Ja,
es hat sich etwas geändert über die Generationen hin, von unseren Eltern und
Großeltern zu den Urenkeln, unseren Kindern. Etwas hat sich geändert.
Als
mein Lieblingsonkel tödlich verunglückte, mit seinem Motorrad auf den Wagen
eines alten Bauern prallte, der einfach von einem Feldweg auf die Straße
gebogen war, an einem wunderbaren Frühlingstag mit strahlender Sonne und erster
Wärme, Vorboten eines heißen Sommers, der in dem Jahr auch tatsächlich folgte,
da hatte ich nur leise geweint, immerhin schon geweint, und das als Mann, mein
kleiner Sohn aber, der hatte geschrien, hatte es nicht ausgehalten in der
Wohnung und war auf den Balkon hinausgestürzt und hatte geschrien, die ganze
Nachbarschaft zusammen geschrien, so sehr, dass allen, die es hörten, plötzlich
ein wahnsinniger Schmerz in die Brust kam, als hätte sein Schrei Pfeile
losgeschickt und sie damit tief getroffen.
Als
ich in seinem Alter war und meine
Geschwister starben habe ich nicht geschrien und nur wenig Tränen für sie übrig
gehabt und die Erwachsenen um mich herum hatten nur düster geguckt, die Frauen leise
geschluchzt, und beim Butterkuchen in der Gaststätte danach war es schon wieder
normal, man redete, lachte, prahlte. Niemand veränderte sich durch den Tod
eines anderen. Nur die Frauen, die trugen nach dem Ableben ihrer Männer bis zu
ihrem eigenen Tod schwarz. Die Männer hingegen hielten sich selten an das
Trauerjahr, was aber kaum auffiel, da die vorherrschende Farbe zu jener Zeit in
ihren Anzügen und Hosen sowieso dunkel- oder schmutziggrau war und schwarz. Nur
die Hemden stachen hervor, bei denen, die ins Büro gingen mit waschmittelweiß
und bei denen, die von ihrer Hände Arbeit lebten, matt bunt, kariert und
gestreift, meist dumpfes Blau, bräunliches Orange oder gelbliches Rot.
Auf
jeden Fall wurde nicht geweint, schon gar nicht vor uns Kindern. Zum Weinen
ging man ins Kino, vor allem die Frauen, was den Männern einerseits peinlich
war, andererseits ihnen das Gefühl gab, überlegen zu sein ihren Frauen,
zumindest beim Filmgucken.
Mit
der Zeit kam es mir so vor, als trauerten die Witwen nicht wirklich mit ihren
schwarzen Klamotten, es sei denn, sie hatten ein Kind verloren, dann bekamen
sie sich nicht wieder ein, schauten über Jahre hinweg traurig aus bei den
Familienfeiern, schluchzten plötzlich einfach so vor sich hin, schluchzten vor
allem jeden Heiligabend, dass es allen anderen peinlich war und niemand Bock
auf das Fest mehr hatte.
So
ging es auch meiner Mutter. Sie trug zwar nicht lange schwarz, heulte aber
jeden Heiligabend, so dass ich irgendwann es aufgab mit ihr zu feiern.
War
ein Traueranlass über uns hereingebrochen, begann vor allem das Schweigen sich
bei uns stärker noch als sonst breit zu machen. Man schwieg, lachte weniger,
erzählte nur langsam, fast stockend und wir Kinder mühten uns auf Zehenspitzen
zu gehen.
Nur
selten brach einmal hervor, dass sie ja schon zu viele beerdigt hatten,
verloren geben oder auf dem Schlachtfeld lassen mussten, der Tod also wohl ein
häufiger Gast gewesen war, bevor ich dazu kam in ihre Beerdigungen.
Und
so taten sie alles für das Leben und nichts für den Tod, die Trauer und den
Schmerz. Sie liebten, in meinen Augen jedenfalls, die Steine, denn die ließen
sich gut übereinander stapeln, verfugen, zu dicken Wänden hochziehen, hinter
denen sie dann ihr Schweigen leben konnten, was uns Kindern schwer fiel, ewig
dies ruhig sein sollen, ruhig sitzen, nicht krakeelen, erst reden wenn man
gefragt wird, schweigen, wenn Erwachsene reden, und statt die Gelegenheit zu
nutzen, ihnen zu zuhören, hörten wir bald weg, wenig zu, versanken in unseren
Gedanken und Tagträumen, wo wir reden konnten und schreien, bis sie uns
herausrissen mit:“Träumst Du schon wieder, iss!“
Denn
das Essen war ihnen wichtig und das Trinken, alles musste leer werden, die
Teller, die Gläser, nichts durfte übrig bleiben, sonst „scheint morgen die
Sonne nicht!“ Und wenn es regnete oder stürmte fragte ich mich zu Beginn
wirklich, ob ich schuld sei, weil ich mal wieder das Brot nicht hatte schlucken
können und der Braten mir quer hing im Hals.
Auf
jeden Fall trauerten die Witwen bestimmt nicht wirklich, im Gegenteil, sie
schienen mir froh zu sein, das Kapitel Mann hinter sich zu haben und oft hörte
ich den Satz: „Mir kommt kein Kerl mehr ins Haus.“ Überhaupt schienen wir
Männer unangenehm zu sein, zumindest für Frauen. Sie wurden selten berührt oder
umarmt. Das taten die Männer eher mit ihren Frauen, während die Frauen uns Kinder
immer mal wieder, bisweilen fast heimlich berührten und umarmten, manchmal
leise seufzend und viel zu fest und wir wussten meist nicht warum eigentlich
und ob sie wirklich uns und nicht sich selbst umarmten und drückten.
Schmerz
war nie ein Thema, war tabu und hatten wir uns einmal weh getan, dann galt es
schnell mit dem Heulen auf zu hören, denn das war irgendwie nicht gut, ja
gefährlich für unsere Entwicklung, gehörte sich außerdem nicht.
Kurz
ja, lang nein.
Die
Männer schienen die Schmerzen im Gegensatz zu uns Kindern geradezu zu suchen,
den Schmerz kalten Frostes auf der Jagd oder beim Bau ihrer Häuser, den Schmerz
der Hitze auf der Haut im Sommer auf den Feldern, den Schmerz bei der Arbeit,
beim Sport durch hartes zu packen, alles wurde getan, damit Muskeln und Rücken
schmerzten und je weher es tat umso mehr wurden wir Mann, taugten wir was,
bekamen Hoffnung für unser Leben, dass aus uns was werden könnte.
Es
war ein fremder Schmerz, der von außen kam und den Schmerz in uns weg schob
zermalmte, irgendwohin schoss, wo wir ihn manchmal auch nie mehr wieder fanden,
nur spüren taten wir ihn, in der Stille, dem Schweigen und so waren wir froh,
dass der Fernseher erfunden worden war, in unsere Wohnzimmer kam und wir alle
zusammen schweigen konnten ohne, dass es weh tat, wir uns und die anderen noch
spürten und nur bei Liebesfilmen und solchen aus dem Krieg heulten mal wieder
die Frauen und die Männer tranken ihr Bier, sahen resigniert zu ihnen hin und
zwinkerten uns zu, die wir gierig von den Chips naschten.
Nicht
geschwiegen wurde bei Kameradschaftsabenden oder im Verein. Da ging es
stattdessen laut zu, wurde sich berührt, heftig, durch Schulterklopfen und
Anrempeln.
Gerne
gingen die Männer zur Jagd und zum Militär. Die noch auf Übung durften, waren
die Helden und Beneideten. Das Wort Kameradschaft hing sehr hoch über allen
Dächern der Zeit, vor allem in den Eckkneipen und Bierzelten. Da schwappte sie
hoch, über und nur der Alkohol konnte sie zerstäuben. Dann prügelten sich die
Männer, die Frauen mühten sich zu schlichten und am nächsten Morgen trugen die
Männer stolz ihre Pflaster durch die Gegend.
Als
meine Frau und ich heirateten, weinte eine Nachbarin plötzlich los, wir waren
gerade beim Schleiertanz angekommen und alle waren fröhlich, alkoholisiert und
genossen das Fest. Nur sie saß da und weinte. Und als wir sie fragten, was denn
wäre, da antwortete sie schluchzend, dass das Fest so schön sei, wie sie es
noch nie erlebt hätte, keiner würde sich streiten, keiner sich prügeln, das
hätte sie noch bei keinem Fest so erlebt und das mit ihren 80 Jahren.
Wir
sahen sie verwundert an und manch einer konnte sich das gar nicht vorstellen.
Aber ich wusste, sie hatte Recht, es gab genügend Feiern die auch in meinem
Leben so ausgegangen waren. Ich fand es außerdem toll, dass sie den Mut gehabt
hatte so etwas uns hier zu erzählen.
Ein
anderes Wort gehörte auch zu der Zeit: die Selbstbeherrschung.
Selbstbeherrschung war ihnen wichtig. Für sich selbst und uns. Auch bei Wut,
denn die überkam uns oft. Es reichten Kleinigkeiten und wir wären am liebsten
ausgeflippt. Aber wer das tat, dem ging es schlecht, bisweilen setzte es dann
Hiebe oder man musste in die Ecke oder ins Bett. Und das, wo die Erwachsenen
ständig über irgendwelchen Mist wütend waren, sofort losbrüllten oder schlugen.
Wobei es noch schlimmer uns traf, wenn nichts davon geschah bei den Frauen, die
einen nur traurig ansahen, seufzten, uns nicht umarmten, sich abwandten und auch
mal zu weinen begannen, dann hatten wir das Gefühl Verbrecher geworden zu sein,
unser ganzes Leben zerstört zu haben und ihres gleich mit. Wir waren zu nichts
nütze, wie es auch oft hieß und sollten froh sein, dass wir heute lebten und
nicht damals.
Bis
dann wieder das laute Schweigen begann, das Treiben des Tages, die Beschaffung
von Wohlstand, das, was uns helfen sollte „es einmal besser zu haben“ wofür wir
gefälligst dankbar beitragen sollten und vor allem schweigen, die Wut
verschweigen, die Trauer und auch die Freude. Denn die zeigte man auch nur sehr
verhalten. Zu laute Freude brächte Unglück hieß es.
Mein
Sohn kümmert sich um so etwas nicht, lacht, weint, freut sich, trauert und wir
können daran teilhaben. Das hat sich geändert von uns zu ihm. Er zeichnet und
malt gerne, nicht selten sind seine Themen auch Schmerz, Trauer oder Wut. Wir
wissen inzwischen, dass wir uns deswegen keine Sorgen um ihn machen müssen,
denn er lässt ja nur raus was auch in uns sitzt und gelegentlich mal frei sein
möchte. Die Freude fällt ihm schwerer. Auch ihm gerät sie eher zu einem Witz,
einem Gag als zu echter dargestellter Freude.
Vielleicht
schaffen das die nächsten Generationen, sich einfach frei und losgelöst zu
freuen, nicht schadenfroh oder glücklich über Siege, nein einfach so Freude,
weil das Leben bisweilen schön ist und ein Wunder, dass wir in der meist toten
Unendlichkeit des Universums auf unserem Planeten erleben dürfen. Vielleicht.
Bis
dahin bleiben uns Schmerz, Trauer, Wut. Ein Leben lang. Davon zu schweigen ist
Betrug am Leben, an uns, bringt uns auf die Dauer um, streicht uns aus den
Möglichkeiten des Lebens und der Liebe. Das Schweigen zerstörte uns damals die Nähe,
denn das Schweigen ließ Nähe nicht zu, machte sie schmerzhaft, war eine Kraft,
die uns von einander abstieß.
Warum
machten wir das mit, wie schafften sie es und sich? Ich glaube es war der
Gehorsam, den sie von den Schlachtfeldern und aus den Fabriken in ihre
Wohnungen mitbrachten und dem sie sich verpflichtet fühlten wie der
Kameradschaft und ihrem Bild vom Leben, von Mann und Frau, Gehorsam war stets
die Basis.
Der
Gehorsam war es, wenn die Frauen nachts die Männer an sich ran und hinein
ließen, Gehorsam waren so auch wir Kinder, als Schüler, als Lehrlinge, bei der
Arbeit und bei Tisch, selbst bei den Vergnügungen wie den seltenen Ausflügen,
ersten Urlaubsfahrten oder im Schwimmbad. Immer war genügend Raum für den
Gehorsam und wenig Raum für uns, unsere Bedürfnisse, für Schmerz, Trauer und
Wut, ja auch die Freude hatte zu gehorchen, war ein fest zu schnürendes Paket
und kein echtes Lebenszeichen.
Weniger
typisch schien mir mein Großvater für das alles zu sein, anders und
altersmilder, hatte ja auch nur kurz gedient, war nicht in den Kriegen an den unzähligen
Fronten dabei gewesen.
Er
trank zwar gerne, passte aber auf, dass er nicht dem Alkohol zu sehr auf den
Leim ging. Und so ging er nach dem Tod seiner Frau nicht in die Kneipe sondern
regelmäßig in den Puff. Das war wohl seine Art, den Schmerz und die Einsamkeit zu
überstehen. Er war kein lauter aber sehr wohl auch ein Schweiger und kam meist
nur richtig aus sich heraus nach ein paar Gläschen Schnaps. Dennoch gelang bei
ihm Nähe und es entstand auch Geborgenheit. Ihm gehorchten wir ohne großes
Tamtam seinerseits. Dennoch, auch er gehorchte und gab stumm weiter, was wir
nicht ahnten, wie so viele, was nie besprochen wurde, dass sie nämlich Fremde waren,
„Pollacken“ wie sie geschimpft wurden, arme Leute die auf der Suche nach Lohn,
Brot und Dach über dem Kopf in unser Land gezogen waren, mein Großvater und
seine Geschwister noch als Kinder. Aber als ich sie kennenlernte waren sie alle
Deutsche geworden, ohne Spuren ihrer wahren Herkunft.
Es
wurde wie so vieles verschwiegen und mit dem Schweigen übergaben sie uns
schweigend und stumm all die Gräuel, die sie erfahren hatten und von denen sie wussten
und manchmal des Nachts in ihren Träumen heimgesucht wurden.
Und
wir liefen damit los, ahnten es nicht, wussten nichts damit an zu fangen,
begannen, als wir es später in uns zu spüren bekamen, Gründe zu suchen,
begannen davon angetrieben zu schreien, zu demonstrieren, brachen jede Menge
Streit vom Zaun mit ihnen und füllten Bücher und Filme damit, trafen selten den
wahren Kern, begriffen die wirkliche Ursache nicht.
Der
Schrei meines Sohnes an jenem Frühlingstag ließ mich hoffen, dass vielleicht
die Zeit langsam kommt, dass die Gefühle zu ihren wahren Ursachen zurückkehren
und sich endlich frei bewegen können. Und darum verschwiegen wir ihm nichts.
Er
kennt unser Gepäck und malt und zeichnet es, ohne daran zu ersticken oder über
den Moment hinaus daran zu leiden: Schmerz, Trauer, Wut. Die Begleiter jeden
erfüllten Lebens. Es bewegt sich in diesem Land.
Der
Gehorsam verschwand aus den Räumen und liegt nicht mehr über den Dächern.
Leider kam in letzter Zeit die Resignation an und nistete sich, wohl für
längere Zeit, in vielen Hütten ein. Aber das ist ein anderes Thema, eine andere
Zeit.
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