Es
war eines Tages, das weiß ich noch genau. Da hockte ich im Garten der
Großeltern zwischen Linoleum Verschnitt und baute mir daraus ein Boot. Der Garten
befand sich in einer alten Handelsstadt, deren reiche Bürger einst Schiffe auf
dem Meer fahren ließen. Mehr noch aber gefielen mir die Piraten, wie der
Störtebecker einer gewesen.
Also baute ich mir ein Boot um damit zur See zu
fahren. Es war die Zeit, in der Freddy Quinn im Radio vom Seemann sang und der
See, obwohl er wie der Adolf doch aus Österreich war und dort gab es nur große
Berge, sagte Großvater, aber kein Meer und Matrosen brauchte man da auch nicht.
„Dafür macht er keinen Krieg wie der andere,“ sagte Großmutter, was ich nicht
verstand und wohl auch nicht verstehen sollte. Denn damals hieß es oft: „Dafür
bist Du noch zu klein!“ Aber ein Boot würde ich mir schon bauen und damit
hinaus auf die große See fahren. Sie würden es schon sehen.
Wegen
dem Freddy und anderen Sängern, deren Namen ich vergessen habe, schrieb ich
später in der Schule immer Seensucht, weil ich dachte, das käme von der See wie
Seefahrt und so. Wie konnte ich ahnen, dass See und Sehnsucht nichts
miteinander zu tun haben. Das ganze Radio war damals voll mit Sehnsucht und
meist ging es dabei um See und Meer, mal in Piräus, mal in Tahiti oder um Kap
Horn.
Das
ist wegen dem Krieg, behauptete Großvater. Die Leute denken an die Soldatenzeit
zurück, als die Männer an der Front waren und Sehnsucht gehabt hätten nach
Hause und ihre Frauen umgekehrt nach ihren Männern. In Wirklichkeit wäre die
See der Krieg. Was Großmutter auf den Plan brachte. „Musst Du dem Jungen immer
son Zeugs erzählen. Das versteht der doch noch nicht.“ Dann grinsten Großvater
und ich uns immer an, wie es sich für alte Verschwörer gehört.
Ich
hockte also zwischen den Stücken aus grauem Linoleum, dass so grau und gesprenkelt
war wie die Steinplatten unter dem Balkon, wo die leeren Kartons standen. In
denen hatte ich zuerst Boot gespielt. Aber ich war ja nicht doof. Pappe weicht
auf im Wasser. Mit denen würde ich nie auf dem Meer fahren können.
Also
rollte ich das Linoleum zusammen, dass es aussah wie ein U-Boot. Diese Schiffe
kannte ich, weil Großvater sie mir im Hafen gezeigt hatte. Dort arbeitete
Großvater und sagte, dass die vom letzten Krieg her übrig geblieben wären, aber
kaputt, dafür hätte der Tommy in einer Nacht damals gesorgt, als er die
U-Bootbunker bombardiert hätte. Meine Mama hätte zuerst einen U-Boot-Matrosen
geliebt, bis der mit dem Boot im Mittelmeer versenkt worden war. Da wäre sie
sehr traurig gewesen, bis sie meinen Papa kennengelernt habe und ich zur Welt
gekommen sei.
Großvater
erzählte öfter so Sachen, meist vom Krieg und jedes Mal taten ihm die Leute in
seinen Geschichten leid. Ich habe damals wenig verstanden, von dem was er
sagte. Für seine Geschichten war ich wohl tatsächlich noch zu klein. Großmutter
sagte das ja auch öfter, wenn er beim Abendbrot wieder damit anfing.
„Der
Krieg ist vorbei, Gott sei Dank,“ so sagte sie meist. Also konnte ich in Ruhe
mein Boot bauen und zur See damit fahren.
Auch
wollte ich einen Abstecher zur Reeperbahn machen, denn dort musste es um halb
eins phantastisch zu gehen, jedenfalls sang das Großmutters Lieblingssänger der
Hans Albers so. Der wollte auch, dass eine Luise auf die Schaukel käme, so eine
wie der Wolfgang neben an von seinem Papa gebaut bekommen hatte. Dessen Papa
war Kapitän und den sah man fast nie. Denn, natürlich, der war auf hoher See.
Großvater wollte mir auch so eine Schaukel bauen, sobald das Linoleum verlegt
war im Haus. Und eine große Windmühle hier im Garten. Größer als die bei den
anderen in den Vorgärten.
Bis
es soweit war, wollte ich erstmal zur See und baute mir mein Boot. Es hielt.
Ich konnte mich damit auf dem Rasen kullern und es hielt. Blieb die Frage zu lösen,
wie ich es zum Wasser hinbekam. Der Hafen war nicht weit. Über den Dächern
konnte ich die Helligen der großen Werft leuchten sehen. Vielleicht würde mir
Wolfgang, der Nachbarsjunge mit der Schaukel, dabei helfen, es dorthin zu
tragen. Und dann könnte ich am kaputten U-Boothafen vorbei den Fluss bis zum
Meer hochfahren.
Dafür
würde ich ein Paddel brauchen. Das nächste Problem. Bevor ich es lösen konnte,
rief Großmutter, ich solle reinkommen, es wäre Abendbrotzeit.
Aber
ich wollte doch zur See und musste ein Paddel finden. Also blieb ich unten im
Garten. Die Sonne schien noch hell, kein Hauch von Abend. Wozu also schon das
Brot. Hunger hatte ich auch nicht. Überhaupt die Sonne. Die hatte es schwer bei
uns in der Stadt in jenen Tagen. Sie kam kaum durch den ständigen Nebel, der
grau um uns herum hing, noch vor den Wolken. Die Strahlen waren so schwach, die
bei mir im Garten ankamen, dass sie die Blätter der Apfel- und Birnenbäume,
Großmutters ganzer Stolz, kaum zum Leuchten brachten, auch nicht die Äpfel und
Birnen, wenn sie im Herbst auf Großmutters Pflücken warteten. Den Blumen hier
ging es nicht besser. Ihre Farben blieben dunkel und matt. Nichts hier konnte
strahlen oder leuchten in den Sonnenstrahlen. Aber auf See, da funkelten die
Sonnenstrahlen auf dem Wasser und auf den Inseln leuchteten alle Blumen und
Bäume pausenlos. Das wusste ich durch Siegesmund Rüstig und Robinson Crusoe,
von denen Großvater mir erzählt hatte.
Also
überlegte ich weiter, wo ich ein Paddel herbekommen könnte und ignorierte
Großmutters lauter und strenger werdendes Rufen, wo ich denn bliebe, rasch
sollte ich kommen, auf der Stelle. Aber ich brauchte jetzt kein Abendbrot
sondern ein Paddel, damit ab zur See, mit einem Brot ist schlecht paddeln. Brot
brauchte ich für die Möwen. Damals fütterte man Möwen noch. Sonntags, wenn wir
in den Hafen gingen, nach zu sehen, ob neue Schiffe aus Übersee angelegt
hatten. Deswegen hieß der Hafen auch Überseehafen. Übersee hieß von ganz weit
weg, Uusaa zum Beispiel oder Kap Horn, Timbuktu und Shanghai. Da wollte ich
jetzt auch hin, brauchte aber ein Paddel.
Ich
stellte mir vor wie am Heiligabend Papa, Mama, Großvater und Großmutter vor dem
Radio im Wohnzimmer sitzen würden und lauschen, wie ihre Grüße mir gesendet
würden und ich zurück grüßte über mein Funkgerät.
Funkgerät
hatte ich noch nicht, ließe sich aber bestimmt in Amsterdam oder New York im
Hafen auftreiben. Das würde schön. Ich war ganz gerührt bei dem Gedanken. Jeden
Heiligabend saßen wir nämlich vor dem Radio und hörten den Sender Norddeich und
wie die Seeleute gegrüßt wurden und zurück grüßten. Einmal haben wir sogar den
Kapitän gehört, den Papa vom Wolfgang nebenan mit der Schaukel. Von diesen
Seeleuten wollte ich jetzt einer von sein.
Also
Paddel suchen. Ging aber nicht, weil Großvater kam, mich packte und nach oben
in die Stube trug, wo Großmutter bereits am Abendbrottisch saß. Sie schimpfte,
wo ich denn geblieben sei, warum ich nicht gehorcht hätte, das sähe mir doch
gar nicht ähnlich. Ich erzählte ihnen von meinem Boot, der See und dass ich
noch kein Paddel hätte, dringend aber eines bräuchte. Das überzeugte sie nicht.
Im Gegenteil. Sie schimpfte weiter, bis ich es nicht mehr aushielt und laut
schrie: „Ich pack Dich in einen Koffer und schick Dich nach Berlin!“
Wieso
ich das rief? Damals packten wir dauernd Pakete für Berlin. Bei fast jedem Einkauf
wurde etwas für diese Kartons mit eingekauft. Auch Süßigkeiten. Wenn ich von
denen etwas haben wollte, hieß es: „Nicht, die sind für die Armen in der Zone.“
Was das genau war, die Zone, verstand ich nicht. Auf jeden Fall nichts auf
hoher See, dafür in Berlin.
Das
Großmutter zu groß war für eines dieser Pakete, war mir klar. Irgendwie gab es
da auch so ein Lied, wo jemand noch einen Koffer in Berlin hatte und vielleicht
kam ich darum auf diese Idee mit dem Koffer.
Es
war tatsächlich nach meinem Ausbruch plötzlich still im Wohnzimmer. Bis
Großmutter leise anfing zu weinen und Großvater mich vorwurfsvoll ansah. Ich
schämte mich, wenn ich auch nicht ganz begriff warum, drückte mich schnell an
Großmutter ran und versuchte sie zu trösten.
Zu
meiner Seefahrt kam ich an dem Tag nicht mehr, da sie mich zu Bett brachten und
ich mich nicht traute wieder von meinem Boot und dem Paddel anzufangen.
Am
nächsten Tag kam Jochen vorbei, der wohnte in den dunkelroten Zollhäusern am
Anfang der Kreuzung. Er wollte mit mir zum Schrottplatz, Schwerter besorgen.
Das fand ich gut, denn Ritter zu sein, das war uns Jungs damals das höchste und
größte. Cowboys waren wir lange genug gewesen und die Ballerei mit den
Platzpatronen war teuer und auf Dauer öde. Aber mit Schwertern so richtig auf
einander einschlagen, das war besser. Und so zogen wir los und als ich wieder
kam, war das Linoleum verschwunden, meine Handflächen von den Eisenstangen vom
Schrottplatz eingeschnitten und so erstmal der Traum von See und Boot und
Timbuktu ausgeträumt. Dafür hatte ich mich als Ritter prächtig geschlagen.
Jochens Hände bluteten noch mehr als meine.
Auch
später ist es mir nicht gelungen ein Boot herzustellen und damit auf die hohe
See zu gelangen. Fand es auch besser so, als ich das erste Mal am Meer war mit
Papa und Mama. Das war im Jahr vor ihrer Scheidung. Da hatten sie das erste Mal
in ihrem Leben Urlaub gemacht. In Holland, an der Küste und ich bin fast
ertrunken, als ich durch die hohen Wellen mich nicht mehr an meiner Luftmatratze
festhalten konnte und hätte ich Papa nicht in den Bauch getreten, dann hätte er
mich da unter Wasser gar nicht gefunden und am Fuß greifen können und der See
entreißen. Danach war ich wirklich froh, dass Großmutter mich an jenem Tag zum
Abendbrot gerufen hatte, denn was wäre gewesen, gleiches wäre mir mit dem Boot
passiert und mein Papa wäre nicht dagewesen, dass ich ihn in den Bauch treten
kann und er mich rausziehen.
Meine
Großmutter ist 99 Jahre alt geworden und hat mir in jedem ihrer Jahre seitdem
immer wieder vom Koffer erzählt, in den ich sie hätte packen wollen und nach
Berlin schicken und wie sehr sie enttäuscht gewesen wäre von mir an jenem Tage,
wo sie doch gedacht hätte, ich hätte sie sehr lieb, wo sie mich doch aus dem
Heim geholt hatte, als Papa und Mama noch nicht verheiratet waren.
Ja,
das sind die jetzt auch schon lange nicht mehr, verheiratet. Ins Heim musste
ich trotzdem nie zurück und Großmutter hatte ich bis zu ihrem Tod unheimlich
lieb. Nicht nur wegen dem Heim, was mir als Kind in jenen Tagen gar nicht so
schrecklich klang. Wollten die, die im Radio rumsangen nicht alle gerne heim? Nachdem
sie erstmal auf See waren und dann hatten sie im Heim wieder diese Sehnsucht,
die ich immer noch lieber als Seensucht schreiben würde.
Wie
oft habe ich Großmutter wegen diesem Koffer nach Berlin noch trösten dürfen und
meine Liebe zeigen und beteuern, dass ich auch nicht wüsste, was mir damals in
den Kopf gefahren sei. Sie war mir wohl auch nicht wirklich böse, genoss
einfach gerne meine Liebesbeteuerungen. Und war mit mir froh, dass weder sie im
Koffer nach Berlin noch ich zur See gekommen bin. Nach Berlin allerdings kam
ich eines Tages, weder mit dem Koffer noch mit dem Boot, mit der Bahn war es. Und
es war dort durchaus schön und ich dachte, dass es ihr ja vielleicht dort
gefallen hätte, in Berlin. Von dem Koffer mal abgesehen.
(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014
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