Freitag, 6. Dezember 2013

Auf der Brücke zwischen Leben und Springen


Ich könnte mich jetzt einfach umbringen. Ich könnte von unserer Fußgängerbrücke hier vor mir auf die Schienen springen, die unter ihr kaum merklich zittern von der gerade durchgefahrenen Regionalbahn.
Aufhängen dagegen liegt mir nicht. Weiß nicht warum. Vielleicht weil sich Bekannte von mir und Freunde dafür entschieden. Gute Freunde, gute Bekannte, die uns traurig und vor allem hilflos hinter sich gelassen haben. Immer wieder geschah es in all den Jahrzehnten.
Immer wieder Fragen ohne Antworten, nur Mutmaßungen, ärztliche Hinweise, nichts für unser gewohntes Weiterleben.
Andererseits ist die Fußgängerbrücke zwar schön, weniger schön aber, dass ich nicht weit vom Bahnhof landen würde. Wer weiß, wer das dann alles mitbekäme.
Der Wirt vom Bahnhof hatte sich für das Aufhängen im Flur zu den Toiletten neben seinem Gastraum entschieden. Seine Witwe habe ich gestern noch gesprochen. Nach 5 Jahren gibt sie nun auf, verlässt den Bahnhof, ihre Wohnung dort, die Gaststätte, den Kiosk. Es hat sie zu sehr an ihn erinnert, an ihren zerbrochenen Lebenstraum in dem Bahnhof zusammen alt zu werden.
So verschwindet, was gut war und alle Reisenden erfreute. Und so möchte ich lieber nicht in Erinnerung bleiben, so als Gespenst zwischen liebgewordenen Mauern.
Aber die Brücke reizt mich. Vor Jahren bin ich fast jede Nacht auf sie rauf und wieder runter gefahren. Immer wieder. Es war nach der OP, als sie mit einen Nerv im rechten Fuß eingeklemmt haben und das bei ihren Untersuchungen nicht heraus fanden. Und so schmerzte der Fuß, ließ mich nicht schlafen. Erst wenn ich ihn auf der Brücke genug nieder getreten, schwieg der Schmerz, lange genug für mich, endlich ein zu schlafen.
Oder es ist dieser alte Traum vom Fliegen. Ich sehe gerne den Ski-Springern zu, ihrem Flug von den Schanzen. Zu fliegen wie ein Vogel, oft habe ich es geträumt. Immer wieder in den unruhigen Nächten, wenn der Stress mich nicht aus seinen Klauen lässt. Fliegen, einfach abheben, davon gleiten. Fliegen, ja. Das könnte es sein.
Vielleicht ist es auch nur das Springen, das mich hier anlockt, die Sehnsucht schneller vorwärts und raus aus der Tretmühle zu kommen. Im Springen war ich nie gut, weder weit noch hoch, schon in der Schule nicht, schon gar nicht im Sportunterricht auf dem Sportplatz. Springen statt Stehen, Gehen, ja Kriechen. Springen, nicht schleichen, aufrecht, nicht geduckt und verhockt, die Augen nach oben statt nach unten.
Bisweilen wäre es mir auch ganz lieb ohne eigenen Aufwand in ein Grab getragen zu werden, beerdigt mit leisen Reden und stillen Schluchzern, in Erinnerung bleibend durch die Publizierung meiner Werke durch den Sohn, der das schon länger möchte. Aber ich befürchte, der kommt auch nach meinem Dahinscheiden nicht dazu. Ihm kommt immer etwas dazwischen. Vielleicht ist es ja auch besser so.
Meine Werke? Nun, das sind kleine Texte über die Herkunft und den Sinn von Wörtern, vor allem den neuen Wörtern, die wie Schnee im Winter auf uns kommen in den Medien, den Gesprächen und Liedern. Worte wie „anbaggern“, „relativ“, „shitstorm“, „tapen“, „freisetzen“ oder „Kollateralschäden“. Worte, die sich eingeschlichen haben, ohne dass wir ihre wahre Herkunft oder Bedeutung noch erahnen. Tausende von wunderschönen kleinen Texten habe ich darüber fabuliert, mal bissig, mal zärtlich oder traurig, auch mal wütend und hitzig. In ihnen kann ich heute die Achterbahn unserer und meiner Geschichte ablesen, nach empfinden, wie ich meine Zeit jeweils empfunden habe. Ab und zu habe ich mal ein paar öffentlich vorgetragen, stieß auf Wohlwollen, selten auf Begeisterung. Vielleicht lese ich auch nicht gut genug, zu verklemmt, zu leise, vor allem weil es mir nicht gelingen will das Nuscheln mir ab zu gewöhnen.
In meinen Grabträumen aber sehe ich herrlich gestaltete kleine Bücher, leinengebunden mit Dünndruckpapier und Goldschnitt. Alle haben ein seidenes Lesebändchen. Und ich sehe sie auf Büchertischen liegen, unsere Buchhändlerin höre ich sie empfehlen.
Dann aber, am Ende dieser Träume, fällt mir auf, dass ich als Toter all das ja nicht erleben kann. Es gelingt mir nicht, mich auf eine Wolke zu retten und von dort das Geschehen genüsslich wohlwollend zu genießen. Auch kann ich mir das Dasein auf so einer Wolke nur kalt und zugig vorstellen.
Bin ich endlich aus dem Traum befreit, bleibt mir nur, fest zu stellen, dass es besser ist lebend berühmt zu werden als nach dem Sterben. Denn da ist man einfach tot und kriegt davon nichts mit.
Berühmt? Wenn ich meine kleinen Werke so betrachte, fällt es mir schwer sie in eine einem Buch angemessene Ordnung zu bringen. Es fehlt mir einfach jedes Gefühl für Reih und Glied. Kann mich nicht entscheiden, was davon wohin oder gar nicht hinein kommen sollte. Kann sie nur schreiben, in ihnen den Moment leben und das sehr intensiv. Ein Buch würde sie verändern, sie mir fortnehmen. Es gäbe Anfang und Ende bei ihnen, der Fluss wäre gestoppt. Übrig bliebe ein langweiliges Staubecken, dass nichts mehr mit mir zu tun hätte.
Und so schreibe ich weiter Text nach Text, ohne Rücksicht auf die überbordende Menge an Material für meinen so bemüht denkendem Sohn und seiner Absicht, sie für schöne Buchdeckel zu bändigen.
Irgendwie hält mich das am Leben. Jeder Fluchtversuch in den Tod wird von ihnen abgelenkt in den Genuss des Schreibens, Findens und auch Suchens, denn nicht immer weiß ich den Hintergrund eines Wortes oder seines Ursprungs sofort. Aber ich weiß wie viele Worte es noch gibt, über die ich bisher keine einzige kleine Zeile geschrieben habe.
Das also hindert mich am Springen, ist diese Fußgängerbrücke auch noch so schön und wenn ich sie aussuchen müsste unter unzähligen anderen, es nur sie sein dürfte, mir den Flug zu ermöglichen, diese fliegenden Sekunden vor dem Aufprall auf den Schienen.
Unter anderem hindert es mich.
Ein paar Kilometer weiter von hier in Richtung Süden befindet sich eine Schienenkurve, die leicht dort und sanft in Richtung unseres Städtchens sich biegt. Dort werfen sich fast schon traditionell die Selbstmörder unsers Landkreises vor die Züge, was des Öfteren zu unvorgesehenen Verspätungen führt und die Begeisterung über die Strecke bei den Lokomotivführern, falls die heute noch so heißen, in Grenzen hält. Wenn ich an die armen Männer denke, vergeht mir sogar die Lust auf das Fliegen. Die meisten müssen danach ins Krankenhaus und manche müssen ihren Beruf aufgeben. Das will ich nicht bewirken.
Also kein Sprung von der Brücke, wobei ich ehrlich auch nicht wirklich glaube, dass ich springen könnte. Genauso wie beim Autofahren.
Im Auto auf meinem täglichen Weg zu unserem Nachbarstädtchen und zurück zu meiner Familie zweigeschossigen Bleibe sind mir das erste Mal solche Gedanken gekommen. Was wäre wenn ich jetzt einfach gegen einen Baum rase oder gegen den großen LKW, der da vom Wind geschüttelt mir entgegen kommt?
Absichtlich ausscheren wie der Türsteher unserer Discothek, der mit seinen kaputten Knochen als ehemaliger Sportler nicht mehr weiter Teens und Twens ein- und auslassen mochte. Der hatte einen Freund als Beifahrer mitgenommen in den Tod, war einfach auf die Gegenfahrbahn gebogen, hatte dort einen PKW voll erwischt. Überlebt hat keiner von ihnen.
Dabei war der immer ein netter Kerl gewesen. Und dann sowas.
Nein, nicht abbiegen, andere mitnehmen in den Tod. Vielleicht, ja wahrscheinlich wollen die das in dem Moment gar nicht, vielleicht viel später einmal. Wer weiß. Wie soll ich das hinter meiner Windschutzscheibe entscheiden. Herr über Leben und Tod, nein, das war noch nie mein Bestreben.
Trotzdem waren da diese kleinen grauen Gedanken, wie Schatten meiner kleinen Texte, Fußabdrücken gleich, hartnäckig bohrend, wie Fliegen, die sich nicht fangen und vertreiben lassen. Wie wäre es, wenn ich nur in Gedanken von der Fahrbahn, meiner Spur, abkomme und dann …? Im Ergebnis gleich. Nicht ganz, ich würde zutiefst erschrocken aufschrecken, für den Bruchteil einer Sekunde vielleicht und dann wäre es schon vorbei.
Zu gefährlich für andere Verkehrsteilnehmer. Aber die Brücke ist ja auch nicht ideal. Hängen mag ich nicht. Gift ist mir zu rational, würde von mir verlangen kalt und berechnend vor zu gehen. Aber darum geht es mir ja nicht. Es geht um das halb bewusste Schweben, meine Sehnsucht, sanft zu entschlafen, einfach davon zu gleiten.
Und weiß doch nicht, warum eigentlich so eine Sehnsucht in mir herum schwirrt und mich bisweilen ansticht. Ist das bei allen so, haben auch andere bisweilen solche Gedanken? Ist es Sehnsucht oder doch nur Angst vor Tod und Sterben, Angst davor, dass es über Demenz, langes Siechtum oder tagelange böse Schmerzen auf uns zukommt?
Meine Textarbeiten helfen mir da nicht. Sie antworten nicht auf Menschen, nur auf ihre Sprache. „Suizid“ neutralisiert alles, enthebt es von der Dramatik der Betroffenen. Bei den Spaniern dagegen klingt ihr „suicidio“ fast heiter. Das nur auf Deutsch zusätzlich und eigenständig benutzte „Selbstmord“ kommt dagegen juristisch daher und verurteilt im zweiten Teil des Wortes eine Handlung, die vor Gericht eventuell noch als „Tötung im Affekt“ davon käme.
Was sagt das über mein Volk, wenn es als einziges ein solches Wort benutzt? Oder ist es nur ein Zeichen unserer Angewohnheit alles bürokratisch exakt zu bezeichnen, juristisch geprüft und staubtrocken genug für möglicherweise sich daraus ergebender und anzumeldender Ansprüche, von welcher Seite auch immer?
Zeigt sich hier, wie wenig unser staatliches und sprachliches Leben die Trennung von der Kirche im öffentlich-rechtlichen Leben durchzusetzen vermochte?
Selbstmörder sind in der christlichen Religion nicht vorgesehen und Selbstmord gleichgesetzt mit der Abtreibung, auch so ein merkwürdig typisches Deutsch. Selbstmörder dürfen nicht zwischen den ansonsten, egal ob dahin gemordet, verunglückt oder durch Krankheit Dahingeschieden, mit Stein und Kränzen Beerdigten ihren Platz einnehmen.
Für Abtreibung benutzen andere in Europa vor allem den Stamm „Abort“, was dann doch viel anders klingt. Über „Abtreibung“ wurde mein Text vor Jahren schon sehr viel länger als sonst, da es mir wie ein „No-Go-Wort“ daher kam, eines, das keiner Nachfrage stand hält.
Abtreiben ist schließlich eher ein Vorgang auf dem Wasser, von Wellen, Strömung und Wind begünstigt. Was die aber bei einem „Schwangerschaftsabbruch“, wiederum ein wunderbar bürokratischer Begriff, zu suchen haben, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.
Also, ich springe nicht. Heute nicht und wahrscheinlich auch nicht morgen. Meinen eingeklemmten Nerv haben sie nach zwei Jahren ja auch endlich gefunden und befreit. Seitdem kann ich ohne Brückentraining schlafen, setze zwar dadurch mehr an und werde wieder kurzatmiger. Aber das liegt auch am Rauchen, meiner Form des bequemen „sucidio“, dessen Folgen vielleicht, laut Statistik eher wahrscheinlich, unangenehm sein dürften, mich aber nicht heute treffen. Also lieber rauchen als abfliegen von der Brücke. So bin ich eben. Damit muss ich, will ich leben. Ja, will! Doch.
In diesem Moment jedenfalls, mich jucken da noch so ein paar Worte und meine kleine Familie hängt auch noch an mir, trotz meiner Anhäufung von kleinen, von niemand nachgefragten Textchen. Und wie könnte ich denen Kummer bereiten.
Ihre Tränen möchte ich nicht „provozieren“, auch so ein Wort für das sich eine Betrachtung meinerseits lohnt.
In diesem Sinne mit mir und der Brücke zufrieden gehe ich nun weiter gestaltend meine Stunden die Brücke hinauf, den Zügen hinterher zu schauen in der Hoffnung, dass heute sich keiner ihnen vor die Lok werfen möchte. Es glitzern mir hier die Schienen wunderbar hinauf. Irgendwo müssen auch sie enden, ist Schluss mit der Weiterfahrt der Züge. Irgendwo, jeden Tag, in dieser Stunde, dieser Minute endet eine Strecke. Meine aber, so hoffe ich, noch länger nicht. Beim Verlassen der Brücke, mit jedem Schritt nach unten, spüre ich Erleichterung, sogar meine Lunge scheint sich vom Teer befreien zu können und unten, ja unten angekommen bei der letzten Stufe, fühle ich mich so leicht, als würde ich fliegen und nicht länger angepresst von der Erdanziehung auf dem verkiesten Weg bis zur Kreuzung meine bis hierhin dahin gelebten Jahrzehnte vorwärts quälen.

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