20
Jahre nach dem letzten großen Krieg im letzten Jahrhundert gab es noch
Polizisten, die nachts nach dem Rechten sahen und die Leute sagten „Wachtmeister“
und niemand „Bulle“ zu ihnen.
Eine
besonders schöne Tour, so meinte der alte Wachtmeister Gerhard, hatte er in
seinem Dorf, nachdem er seinen Rundgang um Kirche, Rathaus, Tankstelle und dem
Laden der alten Müllerin beendet hatte, denn nun ging es zur kleinen Burgruine derer
von Schlechtern, die hier im Mittelalter ihren ersten Stammsitz hatten, ihn
aber schon in der zweiten Generation aufgaben, da sie es durch Heirat geschafft
hatten, noblere Beherbergungen zu beziehen. Seitdem verfiel die Burg.
In
diesen Tagen kamen schon wieder Touristen nur wegen der romantischen Gemäuer,
ließen ihre Kinder zwischen den Wänden herumtoben und machten Picknick, wo
einst der Burghof war. Da die Mauern immer noch gefährlich waren, weil
einsturzgefährdet, patrouillierte er hier regelmäßig. Vor allem erwischte er
schon mal Pärchen, die hier die Nacht fern ihrer Erziehungsberechtigten im Liebesspiel
zu verbringen suchten.
Da
die Burg auf einer leichten Anhöhe lag, hatte er von hier einen guten Blick
über das Dorf, konnte sehen, wo die Kamine rauchten, die Öfen also schon oder
noch an waren und wo nicht, wer schon Geld für neue Dachziegel hatte und wer
nicht, konnte den Stolz der Männer im Wirtschaftswunderland als Farbtupfer
zwischen den Häuserreihen ausmachen und an den Bäumen, in welcher Jahreszeit er
sich befand.
Er
war mit dem Anblick zufrieden, alle Spuren dieses Unseligen mit seinem 3. Reich
waren getilgt und ihm kam es so vor, als wäre das Dorf heute schöner als in den
Jahren vor dem Kerl und seiner Meute.
Seine
beiden Söhne konnten darin nicht mehr mitwirken und sich erfreuen, sie waren
beide in Russland gefallen. Auch seine Frau konnte er nicht mehr nach hier oben
mitnehmen, sie lag seit Kriegsende auf dem Friedhof, hatte den Frieden nicht
mehr lebend erreicht. Der Verlust der Söhne hatte ihre angeschlagene Gesundheit
zu sehr gequält. Er und auch die Medizin in Persona des guten alten Doktor Markward
waren dagegen machtlos gewesen.
Und
jetzt befand sich Wachtmeister Gerhard in so etwas, was sie nach dem Krieg „Bratkartoffelverhältnis“
nannten, bei einer Kriegerwitwe, wovon es immer noch genug hier gab. Er war
zufrieden, sie war es und sie freuten sich auf seine Pension. Ihr Garten war
groß genug, ihn für den Rest seines Lebens zu beschäftigen.
In
dieser Nacht schien der Vollmond über die Kanten und Zacken des Gemäuers und
verwandelte die Ruine in eine bizarre Landschaft, was ihn jedes Mal wieder zum
Staunen und Rätseln brachte. Wo kam der Schatten her, woher der?
Vor
dem Wehrturm, der als einziges noch völlig erhalten war, machte er kurz halt,
bevor er vorsichtig hineintrat. Er wollte so einem möglichen Pärchen
Gelegenheit geben, sich schnell etwas an zu ziehen. Aber als er hineinsah, lag
dort kein Pärchen sondern ein kleiner Steppke. Er erschrak, war er doch Kinder
in der Nacht an einem solchen Platz nicht gewohnt und musste daher erst
überlegen, wie er richtig reagieren könnte.
Er
trat vorsichtig näher, sah eine Milchflasche, einen Schulranzen und eine Pfeife
neben dem Jungen liegen, der sich wohl eine Wolldecke von zu Hause mitgebracht,
und die bis zum Kinn hochgezogen hatte. Er lag auf Gras, dass er sich dafür vom
Vorplatz genommen haben musste und hier zu einer Lagerstatt zusammengebaut
hatte. Dorfwachtmeister Gerhard hatte die Stellen gesehen bei seinem Rundgang,
sich aber nichts weiter dabei gedacht.
Erst
dachte er, der Junge schliefe, bis er sah, dass der ihn mit halboffenen Augen
ängstlich ansah.
„Na
Du, was machst Du denn hier in der Nacht?“
Er
bekam keine Antwort, nur dass die Augen des Jungen, wohl vor Schreck, erst ganz
zu gingen, dann aber weit geöffnet wurden und ihn anstarrten.
Wachtmeister
Gerhard ging im gebührenden Abstand vorsichtig vor dem Jungen in die Hocke.
„Keine
Angst, ich muss hier nur nachgucken und aufpassen, dass nichts passiert. Ich
tue Dir nichts, ist ja auch nicht verboten, dass Du hier liegst.“
Das
sagte er, obwohl er sich da nicht sicher war, denn Wildcampen war verboten,
andererseits hatte der Junge ja kein Zelt mit und so war es doch auch kein
Campen.
Der
Junge schien, zumindest dem Gesicht nach, gut genährt und genügend an der
frischen Luft zu sein. Auf die Haare allerdings wartete bestimmt schon der
Friseur. Die Decke sah eher nach einem gut bürgerlichem Elternhaus und nicht nach Bauern oder Arbeiter aus.
Er
musste etwas tun, nur was? Minderjährige gehörten nach Hause, zu ihren Eltern,
das war klar. Irgendwie musste er den Jungen dazu bringen, sich zu öffnen und
zu erzählen, bis er bereit war mit ihm zu gehen.
Gerhard
befürchtete, dass der Junge vielleicht einen schlimmen Grund hatte, von zu
Hause weg zu laufen. Oder kam er aus einem Heim? Wenn ja, musste er von weit
her hierhin gekommen sein, aus der Kreisstadt, die hatten ein Heim.
Andererseits sahen er und Decke nicht danach aus.
Der
Krieg hatte vieles durcheinander gebracht in den Familien und das war noch
immer spürbar und sichtbar in den Straßen und Stuben. Von ihren verbitterten
Vätern geschlagene Kinder, Kriegswaisen, Schlüsselkinder, die niemanden zu
Hause hatten, Streuner, für die noch immer Schwarzmarktzeit war, Frauen,
verzweifelt auf der Suche nach einem Ernährer oder Spaß und Wärme in der Nacht, Männer die
gleiches suchten oder gar nichts mehr, ihren Kummer jeden Tag im Alkohol
ertränkten. Was draußen gelungen war, äußerlich an Straßen, Häusern und Gärten,
war innen drin noch längst nicht repariert und ausgebessert.
Vielleicht
verlieren wir den Schmerz nie, vielleicht haben wir ihn auch schon weiter
gereicht an die Kinder? Dieser große, bohrende Schmerz, der auf jeden Fall
nachts zu ihnen kam, immer wieder, diese Alpträume schuf und so manchen
schreiend aufwachen ließ.
Es
dauert lang, bis sich die Wunden wieder schließen im Land, dachte Gerhard und
wartete stumm auf eine Reaktion des Jungen.
Der
richtete sich langsam auf, wobei die Decke etwas nach unten rutschte und
Gerhard sah, dass der Junge einen dicken Pullover an hatte, so einen, wie
ihn die Frauen am Abend vor dem Radio die
wenigsten hier hatten schon Fernseher, aus den Mustervorlagen der Modeillustrierten abschauten.
Reden
wollte der Bub schein‘s immer noch nicht. Sah nur weiter zu Wachtmeister
Gerhard und wartete, dass der wieder zu ihm sprach.
Gerhard
tat ihm den Gefallen.
„Ich
sehe, Du hast eine Pfeife mit. Hast Du denn auch Tabak?“
Der
Junge reagierte endlich, nickte immerhin.
„Wollen
wir zusammen eine smöken?“
Wieder
nickte der Junge. Gerhard griff sich dessen Pfeife, holte aus seiner
Uniformhose den Lederbeutel mit Kurzschnitttabak aus Virginia. Er stopfte damit
die Pfeife und reichte sie dem Jungen.
„Probier
mal, das ist mein Lieblingstabak. Kommt aus Amerika, Virginia. Da würde ich
gerne mal hin. Du auch? Ich meine, würdest Du auch gerne mal nach Amerika
gehen?“
Der
Junge schüttelte den Kopf und sah zu wie Gerhard sich selbst eine Pfeife
stopfte, den Tabakbeutel wieder einsteckte, ein Sturmfeuerzeug, blank geputzt, so
dass sich der Mond mit seinen blauen Strahlen darauf spielen konnte, aus der Hosentasche
zog.
„Ich
dachte, weil, Deine Pfeife erinnert mich an Huck Finn, dem Freund von Tom
Sawyer. Von denen hast Du doch gelesen?“
Der
Junge nickte und Gerhard hielt ihm das Feuerzeug hin. Der Junge klappte den Deckel
auf und zog gierig und hastig an der Pfeife, so dass die Flamme rauf und runter
tanzte, zwischendurch fast ganz im Tabak verschwand.
„Langsam
Junge, mit Genuss, sonst werden Tabak und Pfeife zu heiß und das brennt Dir
dann auf der Zunge. Langsam und kräftig musst Du ziehen.“
Er
machte es ihm vor und tatsächlich wurde der Junge ruhiger und tat ihm nach.
Dann reichte er ihm das Feuerzeug, noch brennend, zurück. Gerhard setzte seine
Pfeife ebenfalls in Gang und klappte den Deckel zu, sah das Feuerzeug einen
Moment an, legte es dann zu den Utensilien des Jungen.
„Kannst
Du haben, wenn Du willst.“
Der
Junge sah es einen Moment an. Mehr nicht. Kein Nicken. Kein Dank.
„Magst
Du mir denn Deinen Namen verraten? Ich bin der Anton Gerhard, ja, Du hörst
richtig. Ich bin aus zwei Vornamen geschnitzt.“
„Willi,“
kam es ganz leise von dem Jungen.
„Habe
ich richtig gehört: Willi heißt Du?“
Der
Junge nickte, griff immerhin nun doch zu dem Feuerzeug, nahm es in beide Hände,
betrachte das Spiel der Mondlichter darauf, drehte es und schwieg.
„Kannst
Du nicht nach Hause?“
Der
Junge schüttelte den Kopf.
„Bist
Du weggelaufen?“
Da
nickte er und Gerhard sah, wie dem Jungen kleine Tränen auf die Wangen liefen.
„Haben
sie Dich geschlagen?“
Wieder
schüttelte der Junge den Kopf, besann sich aber nach ein paar Sekunden und
beschloss zu reden:
„Nein,
es ist, weil, nun ist auch mein Bruder tot, und davor der Opa, die Oma, und ja,
der Jürgen, der mein Freund war und die Mama und keiner weint, alle halten den
Mund, sitzen da, schweigen und das geht doch nicht, und Onkel Paul hat einen
Witz erzählt, da haben die gelacht und Papa hat nur gefragt, wer was zu trinken
will. Und da bin ich weg, und draußen hat die Sonne geschienen, und alles war
so bunt und mir war doch zum Heulen zu Mut, und ich konnte doch mit niemanden
reden, weil ich doch dann geweint hätte und geheult wie ein Schoßhund, wie Papa
immer schimpft und da bin ich hierher getürmt und hab‘ die Ruinen gefunden und
das ist gut, dass das hier kaputt ist, denn im Dorf ist doch auch alles kaputt
und Du siehst es nicht, alles so heil und in Ordnung, darf ich nichts schmutzig
machen und hier ist es wie es ist, kaputt und dreckig und ich dachte, da wohnt
der Tod, der sie alle geholt hat, und vielleicht holt der mich hier auch und
ich bin nicht mehr allein und kann endlich reden und weinen und dann bin ich
eingeschlafen und als Sie kamen, Onkel, da dachte ich erst Sie wären der Tod,
aber der Tod hat doch bestimmt keine Uniform und der raucht auch nicht Pfeife.“
Gerhard
war baff, staunte den Jungen an, hörte andächtig zu, verstand höchstens die
Hälfte und hatte doch das Gefühl, dass der Bub etwas ganz wichtiges gesagt haben
musste. Etwas darüber, was möglicherweise schief lief, nicht nur in ihrem Dorf.
„Und
jetzt? Was machen wir jetzt?“ fragte er ihn nach einer weiteren Weile des
Schweigens.
„Weiß
nicht.“
Gerhard
hörte sich antworten: „na, das ist doch schon immerhin etwas.“, verstand selber
nicht, was er damit sagen wollte, denn natürlich war das noch nichts und
irgendwie wusste er selber nicht, was tun, dabei war ihm schon klar, dass er
den Knaben zurück zu seinen Eltern zu bringen hatte. Aber er tat es nicht,
dachte nicht daran, dachte kaum etwas, wartete, saß und sah dem Jungen bei
seinem Spiel mit dem Feuerzeug zu. Und dann geschah es ihm, kam von ganz tief
unten, der Schmerz schuf Wasser in ihm, Unmengen an Wasser und das wollte aus
ihm raus und er glitt von der Hocke in den Schneidersitz, lehnte sich mit dem
Rücken an die Wand, wusste, er brauchte jetzt viel und starken Halt wenn das
Wasser kam und schon begannen die Krämpfe, traten die Tränen aus den Augen
heraus, strömten ihm über das Gesicht und er sah nichts mehr, wehrte sich
nicht, ließ es geschehen, genoss es sogar, hatte ein Gefühl, als wenn das
Wasser ihm eine große Last von Brust und Schultern spülte und das Zucken seines
Körpers kam ihm fast vor wie ein Tanz, ein Tanz der Befreiung von all seinem
Kummer und all den Sorgen, all der Trauer, die er wie so viele hier ganz tief
mit sich trug und nie besprach, nie mit Worten umgab, alles das schwemmte jetzt
aus ihm fort und als es weniger wurde, blinzelte er durch den Wassernebel auf
seinen Augen zu dem Jungen hin und sah, dass auch der zuckte und laut weinte,
von eben solchen Krämpfen geschüttelt.
So
ging es eine Weile und nur langsam ließen Zucken und Wasser nach. Der Junge war
es, der zuerst sprach.
„Trümmer
alle weg, nur hier noch, geht doch nicht, wo Leben ist, muss auch der Tod sein,
sonst ist alles tod“.
Gerhard
fragte sich, woher der Junge nur solche Gedanken und Bilder haben konnte und
nickte und sagte laut und fest: „Ja, da hast Du wohl verdammt recht, mein
Junge!“
Er
blieb die Nacht über bei dem Jungen, brachte ihn erst am Morgen zu dessen zu
Hause, das, wie sich herausstellte im Nachbardorf lag und so wurde ihm klar,
warum er den Jungen bisher nie gesehen hatte, setzte sich zu dem Vater, sprach
lange mit ihm, bis der zu weinen begann und so, unter Tränen, seinen Willi
rief, den in den Arm nahm, und erst da stand der alte Wachtmeister Gerhard auf,
brummelte leise einen Abschiedsgruß und ging.
Es
war ein langer Weg nach Hause, aber er froh über die Zeit, hatte jetzt viel zu bedenken
und war sich rasch klar, dass wenig zu tun war, die Welt lief und rannte wie
sie halt lief und rannte, er aber etwas erlebt hatte, was ihm ab heute den Weg
leichter machte und er mehr bei sich war, seinen Gefühlen und was sonst noch so
alles verschüttet gewesen war durch die schrecklichen Zeiten und den
Wiederaufbau.
Er
traf Willi nie wieder, sah nur dessen Vater einmal von weitem im Baumarkt.
Jahre
später kam es ihm bisweilen vor, dass er den Willi gar nicht getroffen hatte,
sondern sich selbst, Anton Gerhard, klein und zutiefst verletzt, verlassen,
überfordert von Krieg und Trümmerabbau, und das er selber dort gelegen hätte,
tränenlos, mit dem großen Schmerz in der Brust ohne Worte und der Sehnsucht
nach der Wiederkehr der Ruinen in der Plastik und Asphaltwelt der Neuzeit, ihrer
hektischen Danachzeit.
Immerhin,
er weinte jetzt leichter und schneller bei entsprechenden Anlässen und hatte
gelernt den Schmerz mit Worten aus zu statten und so mit anderen zu teilen.
(c) Bild und Text: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013
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