Donnerstag, 12. Dezember 2013

Ein Missgeschick am Heiligen Abend


Es war in meinem vorletzten Jahr im Tal auf dem Weg zum Rhein zwischen den sanften Bergen an der Grenze zur Schweiz.
Ich war am Morgen des Heiligen Abends aufgestanden aus meinem Bett und wollte, schlaftrunken wie ich noch war, wohl nach dem Stubenofen sehen, dessen Bestückung mit Kohlen und Briketts aus dem Keller in mein tägliches Aufgabengebiet fiel. Jedenfalls an normalen Wochentagen, wenn Vater und Mutter fort zu ihrer Arbeit waren.
Ich öffnete also die Tür zum Wohnzimmer, war fast schon drinnen, als ich den Tannenbaum und darunter die Geschenke wahrnahm. Fast zeitgleich hörte ich meine Mutter nach mir schreien.
Das Grün des Baumes wirkte matt und stumpf im Tageslicht und war ohne das Leuchten der weißen Wachskerzen bar jeder Festlichkeit. Schnell schloss ich die Tür wieder und wendete mich in Richtung Küche. Meine Mutter stand bereits im Flur, hatte vor Zorn ein rotes Gesicht und schrie mich an.
Was ihre genauen Worte waren, weiß ich nicht mehr. Nur dass die Stimmung den ganzen Tag über verdorben war. Dass sie mir in ihrer Art wohl laut und immer wieder vorwarf, ihr die Stimmung verdorben zu haben und ich kein guter Junge sei, sondern verlogen und verschlagen und womit sie das denn verdient habe. Und dass ich mich gegen den Vorwurf zu verteidigen versuchte, absichtlich und neugierig die an diesem Tag verbotene Tür geöffnet zu haben. Ich wollte wirklich nicht schnüffeln. Es war ein Versehen, es war, weil ich noch nicht ganz wach war und daher nicht daran gedacht hatte, welcher Tag war.
Es war nicht möglich den Eltern das begreifbar zu machen und irgendwann dachte ich, dass es besser gewesen wäre, ihrer Sicht meines Missgeschicks, denn das war es für mich, nachzugeben und den Reumütigen zu spielen.
Bis zu diesem Tag, ich muss in der zweiten Klasse gewesen sein, glaubte ich noch irgendwie an den Weihnachtsmann, wollte an ihn glauben, trotz allerlei verschwörerische Hinweise seitens meiner Schulkameraden- und Freunde. Spielkameraden waren wir noch nicht, die gab es erst in späteren Zeiten. Spielten wir nicht? Damals, in unseren kurzen Lederhosen? Wahrscheinlich nicht. Wir stromerten herum, beobachteten die Erwachsenen und wir lasen, beziehungsweise betrachteten Filmplakate und Comics. Auch hingen wir wohl öfter vor Schaufenstern und wünschten uns etwas von den ausgestellten Waren. Auf jeden Fall nannten wir  uns Freunde, ohne Spiel davor.
Seit der morgendlichen Begegnung mit dem Tannenbaum geriet meine Weihnachtsmannvorstellung gefährlich ins Wanken. Waren es doch die Eltern, die das Zimmer für Heiligabend bestückten?
Auf jeden Fall kam der Abend und ich ging mit noch mehr Angst und klopfendem Herzen nach dem leisen Läuten der Glöckchen an der Hand meiner Mutter in die Stube. Mein Vater schaffte es mit seinem Frohsinn und dem von ihm angestimmten „Oh Tannenbaum“ rasch, die Laune in unserer kleiner gewordenen Familie zu heben. Es war das erste Weihnachten ohne die jüngeren Geschwister, die bereits beide bewegungslos und stumm in einem Krankenhaus lagen, und dann begann, als fast alles wieder gut schien, wie seitdem an jedem Heiligen Abend meine Mutter laut zu weinen und ließ sich nur schwer trösten vom Vater, während ich beruhigt und begeistert meine Geschenke auspackte.
Welche es in dem Jahr waren, weiß ich nicht mehr, nur meine Freude darüber, dass sie mir unter dem Tannenbaum geblieben waren und sich nicht verflüchtigt hatten wegen meines Missgeschickes, was die Mutter mir tagsüber angedroht hatte, daran kann ich mich noch heute gut erinnern. Und des Gefühls meinen Eltern gegenüber, die auf dem Sofa hockten, Mutter in Vaters Arm, weinend, von meinen Geschwistern redend, und nur schwer dazu zu bewegen, sich doch ihr Geschenk einmal an zu sehen, diese beiden, die mir nun ganz sicher die Schenkenden waren, meine Weihnachtsmänner und ich weiß noch, wie mir warm wurde bei diesem Gedanken. Das tröstete mich an dem Abend auch über die von mir so gefühlte Ungerechtigkeit der Vorwürfe hinweg.
So verlor ich zwar den Glauben an den Weihnachtsmann, gewann dafür aber den Glauben an meine so lieb schenkenden Eltern und ich begann sie kindgemäß noch mehr zu lieben.
Selbst heute noch, nach allerlei Streit und neuen „Ungerechtigkeiten“, den späteren Jahren des zornigen Schweigens und immer selteneren Begegnungen, vereint mehr in Verbitterung als in Verständnis und Liebe, lässt mich dieser Abend sie in einem milderen, versöhnlicherem Lichte erscheinen und mich in Gedanken manch Abbitte leisten.
Längst musste ich beide begraben, weit auseinander in zwei verschiedenen Städten und fern den Gräbern ihrer Kinder.

In der Erinnerung dieses Abends aber sind wir auf immer vereint, weinend meine Mutter, tröstend mein Vater, erleichtert ich und in Dankbarkeit ihnen zugewandt.

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