Samstag, 31. August 2013

Vom Verlust der Ruinen



20 Jahre nach dem letzten großen Krieg im letzten Jahrhundert gab es noch Polizisten, die nachts nach dem Rechten sahen und die Leute sagten „Wachtmeister“ und niemand „Bulle“ zu ihnen.
Eine besonders schöne Tour, so meinte der alte Wachtmeister Gerhard, hatte er in seinem Dorf, nachdem er seinen Rundgang um Kirche, Rathaus, Tankstelle und dem Laden der alten Müllerin beendet hatte, denn nun ging es zur kleinen Burgruine derer von Schlechtern, die hier im Mittelalter ihren ersten Stammsitz hatten, ihn aber schon in der zweiten Generation aufgaben, da sie es durch Heirat geschafft hatten, noblere Beherbergungen zu beziehen. Seitdem verfiel die Burg.
In diesen Tagen kamen schon wieder Touristen nur wegen der romantischen Gemäuer, ließen ihre Kinder zwischen den Wänden herumtoben und machten Picknick, wo einst der Burghof war. Da die Mauern immer noch gefährlich waren, weil einsturzgefährdet, patrouillierte er hier regelmäßig. Vor allem erwischte er schon mal Pärchen, die hier die Nacht fern ihrer Erziehungsberechtigten im Liebesspiel zu verbringen suchten.
Da die Burg auf einer leichten Anhöhe lag, hatte er von hier einen guten Blick über das Dorf, konnte sehen, wo die Kamine rauchten, die Öfen also schon oder noch an waren und wo nicht, wer schon Geld für neue Dachziegel hatte und wer nicht, konnte den Stolz der Männer im Wirtschaftswunderland als Farbtupfer zwischen den Häuserreihen ausmachen und an den Bäumen, in welcher Jahreszeit er sich befand.
Er war mit dem Anblick zufrieden, alle Spuren dieses Unseligen mit seinem 3. Reich waren getilgt und ihm kam es so vor, als wäre das Dorf heute schöner als in den Jahren vor dem Kerl und seiner Meute.
Seine beiden Söhne konnten darin nicht mehr mitwirken und sich erfreuen, sie waren beide in Russland gefallen. Auch seine Frau konnte er nicht mehr nach hier oben mitnehmen, sie lag seit Kriegsende auf dem Friedhof, hatte den Frieden nicht mehr lebend erreicht. Der Verlust der Söhne hatte ihre angeschlagene Gesundheit zu sehr gequält. Er und auch die Medizin in Persona des guten alten Doktor Markward waren dagegen machtlos gewesen.
Und jetzt befand sich Wachtmeister Gerhard in so etwas, was sie nach dem Krieg „Bratkartoffelverhältnis“ nannten, bei einer Kriegerwitwe, wovon es immer noch genug hier gab. Er war zufrieden, sie war es und sie freuten sich auf seine Pension. Ihr Garten war groß genug, ihn für den Rest seines Lebens zu beschäftigen.
In dieser Nacht schien der Vollmond über die Kanten und Zacken des Gemäuers und verwandelte die Ruine in eine bizarre Landschaft, was ihn jedes Mal wieder zum Staunen und Rätseln brachte. Wo kam der Schatten her, woher der?
Vor dem Wehrturm, der als einziges noch völlig erhalten war, machte er kurz halt, bevor er vorsichtig hineintrat. Er wollte so einem möglichen Pärchen Gelegenheit geben, sich schnell etwas an zu ziehen. Aber als er hineinsah, lag dort kein Pärchen sondern ein kleiner Steppke. Er erschrak, war er doch Kinder in der Nacht an einem solchen Platz nicht gewohnt und musste daher erst überlegen, wie er richtig reagieren könnte.
Er trat vorsichtig näher, sah eine Milchflasche, einen Schulranzen und eine Pfeife neben dem Jungen liegen, der sich wohl eine Wolldecke von zu Hause mitgebracht, und die bis zum Kinn hochgezogen hatte. Er lag auf Gras, dass er sich dafür vom Vorplatz genommen haben musste und hier zu einer Lagerstatt zusammengebaut hatte. Dorfwachtmeister Gerhard hatte die Stellen gesehen bei seinem Rundgang, sich aber nichts weiter dabei gedacht.
Erst dachte er, der Junge schliefe, bis er sah, dass der ihn mit halboffenen Augen ängstlich ansah.
„Na Du, was machst Du denn hier in der Nacht?“
Er bekam keine Antwort, nur dass die Augen des Jungen, wohl vor Schreck, erst ganz zu gingen, dann aber weit geöffnet wurden und ihn anstarrten.
Wachtmeister Gerhard ging im gebührenden Abstand vorsichtig vor dem Jungen in die Hocke.
„Keine Angst, ich muss hier nur nachgucken und aufpassen, dass nichts passiert. Ich tue Dir nichts, ist ja auch nicht verboten, dass Du hier liegst.“
Das sagte er, obwohl er sich da nicht sicher war, denn Wildcampen war verboten, andererseits hatte der Junge ja kein Zelt mit und so war es doch auch kein Campen.
Der Junge schien, zumindest dem Gesicht nach, gut genährt und genügend an der frischen Luft zu sein. Auf die Haare allerdings wartete bestimmt schon der Friseur.  Die Decke sah eher nach einem gut bürgerlichem Elternhaus und nicht nach Bauern oder Arbeiter aus.
Er musste etwas tun, nur was? Minderjährige gehörten nach Hause, zu ihren Eltern, das war klar. Irgendwie musste er den Jungen dazu bringen, sich zu öffnen und zu erzählen, bis er bereit war mit ihm zu gehen.
Gerhard befürchtete, dass der Junge vielleicht einen schlimmen Grund hatte, von zu Hause weg zu laufen. Oder kam er aus einem Heim? Wenn ja, musste er von weit her hierhin gekommen sein, aus der Kreisstadt, die hatten ein Heim. Andererseits sahen er und Decke nicht danach aus.
Der Krieg hatte vieles durcheinander gebracht in den Familien und das war noch immer spürbar und sichtbar in den Straßen und Stuben. Von ihren verbitterten Vätern geschlagene Kinder, Kriegswaisen, Schlüsselkinder, die niemanden zu Hause hatten, Streuner, für die noch immer Schwarzmarktzeit war, Frauen, verzweifelt auf der Suche nach einem Ernährer oder  Spaß und Wärme in der Nacht, Männer die gleiches suchten oder gar nichts mehr, ihren Kummer jeden Tag im Alkohol ertränkten. Was draußen gelungen war, äußerlich an Straßen, Häusern und Gärten, war innen drin noch längst nicht repariert und ausgebessert.
Vielleicht verlieren wir den Schmerz nie, vielleicht haben wir ihn auch schon weiter gereicht an die Kinder? Dieser große, bohrende Schmerz, der auf jeden Fall nachts zu ihnen kam, immer wieder, diese Alpträume schuf und so manchen schreiend aufwachen ließ.
Es dauert lang, bis sich die Wunden wieder schließen im Land, dachte Gerhard und wartete stumm auf eine Reaktion des Jungen.
Der richtete sich langsam auf, wobei die Decke etwas nach unten rutschte und Gerhard sah, dass der Junge einen dicken Pullover an hatte, so einen, wie ihn  die Frauen am Abend vor dem Radio die wenigsten hier hatten schon Fernseher, aus den Mustervorlagen der Modeillustrierten abschauten.
Reden wollte der Bub schein‘s immer noch nicht. Sah nur weiter zu Wachtmeister Gerhard und wartete, dass der wieder zu ihm sprach.
Gerhard tat ihm den Gefallen.
„Ich sehe, Du hast eine Pfeife mit. Hast Du denn auch Tabak?“
Der Junge reagierte endlich, nickte immerhin.
„Wollen wir zusammen eine smöken?“
Wieder nickte der Junge. Gerhard griff sich dessen Pfeife, holte aus seiner Uniformhose den Lederbeutel mit Kurzschnitttabak aus Virginia. Er stopfte damit die Pfeife und reichte sie dem Jungen.
„Probier mal, das ist mein Lieblingstabak. Kommt aus Amerika, Virginia. Da würde ich gerne mal hin. Du auch? Ich meine, würdest Du auch gerne mal nach Amerika gehen?“
Der Junge schüttelte den Kopf und sah zu wie Gerhard sich selbst eine Pfeife stopfte, den Tabakbeutel wieder einsteckte, ein Sturmfeuerzeug, blank geputzt, so dass sich der Mond mit seinen blauen Strahlen darauf spielen konnte, aus der Hosentasche zog.
„Ich dachte, weil, Deine Pfeife erinnert mich an Huck Finn, dem Freund von Tom Sawyer. Von denen hast Du doch gelesen?“
Der Junge nickte und Gerhard hielt ihm das Feuerzeug hin. Der Junge klappte den Deckel auf und zog gierig und hastig an der Pfeife, so dass die Flamme rauf und runter tanzte, zwischendurch fast ganz im Tabak verschwand.
„Langsam Junge, mit Genuss, sonst werden Tabak und Pfeife zu heiß und das brennt Dir dann auf der Zunge. Langsam und kräftig musst Du ziehen.“
Er machte es ihm vor und tatsächlich wurde der Junge ruhiger und tat ihm nach. Dann reichte er ihm das Feuerzeug, noch brennend, zurück. Gerhard setzte seine Pfeife ebenfalls in Gang und klappte den Deckel zu, sah das Feuerzeug einen Moment an, legte es dann zu den Utensilien des Jungen.
„Kannst Du haben, wenn Du willst.“
Der Junge sah es einen Moment an. Mehr nicht. Kein Nicken. Kein Dank.
„Magst Du mir denn Deinen Namen verraten? Ich bin der Anton Gerhard, ja, Du hörst richtig. Ich bin aus zwei Vornamen geschnitzt.“
„Willi,“ kam es ganz leise von dem Jungen.
„Habe ich richtig gehört: Willi heißt Du?“
Der Junge nickte, griff immerhin nun doch zu dem Feuerzeug, nahm es in beide Hände, betrachte das Spiel der Mondlichter darauf, drehte es und schwieg.
„Kannst Du nicht nach Hause?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Bist Du weggelaufen?“
Da nickte er und Gerhard sah, wie dem Jungen kleine Tränen auf die Wangen liefen.
„Haben sie Dich geschlagen?“
Wieder schüttelte der Junge den Kopf, besann sich aber nach ein paar Sekunden und beschloss zu reden:
„Nein, es ist, weil, nun ist auch mein Bruder tot, und davor der Opa, die Oma, und ja, der Jürgen, der mein Freund war und die Mama und keiner weint, alle halten den Mund, sitzen da, schweigen und das geht doch nicht, und Onkel Paul hat einen Witz erzählt, da haben die gelacht und Papa hat nur gefragt, wer was zu trinken will. Und da bin ich weg, und draußen hat die Sonne geschienen, und alles war so bunt und mir war doch zum Heulen zu Mut, und ich konnte doch mit niemanden reden, weil ich doch dann geweint hätte und geheult wie ein Schoßhund, wie Papa immer schimpft und da bin ich hierher getürmt und hab‘ die Ruinen gefunden und das ist gut, dass das hier kaputt ist, denn im Dorf ist doch auch alles kaputt und Du siehst es nicht, alles so heil und in Ordnung, darf ich nichts schmutzig machen und hier ist es wie es ist, kaputt und dreckig und ich dachte, da wohnt der Tod, der sie alle geholt hat, und vielleicht holt der mich hier auch und ich bin nicht mehr allein und kann endlich reden und weinen und dann bin ich eingeschlafen und als Sie kamen, Onkel, da dachte ich erst Sie wären der Tod, aber der Tod hat doch bestimmt keine Uniform und der raucht auch nicht Pfeife.“
Gerhard war baff, staunte den Jungen an, hörte andächtig zu, verstand höchstens die Hälfte und hatte doch das Gefühl, dass der Bub etwas ganz wichtiges gesagt haben musste. Etwas darüber, was möglicherweise schief lief, nicht nur in ihrem Dorf.
„Und jetzt? Was machen wir jetzt?“ fragte er ihn nach einer weiteren Weile des Schweigens.
„Weiß nicht.“
Gerhard hörte sich antworten: „na, das ist doch schon immerhin etwas.“, verstand selber nicht, was er damit sagen wollte, denn natürlich war das noch nichts und irgendwie wusste er selber nicht, was tun, dabei war ihm schon klar, dass er den Knaben zurück zu seinen Eltern zu bringen hatte. Aber er tat es nicht, dachte nicht daran, dachte kaum etwas, wartete, saß und sah dem Jungen bei seinem Spiel mit dem Feuerzeug zu. Und dann geschah es ihm, kam von ganz tief unten, der Schmerz schuf Wasser in ihm, Unmengen an Wasser und das wollte aus ihm raus und er glitt von der Hocke in den Schneidersitz, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, wusste, er brauchte jetzt viel und starken Halt wenn das Wasser kam und schon begannen die Krämpfe, traten die Tränen aus den Augen heraus, strömten ihm über das Gesicht und er sah nichts mehr, wehrte sich nicht, ließ es geschehen, genoss es sogar, hatte ein Gefühl, als wenn das Wasser ihm eine große Last von Brust und Schultern spülte und das Zucken seines Körpers kam ihm fast vor wie ein Tanz, ein Tanz der Befreiung von all seinem Kummer und all den Sorgen, all der Trauer, die er wie so viele hier ganz tief mit sich trug und nie besprach, nie mit Worten umgab, alles das schwemmte jetzt aus ihm fort und als es weniger wurde, blinzelte er durch den Wassernebel auf seinen Augen zu dem Jungen hin und sah, dass auch der zuckte und laut weinte, von eben solchen Krämpfen geschüttelt.
So ging es eine Weile und nur langsam ließen Zucken und Wasser nach. Der Junge war es, der zuerst sprach.
„Trümmer alle weg, nur hier noch, geht doch nicht, wo Leben ist, muss auch der Tod sein, sonst ist alles tod“.
Gerhard fragte sich, woher der Junge nur solche Gedanken und Bilder haben konnte und nickte und sagte laut und fest: „Ja, da hast Du wohl verdammt recht, mein Junge!“
Er blieb die Nacht über bei dem Jungen, brachte ihn erst am Morgen zu dessen zu Hause, das, wie sich herausstellte im Nachbardorf lag und so wurde ihm klar, warum er den Jungen bisher nie gesehen hatte, setzte sich zu dem Vater, sprach lange mit ihm, bis der zu weinen begann und so, unter Tränen, seinen Willi rief, den in den Arm nahm, und erst da stand der alte Wachtmeister Gerhard auf, brummelte leise einen Abschiedsgruß und ging.
Es war ein langer Weg nach Hause, aber er froh über die Zeit, hatte jetzt viel zu bedenken und war sich rasch klar, dass wenig zu tun war, die Welt lief und rannte wie sie halt lief und rannte, er aber etwas erlebt hatte, was ihm ab heute den Weg leichter machte und er mehr bei sich war, seinen Gefühlen und was sonst noch so alles verschüttet gewesen war durch die schrecklichen Zeiten und den Wiederaufbau.
Er traf Willi nie wieder, sah nur dessen Vater einmal von weitem im Baumarkt.
Jahre später kam es ihm bisweilen vor, dass er den Willi gar nicht getroffen hatte, sondern sich selbst, Anton Gerhard, klein und zutiefst verletzt, verlassen, überfordert von Krieg und Trümmerabbau, und das er selber dort gelegen hätte, tränenlos, mit dem großen Schmerz in der Brust ohne Worte und der Sehnsucht nach der Wiederkehr der Ruinen in der Plastik und Asphaltwelt der Neuzeit, ihrer hektischen Danachzeit.

Immerhin, er weinte jetzt leichter und schneller bei entsprechenden Anlässen und hatte gelernt den Schmerz mit Worten aus zu statten und so mit anderen zu teilen.

(c) Bild und Text: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013

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