Montag, 16. September 2013

Eine kleine graue Wolke



Daran kann ich mich noch genau erinnern: Es war der dritte Tag mit unglaublicher Hitze und das Land verfärbte sich bereits in trockengelb und –braun nach den drei Wochen davor mit nur Sonnenschein und ohne einen Tropfen Regen.
Ich hatte einen möglichen neuen Kunden in dem Dorf hinter mir, mehr gab es da nicht für mich zu holen, ging durch die Neubausiedlung für Pendler der nahen Kreisstadt bis zur Dorfstraße und auf ihr an der Kirche vorbei zurück zu meinem Wagen.
Ich parke gerne etwas weiter weg, so habe ich wenigstens etwas Bewegung und kann mir die Umgebung ansehen, mich so ablenken und Kraft tanken für den nächsten Kunden.
Dieser hier am Ende einer Sackgasse mit 30-Zone-Buckeln, nannte einen ordentlich gestriegelten Vorgarten und einen eben solchen hinter dem geklinkerten Haus sein eigen, war gemäß der aktuellen Möbelhausprospekte eingerichtet gewesen, er hatte aber trotzdem beteuert, dass er mein Kunde leider, leider nicht werden könne, denn dafür reiche es bei ihm zur Zeit nicht, auch wenn er, natürlich, es gerne gewollt hätte.
Das Dorf hier hatte die letzten Jahre und das Raussterben der alten Besitzer sichtbar kräftig genutzt für eine Aufhübschung ihrer Fassaden. Die strahlten jetzt in der Hitze besonders grell und weiß zwischen den dunklen Fachwerkmustern. Überall zeigten die Wahrnehmungen der jahreszeitlichen Angebote umliegender Gärtnereien ihre Blüten und Blätter, schienen aber in Froststarre verfallen zu sein trotz der Hitze, duckten sich in der schweren Luft, in der ich bald schon meinte, zu wenig atmen zu können und so fuhr ich zu einer Anhöhe, auf der ich eine Bank unter einer alten Eiche von Ferne gesehen hatte.
Hier wollte ich durchatmen und den Schatten genießen.
Allein: der Schatten reichte nicht, auch war kein Wind da und so schwitzte ich auch dort weiter.
Ich zog den Laptop aus der Tasche und nahm mir meine Ergebnisse der Woche vor. Immerhin war schon Donnerstag, aber das was ich da fand: es reichte nicht. Wie schon so lange.
Es reichte nicht, endlich einmal das Konto wieder glatt zu bügeln, nicht mir einen Urlaub zu ermöglichen, ja nicht einmal für einen guten Abend beim Italiener reichte es diese Woche.
Dafür spürte ich plötzlich feine Tropfen auf meiner Hand, so dass ich den Laptop schnell wieder in der Tasche verstaute und als ich mich danach umsah, zu dem Feld mit dem hochstehenden Mais, das sich von hier bis runter zum Dorf schmutzig grün und gelb ausbreitete, sah ich einen zarten Schleier aus langsam fallenden Tröpfchen und eine Stimme neben mir brummte:
„Es reicht nicht!“
Erschrocken drehte ich mich in die Richtung des Gehörten. Ein älterer Mann mit dickem Graubart stand da neben der Bank, auf einen rotbraunen Stock aus Holz gestützt, wie man ihn früher zum Wandern benutzte. Aufgrund seiner Kleidung, er trug eine vom Waschen verblichene wohl ehemals blaue Latzhose und darüber trotz der Hitze eine dunkelgrüne Allwetterjacke, nahm ich an, den Bauern des Maisfeldes vor mir zu haben.
Wie hatte der sich nur so anschleichen können? Einen Moment lang schlug mein Herz viel zu kräftig und von irgendwoher in meinem Körper kam noch mehr Flüssigkeit heiß mir über die Haut gekrochen. Ich versuchte mich zu beruhigen, fragte ihn leicht verärgert:
„Was meinten Sie?“
„Es reicht nicht. Sehen sie die kleine graue Wolke da oben, “ er zeigte mit dem Stock in den Himmel, wo einsam und alleine eine kleine graue Wolke über uns schwebte.
„Das ist sie. Die Alte „Es reicht nicht“!“
Ich muss ihn wohl sehr verwundert angesehen haben, denn er begann sofort mir seine Worte zu erklären.
„Wissen Sie, da unten, bei uns im Dorf, da hat sie gelebt, die Frau. Jeder kannte sie und nannte sie so.
Und das hatte seinen Grund und wie, sie werden es sehen.
Diese Frau ging zum Beispiel in ein Textilgeschäft, ließ sich alle möglichen Blusen oder Röcke vorlegen, probierte sie an, nur um zum Schluss ihre Geldbörse aus der Handtasche zu ziehen, sie auf zu klappen und hinein zu sehen, dann zur Verkäuferin zu sagen: „Sehen sie, es reicht nicht!“ Dann ging sie raus, ohne etwas zu kaufen. Weil sie das so oft tat, holte die Chefin des Ladens schon mal, kaum dass die Alte das Geschäft betreten hatte, ein aussortiertes Kleidungsstück aus dem Lager, in ihrer Größe, denn die kannten alle Verkäuferinnen mittlerweile auswendig, und schenkte es ihr.
Oder am Samstag auf dem Markt, da nahm sie das Obst in die Hand, drückte es, legte es zurück und nahm ein anderes. Wenn der Standbetreiber sie aber ansprach, was sie denn nun kaufen wolle, holte sie wieder ihre Geldbörse aus der Tasche, öffnete sie, sah hinein und sagte: „Es reicht nicht“. Da griff schon der eine oder andere, um sie daran zu hindern sein Obst anzupatschen und zu drücken, eine dafür schon gleich zu Beginn des Marktes gefüllte Tüte mit nicht mehr ganz taufrischem Obst oder mit den Früchten, die bereits kleine Stellen aufwiesen und schenkte ihr diese.
Nun trieb sie es ebenso in der Kreisstadt, dort in den Reisebüros, wo sie tatsächlich dann mühsamst für sie gesuchte Reisen aus Gewinnspielen geschenkt bekam, in den Banken, wo sie sich für Geldanlagen beraten ließ und schon mal einen Schein verlegen zugesteckt bekam, ja sogar im Tabakladen, wo sie sich bezüglich Zigarren und Pfeifen beraten ließ und gelegentlich mit solchen beschenkt, den Laden verließ.
Kein Mal aber bedankte sie sich, schaute nur traurig, so traurig, dass es den Leuten fast das Herz brach und sie sich schämten, so ungeduldig im Umgang mit der Alten gewesen zu sein.
„Es reicht bei ihr eben nicht“, sagten sie und „arme Alte! Wer weiß was für ein schlimmes Schicksal dahinter stecken mag.“
Die Frau war bei ihren Ausflügen stets ordentlich gekleidet, mit der Zeit aber fast nur noch in den Geschenken der Umgebung. Darunter waren auch Sachen, die in anderen Dörfern in die Altkleidersammlung kamen, inklusive Schuhe, Brillen, Handtaschen. Auch erhielt sie elektrische Geräte und Möbel, was man bei uns nicht mehr zum Sperrmüll stellte sondern zu ihr brachte und sie sortierte für sich dann aus.
Und am Sonntag, wenn der Klingelbeutel in der Kirche rumging, tat sie es auch, zog ihre Geldbörse hervor, öffnete sie umständlich, sah hinein, sagte „Es reicht nicht!“, bis die Nachbarn links und rechts von ihr für sie ein paar Münzen hineinwarfen.
Wenn sie Besuch bekam, ging sie mit dem in die Küche, öffnete die Kaffeedose, zeigte sie dem Besuch und sagte auch wieder: „Es reicht nicht!“  Was natürlich dazu führte, dass jeder, der sie warum auch immer besuchen kam, Kaffeepulver und Kuchen, bisweilen sogar ganze Mittagsgerichte mitbrachte.
Bald schon hieß sie bei uns nur noch die „arme alte Frau - es reicht nicht“. Und keiner konnte sich noch daran erinnern, wie sie war, bevor ihr der Mann verstarb, auf jeden Fall aber noch nicht mit dieser Tour und ihrem bald fast schon gefürchteten Gesichtsausdruck. Es gab sogar welche im Dorf, die meinten von ihr geträumt zu haben und das sei nicht angenehm gewesen. Auch hätte man sofort ein schlechtes Gewissen bei ihrem Anblick und manchmal ließe einen das den ganzen Tag nicht los.“
Dann schwieg der Bauer und sah zur Wolke, dann freundlich lächelnd, dabei seinen Kopf leicht nickend, zu mir hin.
Ich sagte: „Unglaublich!“
„Nicht wahr! Aber was meinen sie, was geschah, als die Frau starb?“
Ich zuckte mit den Achseln, dachte mir aber mein Teil. Und tatsächlich sagte der Mann:
„Die Frau war stinkreich, überall hatte sie Geld versteckt, tausende an Tausendern, eine richtige Millionärin war die, wenn auch in D-Mark, die damals gerade abgeschafft worden ist. So etwas hatte noch keiner von uns hier je gesehen oder gehört.“
„Das ist ja dreist!“
„Nicht wahr. Aber was meinen sie, was geschah als die Frau in den Himmel kam?“
Wieder zuckte ich mit den Schultern. Im Himmel kenne ich mich erstens nicht so recht aus und zweitens, war mir schleierhaft woher der alte Bauer davon wissen wollte.
„Tja, dann will ich ihnen das auch erzählen. Da stand die vor Gabriel, dem Erzengel, wissen sie und der sah die Frau lange an, las in seinem dicken Buch, sah sie an, las, bis sie nicht mehr länger warten mochte.
„Was ist denn nun! Kann ich endlich rein?“ quängelte sie.
Der Gabriel schüttelte seinen Kopf, sagte dann mit leiser, betrübter Stimme: „Es reicht nicht!“
Und jetzt glauben Sie bestimmt, die arme Frau wäre in die Hölle gekommen. Aber die, junger Mann, wurde schon längst weg rationalisiert. Auch der Himmel muss sparen. Schließlich werden die Kostgänger dort im Paradies jedes Jahr mehr, auch wenn wir uns das hier, wie das so bei uns läuft, nicht recht vorstellen können. Das noch so viele es schaffen in das Paradies, meine ich.
Die alte Frau stand also verlegen vor Gabriel, wird sich wohl auch vor der Hölle gefürchtet haben und musste weiter warten. Schließlich hielt sie es wieder nicht mehr aus.
„Was geschieht denn jetzt mit mir. Wann kommt der Teufel und holt mich?“
„Teufel? Resozialisiert!
Meinen sie wirklich, was ihr auf Erden könnt, bekämen wir hier, im Paradies, nicht zustande?
Nein, ich warte auf ihr Wölkchen.“
„Wölkchen?“
„Ja, so ein kleines graues Wölkchen. Davon haben wir genug, die sind nicht so energieintensiv wie die Hölle, für deren Feuer reicht es hier oben bei uns schon lange nicht mehr. In Ihrem Fall habe ich die Anweisung, auf die Kleinste zu warten. Auf der werden sie dann in Ewigkeit zwischen Himmel und Erde um den Globus gleiten. Ach, da ist sie ja.“
Gabriel stand auf und zog die Frau zu einer grauen Wolke, die nicht größer war als eines ihrer Sitzkissen auf den Küchenstühlen.
„Und was ist mit meiner Harfe?“
„Harfe? Dafür reicht es bei Ihnen nicht. Diese Wolke, das ist alles, mehr gibt es nicht.“
Und seitdem sitzt die Arme auf diesem grauen Wölkchen und wenn es ihr zu viel wird, weint sie bitterlich und was Sie hier sehen, sind ihre Tränen. Leider nicht allzu viele, für die Pflanzen reicht es nicht. Sie sehen es ja, alles verdampft sofort.“
Und tatsächlich sah ich einen Hauch von Dampf von dem Feld aufsteigen und dann hörten die kleinen Regentropfen so plötzlich wieder auf, wie sie gekommen waren. Als ich mich dem Bauern wieder zuwenden wollte, stand er nicht mehr da, konnte ich ihn auch sonst wo nirgends entdecken, war verschwunden, wie er gekommen war. Von mir völlig unbemerkt. Wie ein Geist, aber an die habe ich damals schon nicht geglaubt.
Es reichte mir! Ich stand auf, ging zügig durch die pralle Sonne zurück zu meinem Wagen, schaltete die Klimaanlage an und fuhr zum nächsten Termin, ohne auch nur einen Blick zurück zum Dorf oder zur kleinen grauen Wolke über mir zu werfen. Ich habe diese Wolke seitdem auch nie wieder gesehen. Wer weiß, vielleicht reichte es irgendwann ja doch noch für die alte Frau „Es reicht nicht“ und das Paradies oder auch ihr Wölkchen ist einfach wegrationalisiert worden.

(c) Bild und Text: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013

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