Dienstag, 3. Dezember 2013

Das Märchen von der Alm


Es war einmal in einem Land des kalten Nordens ein sehr armer Mann und eine ebenso arme Frau. Sie hatten im Krieg ihre Kindheit verbraucht und im Frieden ihre Kraft.
Die Frau war fünf Tage in der Woche, bisweilen auch sechs, in die Fabrik gegangen an ein Fließband und hatte dort schlechte von guten Corn Flakes getrennt.
Der Mann stand jeden Arbeitstag 10 Plätze weiter und klebte die Cartons mit den Corn-Flakes-Schachteln zu und fuhr Palette um Palette in das Lager.
So taten sie es jeden Tag, zu Beginn 10 bis 12 Stunden am Tag, später 8 bis 10 Stunden und von einem Tag zum anderen gar nicht mehr.
Der Fabrikbesitzer hatte eine neue Fabrik bauen lassen in einem anderen Land und seitdem gingen sie jeden Sonntag zu ihrer alten Fabrik. so wie andere Leute, zum Beispiel ihre Nachbarn, auf den Friedhof.
Verlassen stand die Fabrik vor sich hin, von Unkraut bewachsen und kam ihnen mehr und mehr vor wie ein Dornröschenschloss.
Diese beiden nun hatten 3 Jungen aber nur ein Mädchen. Die liebten sie über alles und opferten ihr ganzes Geld und ihre ganze Kraft, damit die es einmal besser haben können.
Es war die Zeit, in der solche Wünsche noch in Erfüllung gingen und so zogen die vier aus, ihr Glück in anderen Städten zu suchen.
Der erste Sohn machte eine Lehre in einer Bank, studierte danach BWL, was immer das heißen mochte, und bekam einen  besser bezahlten Job bei seiner Bank.
Er stieg rasch auf und wurde fast zu einem Kronprinzen unter einem Kronprinzen der fast ein Kronprinz unter einem Kronprinz geworden war, also eigentlich alle schon richtige Prinzen.
Der zweite Sohn machte eine KFZ-Lehre, fand einen Arbeitsplatz bei einer Fabrik die Autos baute, machte abends noch seinen Meister, dann den Ingenieur und stieg auf zu einem Kronprinzen unter einem Kronprinzen, na den Rest kennen Sie ja schon. Also auch fast schon prinzenmäßig, seine Kariere.
Das Mädchen aber konnte sich lange nicht recht entscheiden. Schließlich war ihr Geld alle und da sie nicht so naiv wie das Mädchen im Sterntalermärchen war, stellte sie sich an die Straße und verkaufte vorbeifahrenden Männern ihre Liebe. Das tat sie so gut und so oft, dass sie von dem damit verdienten Geld ein großes Haus kaufen konnte. Dann suchte sie andere Mädchen, die ihre Liebe an Männer verkaufen wollten und brauchte nicht mehr selber das zu tun. Sie behielt ihre Liebe von da an für sich selbst und wurde trotzdem reicher und reicher und konnte sogar da ihre teuren Kleider einkaufen, wo sonst nur echte Prinzessinnen einkaufen gehen. Nur für ihre Liebe fand sie niemanden, der sie umsonst, ja geschenkt genommen hätte, oder sie fand niemanden, dem sie ihrerseits ihre Liebe gerne geschenkt hätte.
Insoweit hängt dieses Märchen noch ein wenig dürr in der Luft.
Aber da fehlt ja auch noch ein Junge! Genau. Der Dritte! Der wanderte nicht weit in die weite Welt hinaus, trampte lieber, wenn es ihm zu Fuß zu weit war, und lernte so eher ausversehen fast die halbe Welt kennen. Mit der Zeit ging auch ihm das Geld aus. Er verkaufte nichts, nicht mal seine Liebe, sondern begann auf einem Bauernhof zu arbeiten als Knecht.
Eines Tages befahl ihn die Bäuerin in die gute Stube, die eigentlich nur an Festtagen und nach Beerdigungen genutzt wurde.
Ihr Knecht war daher sehr verwundert und etwas aufgeregt, als er die gute Stube betrat.
Die Bäuerin saß im großen Ohrensessel und ließ ihn auf einem Stuhl am Tisch Platz nehmen. Sie hatte sogar die Plastikdecken entfernen lassen, die ansonsten das Mobiliar vor zu viel Licht bewahren sollten.
„Hugo,“ begann sie. „Du hast vielleicht schon von meinem Bruder gehört, der einen Almhof in den Bergen besitzt?“
Er verneinte. Er hörte nie viel, arbeitete lieber vor sich hin ohne auf seine Umgebung zu achten.
„Macht nix. Der arme Kerl jedenfalls fühlt sich alt und sucht nun einen tatkräftigen Schwiegersohn. Ich habe ihm mitgeteilt, dass Du der Richtige dafür bist.“
Hugo, der dritte Sohn eines armes Mannes und nun Knecht war sprachlos.
„Und wenn ich lieber hierbleibe?“
„Das, lieber Hugo, wäre Unsinn. In diesem Märchen geht es gesittet zu und da macht der dritte Sohn stets sein Glück für ein gelungenes Happy End“
Und damit wies sie ihn aus der guten Stube, seine Sachen zu packen und fort zu ziehen.
Was sie ihm nicht gesagt hatte war, dass er ihr Angst gemacht hatte mit seiner bescheidenen Art. Nie hatte dieser Hugo es versucht Fast-Prinz bei ihr als Fast-Königin eines großen Hofes zu werden, was doch alle Kerle hier auf dem Hof ständig versuchten. Immer hatte der arme Hugo nur stumm seine Arbeit verrichtet, nicht schnell und nicht langsam, nicht besonders fröhlich und nie verärgert oder übellaunig. So jemand musste ihr unheimlich sein.
Hugo fand schnell heraus, dass es unmöglich ist zu einem Almhof hoch zu trampen und so machte er sich auf den längsten Fußmarsch seines Lebens.
Schließlich kam er zu einer jungen Frau, die trotz der heißen Sonne emsig Kräuter am Wegrand herausriss.
„Warum tust Du das, liebe Maid?“
„Bin keine Maid, lieb schon gar nicht. Siehst Du nicht, dass das Unkraut ist. Das muss weg, muss weg! Dummkopf, mach besser, dass Du weiter kommst.“
Hugo schüttelte den Kopf, verabschiedete sich höflich und ging weiter bis er zu einem groß gewachsenem Mann kam, der mit einer Säge Bäume fällte am Straßenrand.
„Warum tust Du das, hochverehrter Herr?“
„Bin kein Herr, hochverehrt schon gar nicht. Siehst Du nicht, wie gefährlich die Bäume für die Autos sind? Dummkopf, mach besser, dass Du weiter kommst.“
Etwas weiter oben traf Hugo eine alte Frau, die pflanzte kleine Bäumchen am Straßenrand.
„Warum liebe Frau, tut Ihr das?“
„Wegen der Schönheit, netter Knabe. Wegen der Schönheit der Natur.“
Bei der Frau blieb Hugo, half ihr eine Weile und durfte dafür bei ihr sein Nachtlager nehmen. Am nächsten Morgen trug sie einen schweren Sack mit Kräutersamen auf die Wiese. Er nahm ihn ihr sofort ab und half ihr beim Aussäen.
Er fragte sie erst gar nicht, warum sie das tat, dachte sich gleich, dass sie es für die Kühe tat, die um sie herum auf den Weiden ihr Futter suchten.
Aber als wenn sie seine Gedanken erraten hätte, nickte sie und sagte: „Richtig, lieber Knabe. Aber nun mache Dich auf zu dem alten Bauern. Er lebt wohl nicht mehr lange. Zum Dank für Deine Hilfe will ich Dir aber noch einen Rat mit auf den Weg geben:
„Seine böse Schwester hat Dir nicht gesagt, dass der Bauer jemanden für seine ungehorsame Tochter als Bräutigam sucht, eine sehr hübsche und kluge Tochter, wenn Du mich fragst. Bisher hat sie jeden Knecht wieder vom Hof verjagt, denn keiner konnte es ihr Recht machen. Der Alte hat nämlich jedem die Aufgabe gestellt den Hof größer und reicher zu machen, damit er sicher sein kann, dass seine Tochter auch künftig gut leben kann. Nun mein Rat für Dich, und höre gut zu und vergiss ihn nicht:
Nicht alles was mehr ist, ist auch mehr.
Nicht alles was größer ist, ist auch größer.
Nicht alles, was mehr Gewinn verspricht, ist auch mehr Gewinn!
Kannst Du Dir das merken.“
Hugo nickte, wenn er den Sinn auch nicht recht verstehen konnte. Trotzdem bedankte er sich artig und zog weiter seines Weges bis hinauf zu dem Almhof. Da rannte ihm laut fluchend ein kräftiger Kerl entgegen. Hugo hielt ihn an und fragte, warum der so wütend sei.
„Was soll ich nicht wütend sein, Du Narr, “ schrie der. „Habe ich doch seine Milchproduktion um das Doppelte gesteigert. Und was macht dessen verblödete Tochter. Sagt: „Nicht genug. Längst nicht genug!“ Die hat sie doch nicht mehr alle, die blöde Kuh. Und dann haben sie mich ohne einen Euro von ihrem Hof gejagt.“
Kurze Zeit später fand er einen jungen Mann heulend im Gras sitzen und der hatte Mastställe für tausende von Hühnern angelegt und war trotzdem davon gejagt worden. Er traf noch einen, der hatte eine Schweinemast aufgebaut, ein anderer wiederum eine Biogas-Anlage auf- und jede Menge Mais dafür angebaut und der letzte den er traf, der hatte Windanlagen auf die höchsten Erhebungen gebaut.
Hugo merkte sich all diese Versuche und sagte sich, dass die Tochter vielleicht etwas ganz anderes sich wünschen könnte, wenn die Alte Recht behalten sollte mit ihrem Spruch.
Auf dem Almhof angekommen fand er alle möglichen Ställe und Maschinen vor, nichts aber was ihn an einen Almhof erinnerte.
Er ging in das Bauernhaus und traf die Tochter in der Küche sitzen beim Schnippeln von Bohnen.
Sie begrüßten sich und er trug die Grüße und den Vorschlag seiner Bäuerin vor.
„Ach die! Die hat es bestimmt nicht gut mit Dir gemeint. Und mit uns sowieso nicht. Sie besucht uns nie und hält uns für arme Schlucker und Hinterwäldler.“
„Und, seid ihr das?“ fragte Hugo, ohne groß nach zu denken.
„Du gefällst mir. Mut hast Du anscheinend. Ja, lieber Herr Knecht, sind wir und das sogar gerne.“
Damit führte sie ihn zu den Stallungen zu ihrem Vater. Der begrüßte den neuen Kandidaten unwirsch und befahl ihm keine weitere Zeit zu verschwenden und los zu legen.
Das ließ sich Hugo nicht zweimal sagen. Er begann mit dem Abriss der Schweinestallungen seiner Vorgänger, die Tiere aber ließ er hinaus ins Freie, sich dort unbeschwert zu suhlen. Danach baute er den Schweinen größere Ställe, in denen sie Platz hatten und sich bewegen konnten.
Damit war er so beschäftigt, dass er Tochter und Vater ganz vergaß. Schließlich hielt es die Tochter nicht länger aus und kam zu ihm, zu fragen ob er fertig und dies sein Plan sei für ihre gemeinsame Zukunft. Mit großer Verwunderung sah sie dabei seine Arbeit an.
„Sag an, wie soll das jetzt mehr bringen?“
„Weniger ist mehr,“ antwortete ihr Hugo ruhig, ohne von seiner Arbeit auf zu blicken.
„Außerdem bin ich noch längst nicht fertig!“
Da er sich nicht weiter um sie kümmerte ging sie zurück zu ihrem Vater, dem zu berichten. Der hörte nur verwundert zu und nickte.
Hugo dagegen tat alles weiter genau so mit den Ställen für die Kühe und die Hühner. Auch von den Windanlagen ließ er nur drei stehen. Er verfütterte die großen Haufen an gekauftem Futter, allerdings jeden Tag etwas weniger, bis kein Körnchen mehr auf der Erde lag. Er begann wie die Alte Kräuter zu säen, an den Enden der Weiden neue Büsche und Bäume zu pflanzen, führte die Tiere jeden Tag dorthin, wo sie auf den Weiden genug Futter fanden. Die Biogas-Anlage fütterte er nur mit Abfällen und ließ aus den Maisflächen wieder wunderschöne Bergwiesen werden.
Mit der Zeit kamen immer mehr Wanderer, lobten alles und baten um Nahrung und Getränke. Diese brachte ihnen die Tochter gerne, froh auch etwas tun zu können. Die Besucher zahlten ihr gern auch die Preise, die sie auf einer alten Schiefertafel geschrieben hatte, ist doch umsonst nur der Tod.
Nach jeder seiner Aktionen aber kam die immer ungeduldiger werdende Tochter zu Hugo und stellte stets die gleiche Frage und erhielt von ihm stets die gleiche Antwort. Ganz zum Schluss baute er auch noch den alten Bauernhof zurück, entfernte alle Betonanbauten und gab den alten Balken und Dielen neuen Glanz.
Als danach die Tochter wieder kam, sagte er ihr:
„Hört, was eine alte Frau mir mitgab auf meinen Weg zu Euch:
Nicht alles was mehr ist, ist auch mehr.
Nicht alles was größer ist, ist auch größer.
Nicht alles was mehr Gewinn verspricht, ist auch mehr Gewinn!“
Da lachte die Tochter laut auf und rief: „So eine kleine, gemeine Verräterin, diese Alte! Ach, ich danke ihr dafür! Willst Du, lieber Hugo, mein Mann werden?“
„Nichts lieber als das“, antwortete Hugo und hob sie hoch und trug sie zu ihrem Vater in das Haus. Auch der gab erleichtert und mehr als froh seinen Segen dazu. Fühlte er sich doch endlich wieder wie zu Hause und jeden Tag lachten ihm die Tiere mehr zu, die so glücklich über Hugos Veränderungen schienen wie er.
Nur wenig später machten sie sich auf den Weg zu Hugos Vater, dem die schöne Nachricht und die Einladung zur Hochzeit zu überbringen.
Es hatte sich aber in der Zeit zugetragen, dass der älteste Bruder sich an der Börse verspekuliert hatte, einen Schlaganfall bekommen und nun verarmt in der kleinen Hochhauswohnung seiner immer noch armen Eltern hauste.
Auch der zweite war zurückgekommen. Der hatte zu viel und zu lange gearbeitet, bis er keinen Finger mehr rühren konnte und nachts nicht mehr schlafen. Man nannte seine Krankheit burn-out und er galt nicht länger als belastungs- und fast-prinzenfähig.
Ihre Schwester aber hatte ihr Haus an eine Räuberbande verloren, die nun ihre Mädchen Liebe verkaufen ließen, gegen noch mehr Geld als sie. Die Schwester hatte vor Zorn einen Herzinfarkt nach dem anderen bekommen und lag seitdem regungslos auf dem Sofa ihrer Eltern.
Diese Truppe trafen Hugo und seine Liebste bei ihrem Besuch an. Was gab es da für ein Staunen, das er als einziges Kind noch gesund und munter und offensichtlich auch bestens versorgt war. Sie herzten sich lange und konnten noch länger nicht aufhören einander zu erzählen, was ein jeder von ihnen erlebt hatte.
Am nächsten Morgen aber nahm Hugo seinen Vater zur Seite.
„Ich sehe nur eine Lösung, Vater. Ihr kommt alle mit auf unseren Hof, vielleicht, dass meine Geschwister dort wieder gesund werden.“
Und so geschah es ohne viel Protest von Seiten der anderen. Über dem Eingang des Almhofes aber ließ Hugo ein großes Schild anbringen mit dem Spruch der Alten.
Kaum hing es dort kam diese den Berg hoch und gratulierte dem Brautpaar.
„Na ja, Dank haste wohl genug, lieber Knabe, aber hier habe ich doch ein Brautgeschenk für Euch. Es sind die besten Kräuter, die ich finden konnte. Sie halten und machen Euch gesund, solange es nur im Leben möglich.“ Und verschwand am Morgen nach der von allen freudig und fröhlich gefeierten Hochzeit für alle Zeit.
Auf dem Almhof aber ging bald ein ganz anderes und fröhlicheres Leben los, so gut, dass der Vater der Braut auch länger leben wollte und auch alle Geschwister, nicht zuletzt dank der Kräuter, gesund wurden und munter.

Und weil Märchen so enden müssen, freuen sie sich und pflegen die Kräuter noch heute, wenn sie nicht doch längst gestorben sind, wie so manche Hoffnung, die in ihrem Märchen mitschwingt. Aber das wäre ja nicht märchenhaft. Und wem das nicht schmeckt, der sei verhext, wer dagegen etwas unternimmt, dem sein Leben nicht märchenlos verrinnt. Nun gebt ruh, dieses Märchenbuch ist jetzt zu.

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