Donnerstag, 23. Januar 2014

Im Koffer nach Berlin


 
Es war eines Tages, das weiß ich noch genau. Da hockte ich im Garten der Großeltern zwischen Linoleum Verschnitt und baute mir daraus ein Boot. Der Garten befand sich in einer alten Handelsstadt, deren reiche Bürger einst Schiffe auf dem Meer fahren ließen. Mehr noch aber gefielen mir die Piraten, wie der Störtebecker einer gewesen.
Also baute ich mir ein Boot um damit zur See zu fahren. Es war die Zeit, in der Freddy Quinn im Radio vom Seemann sang und der See, obwohl er wie der Adolf doch aus Österreich war und dort gab es nur große Berge, sagte Großvater, aber kein Meer und Matrosen brauchte man da auch nicht. „Dafür macht er keinen Krieg wie der andere,“ sagte Großmutter, was ich nicht verstand und wohl auch nicht verstehen sollte. Denn damals hieß es oft: „Dafür bist Du noch zu klein!“ Aber ein Boot würde ich mir schon bauen und damit hinaus auf die große See fahren. Sie würden es schon sehen.
Wegen dem Freddy und anderen Sängern, deren Namen ich vergessen habe, schrieb ich später in der Schule immer Seensucht, weil ich dachte, das käme von der See wie Seefahrt und so. Wie konnte ich ahnen, dass See und Sehnsucht nichts miteinander zu tun haben. Das ganze Radio war damals voll mit Sehnsucht und meist ging es dabei um See und Meer, mal in Piräus, mal in Tahiti oder um Kap Horn.
Das ist wegen dem Krieg, behauptete Großvater. Die Leute denken an die Soldatenzeit zurück, als die Männer an der Front waren und Sehnsucht gehabt hätten nach Hause und ihre Frauen umgekehrt nach ihren Männern. In Wirklichkeit wäre die See der Krieg. Was Großmutter auf den Plan brachte. „Musst Du dem Jungen immer son Zeugs erzählen. Das versteht der doch noch nicht.“ Dann grinsten Großvater und ich uns immer an, wie es sich für alte Verschwörer gehört.
Ich hockte also zwischen den Stücken aus grauem Linoleum, dass so grau und gesprenkelt war wie die Steinplatten unter dem Balkon, wo die leeren Kartons standen. In denen hatte ich zuerst Boot gespielt. Aber ich war ja nicht doof. Pappe weicht auf im Wasser. Mit denen würde ich nie auf dem Meer fahren können.
Also rollte ich das Linoleum zusammen, dass es aussah wie ein U-Boot. Diese Schiffe kannte ich, weil Großvater sie mir im Hafen gezeigt hatte. Dort arbeitete Großvater und sagte, dass die vom letzten Krieg her übrig geblieben wären, aber kaputt, dafür hätte der Tommy in einer Nacht damals gesorgt, als er die U-Bootbunker bombardiert hätte. Meine Mama hätte zuerst einen U-Boot-Matrosen geliebt, bis der mit dem Boot im Mittelmeer versenkt worden war. Da wäre sie sehr traurig gewesen, bis sie meinen Papa kennengelernt habe und ich zur Welt gekommen sei.
Großvater erzählte öfter so Sachen, meist vom Krieg und jedes Mal taten ihm die Leute in seinen Geschichten leid. Ich habe damals wenig verstanden, von dem was er sagte. Für seine Geschichten war ich wohl tatsächlich noch zu klein. Großmutter sagte das ja auch öfter, wenn er beim Abendbrot wieder damit anfing.
„Der Krieg ist vorbei, Gott sei Dank,“ so sagte sie meist. Also konnte ich in Ruhe mein Boot bauen und zur See damit fahren.
Auch wollte ich einen Abstecher zur Reeperbahn machen, denn dort musste es um halb eins phantastisch zu gehen, jedenfalls sang das Großmutters Lieblingssänger der Hans Albers so. Der wollte auch, dass eine Luise auf die Schaukel käme, so eine wie der Wolfgang neben an von seinem Papa gebaut bekommen hatte. Dessen Papa war Kapitän und den sah man fast nie. Denn, natürlich, der war auf hoher See. Großvater wollte mir auch so eine Schaukel bauen, sobald das Linoleum verlegt war im Haus. Und eine große Windmühle hier im Garten. Größer als die bei den anderen in den Vorgärten.
Bis es soweit war, wollte ich erstmal zur See und baute mir mein Boot. Es hielt. Ich konnte mich damit auf dem Rasen kullern und es hielt. Blieb die Frage zu lösen, wie ich es zum Wasser hinbekam. Der Hafen war nicht weit. Über den Dächern konnte ich die Helligen der großen Werft leuchten sehen. Vielleicht würde mir Wolfgang, der Nachbarsjunge mit der Schaukel, dabei helfen, es dorthin zu tragen. Und dann könnte ich am kaputten U-Boothafen vorbei den Fluss bis zum Meer hochfahren.
Dafür würde ich ein Paddel brauchen. Das nächste Problem. Bevor ich es lösen konnte, rief Großmutter, ich solle reinkommen, es wäre Abendbrotzeit.
Aber ich wollte doch zur See und musste ein Paddel finden. Also blieb ich unten im Garten. Die Sonne schien noch hell, kein Hauch von Abend. Wozu also schon das Brot. Hunger hatte ich auch nicht. Überhaupt die Sonne. Die hatte es schwer bei uns in der Stadt in jenen Tagen. Sie kam kaum durch den ständigen Nebel, der grau um uns herum hing, noch vor den Wolken. Die Strahlen waren so schwach, die bei mir im Garten ankamen, dass sie die Blätter der Apfel- und Birnenbäume, Großmutters ganzer Stolz, kaum zum Leuchten brachten, auch nicht die Äpfel und Birnen, wenn sie im Herbst auf Großmutters Pflücken warteten. Den Blumen hier ging es nicht besser. Ihre Farben blieben dunkel und matt. Nichts hier konnte strahlen oder leuchten in den Sonnenstrahlen. Aber auf See, da funkelten die Sonnenstrahlen auf dem Wasser und auf den Inseln leuchteten alle Blumen und Bäume pausenlos. Das wusste ich durch Siegesmund Rüstig und Robinson Crusoe, von denen Großvater mir erzählt hatte.
Also überlegte ich weiter, wo ich ein Paddel herbekommen könnte und ignorierte Großmutters lauter und strenger werdendes Rufen, wo ich denn bliebe, rasch sollte ich kommen, auf der Stelle. Aber ich brauchte jetzt kein Abendbrot sondern ein Paddel, damit ab zur See, mit einem Brot ist schlecht paddeln. Brot brauchte ich für die Möwen. Damals fütterte man Möwen noch. Sonntags, wenn wir in den Hafen gingen, nach zu sehen, ob neue Schiffe aus Übersee angelegt hatten. Deswegen hieß der Hafen auch Überseehafen. Übersee hieß von ganz weit weg, Uusaa zum Beispiel oder Kap Horn, Timbuktu und Shanghai. Da wollte ich jetzt auch hin, brauchte aber ein Paddel.
Ich stellte mir vor wie am Heiligabend Papa, Mama, Großvater und Großmutter vor dem Radio im Wohnzimmer sitzen würden und lauschen, wie ihre Grüße mir gesendet würden und ich zurück grüßte über mein Funkgerät.
Funkgerät hatte ich noch nicht, ließe sich aber bestimmt in Amsterdam oder New York im Hafen auftreiben. Das würde schön. Ich war ganz gerührt bei dem Gedanken. Jeden Heiligabend saßen wir nämlich vor dem Radio und hörten den Sender Norddeich und wie die Seeleute gegrüßt wurden und zurück grüßten. Einmal haben wir sogar den Kapitän gehört, den Papa vom Wolfgang nebenan mit der Schaukel. Von diesen Seeleuten wollte ich jetzt einer von sein.
Also Paddel suchen. Ging aber nicht, weil Großvater kam, mich packte und nach oben in die Stube trug, wo Großmutter bereits am Abendbrottisch saß. Sie schimpfte, wo ich denn geblieben sei, warum ich nicht gehorcht hätte, das sähe mir doch gar nicht ähnlich. Ich erzählte ihnen von meinem Boot, der See und dass ich noch kein Paddel hätte, dringend aber eines bräuchte. Das überzeugte sie nicht. Im Gegenteil. Sie schimpfte weiter, bis ich es nicht mehr aushielt und laut schrie: „Ich pack Dich in einen Koffer und schick Dich nach Berlin!“
Wieso ich das rief? Damals packten wir dauernd Pakete für Berlin. Bei fast jedem Einkauf wurde etwas für diese Kartons mit eingekauft. Auch Süßigkeiten. Wenn ich von denen etwas haben wollte, hieß es: „Nicht, die sind für die Armen in der Zone.“ Was das genau war, die Zone, verstand ich nicht. Auf jeden Fall nichts auf hoher See, dafür in Berlin.
Das Großmutter zu groß war für eines dieser Pakete, war mir klar. Irgendwie gab es da auch so ein Lied, wo jemand noch einen Koffer in Berlin hatte und vielleicht kam ich darum auf diese Idee mit dem Koffer.
Es war tatsächlich nach meinem Ausbruch plötzlich still im Wohnzimmer. Bis Großmutter leise anfing zu weinen und Großvater mich vorwurfsvoll ansah. Ich schämte mich, wenn ich auch nicht ganz begriff warum, drückte mich schnell an Großmutter ran und versuchte sie zu trösten.
Zu meiner Seefahrt kam ich an dem Tag nicht mehr, da sie mich zu Bett brachten und ich mich nicht traute wieder von meinem Boot und dem Paddel anzufangen.
Am nächsten Tag kam Jochen vorbei, der wohnte in den dunkelroten Zollhäusern am Anfang der Kreuzung. Er wollte mit mir zum Schrottplatz, Schwerter besorgen. Das fand ich gut, denn Ritter zu sein, das war uns Jungs damals das höchste und größte. Cowboys waren wir lange genug gewesen und die Ballerei mit den Platzpatronen war teuer und auf Dauer öde. Aber mit Schwertern so richtig auf einander einschlagen, das war besser. Und so zogen wir los und als ich wieder kam, war das Linoleum verschwunden, meine Handflächen von den Eisenstangen vom Schrottplatz eingeschnitten und so erstmal der Traum von See und Boot und Timbuktu ausgeträumt. Dafür hatte ich mich als Ritter prächtig geschlagen. Jochens Hände bluteten noch mehr als meine.
Auch später ist es mir nicht gelungen ein Boot herzustellen und damit auf die hohe See zu gelangen. Fand es auch besser so, als ich das erste Mal am Meer war mit Papa und Mama. Das war im Jahr vor ihrer Scheidung. Da hatten sie das erste Mal in ihrem Leben Urlaub gemacht. In Holland, an der Küste und ich bin fast ertrunken, als ich durch die hohen Wellen mich nicht mehr an meiner Luftmatratze festhalten konnte und hätte ich Papa nicht in den Bauch getreten, dann hätte er mich da unter Wasser gar nicht gefunden und am Fuß greifen können und der See entreißen. Danach war ich wirklich froh, dass Großmutter mich an jenem Tag zum Abendbrot gerufen hatte, denn was wäre gewesen, gleiches wäre mir mit dem Boot passiert und mein Papa wäre nicht dagewesen, dass ich ihn in den Bauch treten kann und er mich rausziehen.
Meine Großmutter ist 99 Jahre alt geworden und hat mir in jedem ihrer Jahre seitdem immer wieder vom Koffer erzählt, in den ich sie hätte packen wollen und nach Berlin schicken und wie sehr sie enttäuscht gewesen wäre von mir an jenem Tage, wo sie doch gedacht hätte, ich hätte sie sehr lieb, wo sie mich doch aus dem Heim geholt hatte, als Papa und Mama noch nicht verheiratet waren.
Ja, das sind die jetzt auch schon lange nicht mehr, verheiratet. Ins Heim musste ich trotzdem nie zurück und Großmutter hatte ich bis zu ihrem Tod unheimlich lieb. Nicht nur wegen dem Heim, was mir als Kind in jenen Tagen gar nicht so schrecklich klang. Wollten die, die im Radio rumsangen nicht alle gerne heim? Nachdem sie erstmal auf See waren und dann hatten sie im Heim wieder diese Sehnsucht, die ich immer noch lieber als Seensucht schreiben würde.

Wie oft habe ich Großmutter wegen diesem Koffer nach Berlin noch trösten dürfen und meine Liebe zeigen und beteuern, dass ich auch nicht wüsste, was mir damals in den Kopf gefahren sei. Sie war mir wohl auch nicht wirklich böse, genoss einfach gerne meine Liebesbeteuerungen. Und war mit mir froh, dass weder sie im Koffer nach Berlin noch ich zur See gekommen bin. Nach Berlin allerdings kam ich eines Tages, weder mit dem Koffer noch mit dem Boot, mit der Bahn war es. Und es war dort durchaus schön und ich dachte, dass es ihr ja vielleicht dort gefallen hätte, in Berlin. Von dem Koffer mal abgesehen.

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014

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