Ich
könnte mich jetzt einfach umbringen. Ich könnte von unserer Fußgängerbrücke hier
vor mir auf die Schienen springen, die unter ihr kaum merklich zittern von der gerade
durchgefahrenen Regionalbahn.
Aufhängen
dagegen liegt mir nicht. Weiß nicht warum. Vielleicht weil sich Bekannte von
mir und Freunde dafür entschieden. Gute Freunde, gute Bekannte, die uns traurig
und vor allem hilflos hinter sich gelassen haben. Immer wieder geschah es in all
den Jahrzehnten.
Immer
wieder Fragen ohne Antworten, nur Mutmaßungen, ärztliche Hinweise, nichts für
unser gewohntes Weiterleben.
Andererseits
ist die Fußgängerbrücke zwar schön, weniger schön aber, dass ich nicht weit vom
Bahnhof landen würde. Wer weiß, wer das dann alles mitbekäme.
Der
Wirt vom Bahnhof hatte sich für das Aufhängen im Flur zu den Toiletten neben seinem Gastraum entschieden. Seine Witwe habe ich
gestern noch gesprochen. Nach 5 Jahren gibt sie nun auf, verlässt den Bahnhof, ihre
Wohnung dort, die Gaststätte, den Kiosk. Es hat sie zu sehr an ihn erinnert, an
ihren zerbrochenen Lebenstraum in dem Bahnhof zusammen alt zu werden.
So
verschwindet, was gut war und alle Reisenden erfreute. Und so möchte ich lieber
nicht in Erinnerung bleiben, so als Gespenst zwischen liebgewordenen Mauern.
Aber
die Brücke reizt mich. Vor Jahren bin ich fast jede Nacht auf sie rauf und
wieder runter gefahren. Immer wieder. Es war nach der OP, als sie mit einen
Nerv im rechten Fuß eingeklemmt haben und das bei ihren Untersuchungen nicht
heraus fanden. Und so schmerzte der Fuß, ließ mich nicht schlafen. Erst wenn ich
ihn auf der Brücke genug nieder getreten, schwieg der Schmerz, lange genug für
mich, endlich ein zu schlafen.
Oder
es ist dieser alte Traum vom Fliegen. Ich sehe gerne den Ski-Springern zu,
ihrem Flug von den Schanzen. Zu fliegen wie ein Vogel, oft habe ich es
geträumt. Immer wieder in den unruhigen Nächten, wenn der Stress mich nicht aus
seinen Klauen lässt. Fliegen, einfach abheben, davon gleiten. Fliegen, ja. Das
könnte es sein.
Vielleicht
ist es auch nur das Springen, das mich hier anlockt, die Sehnsucht schneller
vorwärts und raus aus der Tretmühle zu kommen. Im Springen war ich nie gut,
weder weit noch hoch, schon in der Schule nicht, schon gar nicht im
Sportunterricht auf dem Sportplatz. Springen statt Stehen, Gehen, ja Kriechen.
Springen, nicht schleichen, aufrecht, nicht geduckt und verhockt, die Augen
nach oben statt nach unten.
Bisweilen
wäre es mir auch ganz lieb ohne eigenen Aufwand in ein Grab getragen zu werden,
beerdigt mit leisen Reden und stillen Schluchzern, in Erinnerung bleibend durch
die Publizierung meiner Werke durch den Sohn, der das schon länger möchte. Aber
ich befürchte, der kommt auch nach meinem Dahinscheiden nicht dazu. Ihm kommt
immer etwas dazwischen. Vielleicht ist es ja auch besser so.
Meine
Werke? Nun, das sind kleine Texte über die Herkunft und den Sinn von Wörtern,
vor allem den neuen Wörtern, die wie Schnee im Winter auf uns kommen in den
Medien, den Gesprächen und Liedern. Worte wie „anbaggern“, „relativ“, „shitstorm“,
„tapen“, „freisetzen“ oder „Kollateralschäden“. Worte, die sich eingeschlichen
haben, ohne dass wir ihre wahre Herkunft oder Bedeutung noch erahnen. Tausende
von wunderschönen kleinen Texten habe ich darüber fabuliert, mal bissig, mal
zärtlich oder traurig, auch mal wütend und hitzig. In ihnen kann ich heute die
Achterbahn unserer und meiner Geschichte ablesen, nach empfinden, wie ich meine
Zeit jeweils empfunden habe. Ab und zu habe ich mal ein paar öffentlich
vorgetragen, stieß auf Wohlwollen, selten auf Begeisterung. Vielleicht lese ich
auch nicht gut genug, zu verklemmt, zu leise, vor allem weil es mir nicht
gelingen will das Nuscheln mir ab zu gewöhnen.
In
meinen Grabträumen aber sehe ich herrlich gestaltete kleine Bücher,
leinengebunden mit Dünndruckpapier und Goldschnitt. Alle haben ein seidenes
Lesebändchen. Und ich sehe sie auf Büchertischen liegen, unsere Buchhändlerin
höre ich sie empfehlen.
Dann
aber, am Ende dieser Träume, fällt mir auf, dass ich als Toter all das ja nicht
erleben kann. Es gelingt mir nicht, mich auf eine Wolke zu retten und von dort
das Geschehen genüsslich wohlwollend zu genießen. Auch kann ich mir das Dasein
auf so einer Wolke nur kalt und zugig vorstellen.
Bin
ich endlich aus dem Traum befreit, bleibt mir nur, fest zu stellen, dass es
besser ist lebend berühmt zu werden als nach dem Sterben. Denn da ist man
einfach tot und kriegt davon nichts mit.
Berühmt?
Wenn ich meine kleinen Werke so betrachte, fällt es mir schwer sie in eine
einem Buch angemessene Ordnung zu bringen. Es fehlt mir einfach jedes Gefühl
für Reih und Glied. Kann mich nicht entscheiden, was davon wohin oder gar nicht
hinein kommen sollte. Kann sie nur schreiben, in ihnen den Moment leben und das
sehr intensiv. Ein Buch würde sie verändern, sie mir fortnehmen. Es gäbe Anfang
und Ende bei ihnen, der Fluss wäre gestoppt. Übrig bliebe ein langweiliges
Staubecken, dass nichts mehr mit mir zu tun hätte.
Und
so schreibe ich weiter Text nach Text, ohne Rücksicht auf die überbordende Menge
an Material für meinen so bemüht denkendem Sohn und seiner Absicht, sie für
schöne Buchdeckel zu bändigen.
Irgendwie
hält mich das am Leben. Jeder Fluchtversuch in den Tod wird von ihnen abgelenkt
in den Genuss des Schreibens, Findens und auch Suchens, denn nicht immer weiß
ich den Hintergrund eines Wortes oder seines Ursprungs sofort. Aber ich weiß
wie viele Worte es noch gibt, über die ich bisher keine einzige kleine Zeile
geschrieben habe.
Das
also hindert mich am Springen, ist diese Fußgängerbrücke auch noch so schön und
wenn ich sie aussuchen müsste unter unzähligen anderen, es nur sie sein dürfte,
mir den Flug zu ermöglichen, diese fliegenden Sekunden vor dem Aufprall auf den
Schienen.
Unter
anderem hindert es mich.
Ein
paar Kilometer weiter von hier in Richtung Süden befindet sich eine
Schienenkurve, die leicht dort und sanft in Richtung unseres Städtchens sich
biegt. Dort werfen sich fast schon traditionell die Selbstmörder unsers
Landkreises vor die Züge, was des Öfteren zu unvorgesehenen Verspätungen führt
und die Begeisterung über die Strecke bei den Lokomotivführern, falls die heute
noch so heißen, in Grenzen hält. Wenn ich an die armen Männer denke, vergeht
mir sogar die Lust auf das Fliegen. Die meisten müssen danach ins Krankenhaus
und manche müssen ihren Beruf aufgeben. Das will ich nicht bewirken.
Also
kein Sprung von der Brücke, wobei ich ehrlich auch nicht wirklich glaube, dass
ich springen könnte. Genauso wie beim Autofahren.
Im
Auto auf meinem täglichen Weg zu unserem Nachbarstädtchen und zurück zu meiner
Familie zweigeschossigen Bleibe sind mir das erste Mal solche Gedanken
gekommen. Was wäre wenn ich jetzt einfach gegen einen Baum rase oder gegen den
großen LKW, der da vom Wind geschüttelt mir entgegen kommt?
Absichtlich
ausscheren wie der Türsteher unserer Discothek, der mit seinen kaputten Knochen
als ehemaliger Sportler nicht mehr weiter Teens und Twens ein- und auslassen
mochte. Der hatte einen Freund als Beifahrer mitgenommen in den Tod, war
einfach auf die Gegenfahrbahn gebogen, hatte dort einen PKW voll erwischt.
Überlebt hat keiner von ihnen.
Dabei
war der immer ein netter Kerl gewesen. Und dann sowas.
Nein,
nicht abbiegen, andere mitnehmen in den Tod. Vielleicht, ja wahrscheinlich
wollen die das in dem Moment gar nicht, vielleicht viel später einmal. Wer weiß.
Wie soll ich das hinter meiner Windschutzscheibe entscheiden. Herr über Leben
und Tod, nein, das war noch nie mein Bestreben.
Trotzdem
waren da diese kleinen grauen Gedanken, wie Schatten meiner kleinen Texte, Fußabdrücken
gleich, hartnäckig bohrend, wie Fliegen, die sich nicht fangen und vertreiben
lassen. Wie wäre es, wenn ich nur in Gedanken von der Fahrbahn, meiner Spur,
abkomme und dann …? Im Ergebnis gleich. Nicht ganz, ich würde zutiefst erschrocken
aufschrecken, für den Bruchteil einer Sekunde vielleicht und dann wäre es schon
vorbei.
Zu
gefährlich für andere Verkehrsteilnehmer. Aber die Brücke ist ja auch nicht
ideal. Hängen mag ich nicht. Gift ist mir zu rational, würde von mir verlangen
kalt und berechnend vor zu gehen. Aber darum geht es mir ja nicht. Es geht um
das halb bewusste Schweben, meine Sehnsucht, sanft zu entschlafen, einfach
davon zu gleiten.
Und
weiß doch nicht, warum eigentlich so eine Sehnsucht in mir herum schwirrt und
mich bisweilen ansticht. Ist das bei allen so, haben auch andere bisweilen
solche Gedanken? Ist es Sehnsucht oder doch nur Angst vor Tod und Sterben,
Angst davor, dass es über Demenz, langes Siechtum oder tagelange böse Schmerzen
auf uns zukommt?
Meine
Textarbeiten helfen mir da nicht. Sie antworten nicht auf Menschen, nur auf
ihre Sprache. „Suizid“ neutralisiert alles, enthebt es von der Dramatik der
Betroffenen. Bei den Spaniern dagegen klingt ihr „suicidio“ fast heiter. Das
nur auf Deutsch zusätzlich und eigenständig benutzte „Selbstmord“ kommt dagegen
juristisch daher und verurteilt im zweiten Teil des Wortes eine Handlung, die
vor Gericht eventuell noch als „Tötung im Affekt“ davon käme.
Was
sagt das über mein Volk, wenn es als einziges ein solches Wort benutzt? Oder
ist es nur ein Zeichen unserer Angewohnheit alles bürokratisch exakt zu
bezeichnen, juristisch geprüft und staubtrocken genug für möglicherweise sich
daraus ergebender und anzumeldender Ansprüche, von welcher Seite auch immer?
Zeigt
sich hier, wie wenig unser staatliches und sprachliches Leben die Trennung von
der Kirche im öffentlich-rechtlichen Leben durchzusetzen vermochte?
Selbstmörder
sind in der christlichen Religion nicht vorgesehen und Selbstmord gleichgesetzt
mit der Abtreibung, auch so ein merkwürdig typisches Deutsch. Selbstmörder
dürfen nicht zwischen den ansonsten, egal ob dahin gemordet, verunglückt oder
durch Krankheit Dahingeschieden, mit Stein und Kränzen Beerdigten ihren Platz einnehmen.
Für
Abtreibung benutzen andere in Europa vor allem den Stamm „Abort“, was dann doch
viel anders klingt. Über „Abtreibung“ wurde mein Text vor Jahren schon sehr viel
länger als sonst, da es mir wie ein „No-Go-Wort“ daher kam, eines, das keiner
Nachfrage stand hält.
Abtreiben
ist schließlich eher ein Vorgang auf dem Wasser, von Wellen, Strömung und Wind
begünstigt. Was die aber bei einem „Schwangerschaftsabbruch“, wiederum ein
wunderbar bürokratischer Begriff, zu suchen haben, wird mir ewig ein Rätsel
bleiben.
Also,
ich springe nicht. Heute nicht und wahrscheinlich auch nicht morgen. Meinen
eingeklemmten Nerv haben sie nach zwei Jahren ja auch endlich gefunden und
befreit. Seitdem kann ich ohne Brückentraining schlafen, setze zwar dadurch
mehr an und werde wieder kurzatmiger. Aber das liegt auch am Rauchen, meiner
Form des bequemen „sucidio“, dessen Folgen vielleicht, laut Statistik eher
wahrscheinlich, unangenehm sein dürften, mich aber nicht heute treffen. Also
lieber rauchen als abfliegen von der Brücke. So bin ich eben. Damit muss ich, will
ich leben. Ja, will! Doch.
In
diesem Moment jedenfalls, mich jucken da noch so ein paar Worte und meine
kleine Familie hängt auch noch an mir, trotz meiner Anhäufung von kleinen, von niemand
nachgefragten Textchen. Und wie könnte ich denen Kummer bereiten.
Ihre
Tränen möchte ich nicht „provozieren“, auch so ein Wort für das sich eine
Betrachtung meinerseits lohnt.
In diesem Sinne mit mir und der Brücke zufrieden
gehe ich nun weiter gestaltend meine Stunden die Brücke hinauf, den Zügen
hinterher zu schauen in der Hoffnung, dass heute sich keiner ihnen vor die Lok
werfen möchte. Es glitzern mir hier die Schienen wunderbar hinauf. Irgendwo
müssen auch sie enden, ist Schluss mit der Weiterfahrt der Züge. Irgendwo,
jeden Tag, in dieser Stunde, dieser Minute endet eine Strecke. Meine aber, so
hoffe ich, noch länger nicht. Beim Verlassen der Brücke, mit jedem Schritt nach
unten, spüre ich Erleichterung, sogar meine Lunge scheint sich vom Teer
befreien zu können und unten, ja unten angekommen bei der letzten Stufe, fühle
ich mich so leicht, als würde ich fliegen und nicht länger angepresst von der Erdanziehung
auf dem verkiesten Weg bis zur Kreuzung meine bis hierhin dahin gelebten
Jahrzehnte vorwärts quälen.
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