenbote
unsere Diaspora polnisch sprachen wir Polen
seit Großvater hier nicht mehr

*
haben wir uns oft geschlagen
mit Stangen vom Schrottplatz den Ritter gemacht
auf Trümmergrundstücken kein Fußballplatz
bis die Farben auf die Wände kamen
„ihr sollt es mal besser haben“
von uns wörtlich genommen
verstanden wir
was man uns angetan
haben wir die Fassaden zerschlagen hervor gezerrt
aus den Kellern von den Böden die Fundstücke
unserer Scham saure Muttermilch

in unserer Väter Stadt

Montag, 15. April 2013

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 9



Ich würde sie aufsuchen müssen, versprochen ist versprochen. Aber den Rest der Karlgeschichte liebe ich nicht. Mit der Hobbelei darin, hat sie sich verschoben. Eigentlich ging es doch um das Schweigen der Frau, ihre Hartnäckigkeit, ihre Rachsucht und Unfähigkeit zu verzeihen und es ging um seine Unfähigkeit sich zu befreien, selbst da, wo es für ihn doch nur noch gemachtes Essen, eine gewisse Ordnung und einen Stand zu holen gab, keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keinen Rückenwind. Wie hatten die beiden das nur ausgehalten.

Während ich noch so am Überlegen war, klingelte es. Komisch, sonst besucht mich niemand und jetzt das zweite Mal in einer Woche. Ich ließ mir Zeit beim Hingehen und Öffnen. Vor mir stand ein junger Mann mit modischer Lederjacke, weißem Hemd ohne Krawatte in Jeans mit breitem Ledergürtel und einem freundlichen Gesicht, das mich strahlend lächelnd ansah. Hinter ihm standen zwei ältere Polizisten, wirkten müde und leicht griesgrämig. Vielleicht mochten sie ihn und seine Freundlichkeit nicht. Warum ich das alles so genau wahrnahm, weiß ich nicht.
„Sie sind …?“
„Ja, ja! Bin ich!“

Erwartungsvoll standen wir voreinander. Er erlöste uns: „Wir müssen Sie leider bitten, mit uns zu kommen. Und wir bräuchten auch Ihren Wohnungsschlüssel. Wenn Sie vielleicht ein paar Toilettenartikel und etwas Wäsche mit nehmen wollen?!“ Das sagte er so, als würde er mich zum Essen in einem Erste-Klasse-Hotel einladen und so war ich einfach nur sprachlos, drehte mich um, ließ die Tür offen, sie folgen, verschwand im Badezimmer, packte mir dort brav etwas zusammen, verließ es und ging zum Kleiderschrank, suchte ein paar Sachen zusammen, fand im Flur die Sporttasche, die ich eigentlich nie brauchte, weil ich kein Sport betrieb, und füllte sie mit den Utensilien. Der junge Mann nickte zufrieden. „Dann können wir?“ und schob mich zum Flur hinaus. Die beiden Polizisten folgten uns und schlossen mit meinem Schlüssel hinter uns ab.

Es stand tatsächlich eines dieser neuerdings blauen Polizeifahrzeuge da draußen und wartete anscheinend auf mich. Immerhin ohne Martinshorn fuhren wir ab, nicht ohne ein paar Gaffer, die sich natürlich zu diesem Zeitpunkt auf der Straße und in den Fenstern befinden mussten. Bisher war mir gar nicht aufgefallen, wie viel hier tagsüber Zeit haben, jedem Pfurz hinter her zu starren. Mir konnte es egal sein. Ich kannte sie nicht und würde sie auch künftig nicht kennen.
„Hauptkommissar“ hatte der junge Mann neben mir gesagt, sei er, Und stumm blieb er, während der ganzen Fahrt, stumm und freundlich lächelnd. So langsam verstand ich die Polizisten vor mir im Wagen. Konnte einem mit der Zeit die Nerven rauben, dieses Lächeln. Ich lächelte doch auch nicht.

Bisher hatte ich mir in meinem Leben den Kontakt mit der Polizei ziemlich erspart. Nur einmal fassten sie mich, als ich in meinen vorletzten Sommerferien von einer frisch aus der Entziehung heimgekehrten und dies mit ihren Nachbarn kräftig feiernden älteren Alkoholikerin hatte abfüllen lassen mit Schnaps, einem meinem Magen bis dahin völlig unbekanntes Getränk, und so wohl zu sehr torkelnd vor dem Haus meinen Heimweg suchte und ihn nicht richtig finden konnte. Die Polizisten luden mich damals auch in ihr Fahrzeug ein und fanden für mich den Weg, nach dem ich irgendwie meine Adresse in Worte gefasst hatte. Meine Mutter war nicht zu Hause und so konnte ich mich ohne irgendwelche Auseinandersetzung in das Bett verziehen und schlafen. Zwar wunderte sie sich, als sie nach der Arbeit nach Hause kam über den Gestank und ihren Sohn beim Schlafen, sagte aber nichts. Auch nicht am nächsten Tag. Dafür meldeten sich Polizei und Jugendamt, als ich schon gar nicht mehr an die Sache gedacht hatte. Natürlich war ich etwas erschrocken über diese Geschichte als ich am nächsten Tag wieder Kontakt zu mir selber bekam, wenn auch mit dem klassischen Brummschädel. Auch war sie mir peinlich, nur mit Schrecken dachte ich an diese saufende, lallende, herbe Gesellschaft in Unterhemden, Morgenmänteln und einem Fuselgeruch, der für 5 Kneipen ausgereicht hätte. Bin danach auch nie wieder in der Siedlung mit irgendjemand hoch gegangen. Es war ja auch nur dazu gekommen, weil das Mädchen, dass ich gerade am Anbaggern war, ihre Tante hatte besuchen wollen, eben diese Spritdrossel, und mich dann wegen einem Babysittern-Einsatz dort zurück gelassen hatte.

Meine Mutter wurde natürlich sauer, als die Schreiben kamen und drückte sich wie gewohnt nach solchen Anlässen mit stark kummervollen Gesicht durch die Wohnung, signalisierte aber gleichzeit dauernd, wie sehr sie hinter mir stände und was sie nicht alles und son Zeugs, also, was ich noch weniger brauchen konnte als den Besuch im Polizeipräsidium der Stadt. Dort landete ich bei einem auch damals freundlich lächelnden Beamten, Polizeirang weiß ich nicht mehr, in der Abteilung für Drogen, Prostitution und ähnliches, konnte ich an den Ordnern an der Wand feststellen, unsere Strichstraße kannte ich natürlich schon, wenn auch nur außen und dem Namen nach. Hier erwartete mich ein gemütlicher Mann, knapp jünger als mein Vater, erklärte mir den Grund der Einladung und  so erfuhr ich, dass Erwachsene mir Minderjährigen nicht einfach Alkohol einflößen dürften, auch nicht bei sich zu Hause und es demnach nicht gegen mich ginge, obwohl er dennoch fragen müßte, ob ich den schon öfter so viel getrunken habe, überhaupt bereits regelmäßig Alkohol zu mir nehme und ob meine eltern, die erziehungsberechten, mich nicht kontrollieren würden, was ich dann doch wieder eher als Verdächtigung und Verfolgung meiner Person betrachtete. Ich durfte vor ihm sitzen, auf Augenhöhe sozusagen, schielte bisweilen zu den Ordnern mit den Prostituierten, die aber nicht mehr verrieten als Buchstaben des Alphabets, das ich mittlerweile ja auswendig kannte und bereits an zu wenden wußte. Der blieb nett, ich antwortete nett auf alle Fragen mit „Nein!“, erklärte, wie es zu dem einmaligen erlebnis gekommen war und war noch so jung und verstört, dass ich ein schlechtes Wissen bekam, weil ich beim Besuch meines Vaters bereits einmal abgestürzt war, wenn auch durch zu viel Bier und schlechter schokolade und ein Babyzimmer anschließend versaut hatte, wo mein Vater die ganze Nacht das erbrochene zu beseitigen versuchte, vor allem den geruch, da das Baby am nächsten Tag mit der jungen Mutter aus dem Krankenhaus kommen sollte. Das verschwieg ich also, durfte aber gehen und „Nein, das war es, es kommt nichts mehr nach“, kam aber doch, nämlich eine Frau vom Jugendamt und ein Anschiß vom Scvhulleiter obwoghl ich doch versprochen hatte, „es“ also das Saufen, nie wieder zu tun, was ich wohl ein Jahr eingehalten habe, warum auch immer.

Mehr Erfahrung besaß ich also nicht mit Polizeigewahrsam und trotzdem saß ich in dem Auto, wurde irgendwo hingefahren mit meiner Sporttasche auf den Knien und schwieg wie alle in dem Wagen. In dem Moment konnte ich Karl gut verstehen, mit seiner Sehnsucht nach Hans Albers und seinem Ruf, ihm in die Südsee zu folgen. Als wir hielten, war es nicht vor unserem mächtigen Klinkerbau der vorletzten Jahrhundertwende, unser Polizeipräsidium am „Hintern“, wie wir in der Stadt sagten, der Gerichtsgebäude,  sondern ein Wischi-Waschi-Bau der 60er Jahre des letzten jahrhunderts mit den üblichen gelben Streifen unter hohen Glasfenstern ohne Schmuck und Stil.

„Unsere Forensik“, bekam ich mitgeteilt, was mich weder beruhigte noch schlauer werden ließ. Wir gingen durch in unsderer  Zeit immer noch normale Behördengänge mit Namensschildern an jeder Tür, obwohkl sie doch uns Bürger neuerdings als Kundenb betrachten und behandeln wollen, bis zu einer dicken, gelblich grauen, nur Schatten durchlassenden Schwingtür. Die Polizisten waren freundlich, einer stieß sie für mich und dem Komissar auf, der andere fing ihren Schwung hinter uns ab und so kamen wir von ihr unbeschädigt in eine verkachelte Welt, vollgestellt mit fahrbaren Liegen, an den Wänden die üblichen, jedem Krimizuschauer bekannten Gerätschaften.

Vielleicht sollte Hans Albers auch mir jetzt mal helfend beiseite springen, denn das kam mir nun wirklich nur noch wie ein Film vor, in dem ich irgendwie mitspielte, aber völlig ohne Textbuch und Rollenvorgabe. Und das, das gefiel mir ganz und gar nicht. Aber es gelang mir einfach nicht, daraus zu erwachen und zu einer rettenden Tasse Kaffee zu eilen.

Sie schlugen, wie nicht anders zu erwartzen, ein Tuch zur Seite um ein Gesicht frei zu geben, natürlich tod und mir tatsächlich bekannt. Hatte ich jemand anderes erwartet, überhaupt jemand erwartet? Nein, konnte ja nur ein Alptraum sein und entsprechend egal war mir, was da vor mir rum lag. Jedenfalls bis ihn sah, sofort wieder erkannte und gar nichts mehr verstand. Es war der Großonkel Arzt und Hobbelberichter, bleich, etwas eingefallen, seinem tatsächlichen Alter hier in dem Kunstlicht sehr viel näher, ja eigentlich, mehr drüber als wie bei seinem Besuch in meiner Wohnung.

Schließlich spürte ich sie, ihr Warten auf mich, darauf, dass ich wohl etwas sagte, den Toten für sie identifizierte, warum auch immer, hatte den Mann nur einmal in meinem Leben gesehen und wer konnte das überhaupt wissen und wenn, wieso die hier?
Aber sie sahen mich nur an, als ich es sagte. Und ich spürte, wie ein Bild, irgend etwas in mir auftauchen wollte, ein heißes Gefühl, etwas, was ich hier besser nicht losließ und auch gar nicht wissen wollte. Zu Hause, da beschäftigte ich mich mit dem was von da unten hochkam, den turbulenzenzen, deswegen war ich ja unter anderem auf der Suche. Aber nicht hier, jetzt, in diesem irgendwie geschlechtsneutralem Licht, angesichts der Männer und des TV-Krimi-Ambientes.

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 8




„Auch Hilde gewöhnte sich sehr an den schriftlichen Verkehr mit ihrem Mann und entdeckte mit der Feder ungeahnte Möglichkeiten. Sie entdeckte die Sprache der Anweisungen, lernte mehr und mehr, wie sie es zu formulieren hatte, dass er genau das tat, fühlte, so reagierte, wie sie es wollte. Sie entdeckte den Chef in sich, den Kommandeur auf neue Weise, lernte, wie sich durch Abmilderungen, leichte Schlenker mehr erreichen lässt und weniger Widerstand. Natürlich spürte sie genau, dass er sich ihr entzog, seine eigenen Gedanken hatte und die ihr nie verraten würde. Aber es wurde ihr noch mehr egal, als sie bemerkte, dass seine Gedanken und Gefühle für einen reibungslosen Ablaufs ihres Alltags auch gar nich nötig waren. Sie begriff, dass sie mit diesem Trainingsfeld mehr anfangen könnte, das erreichen, was ihr bisher durch seine Laschheit verwehrt war. Manchmal in der Nacht, da kam es ihr vor, als könne sie sogar in des Führers Fußstapfen treten, hatte sie nicht herausgefunden wie man führt ganz ohne direkte mündliche Rede, einfach so, durch Zettel.

Hätte man ihr gesagt, sie führe ja nur eine Zettelwirtschaft, wäre sie empört gewesen. Ihr schien klar vor Augen, dass das Land sie brauchte, gerade jetzt, wo sein Reich in Trümmern lag und verraten war.

Also machte sie sich auf das Feld zu finden, das ihres sein konnte und musste.

Machte sich auf ohne Blick zurück, überzeugt, ihre Zeit sei gekommen und dieser Karl könnte dabei, zumindest zu Beginn eine hilfreiche Rolle spielen. Schließlich galt nur er, nicht sie, wirklich als unbelastet. Was scherten sie die Nachbarn, die sie nicht mehr grüßten nach der Niederlage, die diese Tragödie unverschämter Weise auch noch Befreiung nannten. Den Karl hatte sie auch hinbekommen. Also was solls. Auf zu neuen Taten.

Karls Rückzug, vor allem seine Null-Gegenwehr, vom Leiterposten zerstörte ihr sich etwas entspannendes Verhältnis nach ihren neuen Ambitionen sofort wieder. Sie sah sein Verhalten als persönlichen Affront gegen ihre Pläne und dachte nur, der „faule Sack“ wolle ihr damit auf der Tasche liegen, glaube, er hätte ein Recht auf diese so miese, gescheiterte Ehe, könne sich genauso bequem in der neuen Zeit einrichten wie in der alten. Der würde sich noch umgucken, weg schießen würde sie den, sobald sie nicht mehr auf ihn und sein Einkommen angewiesen wäre.

Ihre Zettel wurden wieder schärfer, gerieten zu scharfen Kommandos, was ihn nicht daran hinderte, das zu tun, was er in seinen Kräften und durchaus für angemessen hielt. Aber er horchte, sah genau hin, fühlte sich wie in einem neuen Film, wo alle irgendwas taten und nur er sah die Zusammenhänge, konnte abwarten, sich in Ruhe wappnen gegen die nächsten Explosionen, Vergewaltigungen und Zerstörungen.

Erbost trat sie ohne ihn zu informieren in die CDU ein und beschloss, noch mehr in ihrem Entschluss bestärkt, selber Karriere zu machen, informierte ihn über nichts und lachte offen, wenn er etwas zur Politik von sich gab, in seinem nie ablassenden Willen, wieder mit ihr ins Gespräch zu kommen, über seine offensichtliche Naivität und Verlangen, es möge endlich etwas anderes besseres heraus kommen aus der Politik, als in der Vergangenheit. Der „alte Dämelak“,  der war einfach zu dumm, zumindest aus ihrer Sicht der Dinge, die neue Zeit mit ihren Möglichkeiten zu begreifen.

Von da an saßen Karl und ihre Mutter immer häufiger abends allein zu Hause und Hans Albers musste sehr oft zu ihm kommen, da halfen auch nicht seine Gespräche mit den Hobbels. Hans Albers half ihm mehr, war so zu sagen sein Kompass, nicht für Luise, aber für die Schaukel auf der er sich befand und von der er nicht wusste, auch nicht durch die Hobbels, wie er von der mal runter kommen könnte.

Im Gegenteil, sogar der blonde Hans hielt ihn auf der Schaukel fest, erklärte sie zu seinem Schicksal und meinte nur in der ihm eigenartigen Art und Weise: „Dat is so wie et kömmt, Du mien Dschung und die Schaukel, dat bleevt, frog mie nie nach dem End!“

Eines Tages kam Post: "Hiermit geben sich die Ehre mitzuteilen ..."

Das Mädchen hatte geschrieben, die mit der warmen tiefen und so jungen Stimme, hatte ihm eine Einladung geschickt. Eigentlich unter Nachbarn hier eher normal als ungewöhnlich, die Post ging noch an den Haushaltsvorstand, was in der Regel der Mann war und insoweit nicht ungewöhnlich.

Das Mädchen heiratete halt. Mehr war dazu nicht zu sagen. Aber für Hilde, die immer noch gemieden, zu nichts eingeladen wurde in der Nachbarschaft, nicht gegrüßt und von nichts informiert, einfach wie Luft behandelt, war das ein Alarmsignal. Die Karte galt ihrem Karl und der hatte noch nie eine solche Karte erhalten und vor allem nicht mit so einer Widmung: „Meinem Retter, wir würden uns besonders freuen wenn Sie mit ihrer Gattin …“.

Hilde schrieb ihrem Mann einen Monat lang keinen Zettel mehr.

Was hatte der nur mit dieser Frau gehabt und zu schaffen, deren Eltern ihr wohlbekannt waren, stadtbekannte Querdenker, nach 45 und wahrscheinlich auch schon vorher heimlich, wie diese hinterlisten Leute ja üblicherweise
sind, Rudolf Steiner Anhänger, ausgerechnet von diesem Wirrkopf mit seinen Erziehungsideen und Schulen, die plötzlich wie die Pilze sich im Umland ausbreiteten und in aller Munde waren?

War ihr Karl etwa auch schon von dieser Seuche infiziert, plante gar den Absprung dorthin. Sie wusste, „stille Wasser sind tief“ und Wasser passte genau auf Karl, still sowieso, nur was die Tiefe anbelangte war sie sich nicht so sicher.

Karl war alles egal, fast alles wenn es nur nicht seine Ruhe störte oder ihn zu neuen, eventuell Ärger bringenden Schritten zwang

Mit großen Augen sah er, wie sein Land wieder aufstieg wie Phönix aus der Asche. Auch er verdiente langsam mehr, ohne selber darum kämpfen zu müssen. Das taten die Gewerkschaften und deren Leute für ihn, regelmäßig und zu seiner Verwunderung kamen sie damit durch. Sogar mit ihren Streiks und zum Teil, für ihn jedenfalls, utopischen Forderungen. Die Hobbels sahen das meist etwas anders und versuchten ihn auf zu klären, was er in der Regel meistens auch dankbar annahm. Überhaupt waren diese Treffen inzwischen für ihn fast ein Familienersatz. Hier konnte er sich aussprechen, und Hilfe erhalten für seine doch oft wirren Gedanken. Selbst die Studierten unter ihnen hatten Geduld mit ihm und er fühlte sich stets auf Wolke sieben, wenn er sah, wie die sich alle um ihn bemühten.

Bald schon konnte er sich einen Roller leisten. Mit dem fuhr er vergnügt durch die wieder aufgebauten Straßen zur Arbeit. Holte Hilde nachts auch schon mal von einer Parteisitzung ab, auch wenn sie nur unwillig dabei hinter ihm saß und meinte, dass ein richtiges Auto doch viel besser wäre, wie es irgend ein X oder Y doch auch schon sich hätte leisten können, und die wären nur einfache Malocher im Gegensatz zu ihm. Natürlich schrieb sie das nur, auf der Fahrt sprach sie nie ein Wort, nicht beim Betreten des Hauses, nicht beim Abschied in ihre jeweiligen Betten.

Er wählte dann auch CDU, nur Mitglied wollte er erst nicht werden.  Das mochte er seiner ersten Partei nicht antun, trotz seiner Kritik an ihr, „Einmal falsch verbunden, dann für immer“, so dachte er. Erst der sanfte Hinweis der Hobbels, dass er so wenig für seine, ihre Ziele erreichen könnte, brachte ihn zum Umdenken.

Die CDU fand er dann auch nicht spannender oder viel erträglicher als seine alte Partei, traten die gleichen Herrschertypen auf, nur mit mehr Gelaber, aber auch das „Wir sind die Besten, sind die Einzigen!“ hatten die völlig drauf. Auch wenn sie für den phantastischen Wirtschaftsaufschwung sorgte, jedenfalls nach seinem Eindruck, wurde er nicht mit ihr warm.“