Posts mit dem Label Erinnerung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Erinnerung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 20. Januar 2014

Fahrt über Land


heute
mit dem Wagen
auf Landstraßen
durch Dörfer
matt schimmernde
Grünweiden
Ruhe gesucht
Frieden
Entspannung
neue Kraft
was hier so
am Feldrain liegt
bisweilen
um die Ecken biegt
Landschaftsglück
Heimatstücke
Wurzeln

Traktorentuckern
Juchzen meines Spiegelbildes
des Knaben
mit den kurzen Hosen
sein Treiben im Hühnerstall
Schweinsblasen zum Himmel fliegen
das Blut gehört der Wurst
die Schwarte knusprig gebraten
der Hintern versohlt
nach Missetaten
frage ich mich
immer noch
wie er das ohne Angst
getragen

der Kuss hinter der Scheune
neugieriges Tasten bei Besuch
in feuchtklammen Betten
Bilder deren Worte
nicht gesprochen wurden
Tabus ohne Hinweise
durch die Muttermilch
leibhaftig
in uns geworden
Scham kannten wir nicht

wer sich schämte
gehörte verdroschen
unsere Art Frieden
Ruhe und Glückseligkeit
als Messdiener
ungebrochen
der Herrgott verzeiht

gleitet mein Wagen
durch die Erinnerung
vorbei an den Kirchen
Gehöften
verloren der Frieden
Ruhe
Entspannung
zu viel erreicht
zu wenig
von dem
was die immer
schmurtzigen Hände
damals suchten
hemmungslos
ausprobierten
als wäre jeder Tag
nur für uns erfunden

endet die Fahrt
in der Dämmerung
Auto in der Garage
an der Fernbedienung
müde
entspannt
zufrieden
das was ich jetzt sehe
reicht
muss reichen
für den Rest
meines Lebens

unseren Kindern wächst
ein anderes Land
entgegen

(c) text + bild jörn laue-weltring lingen 2013

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Ein Missgeschick am Heiligen Abend


Es war in meinem vorletzten Jahr im Tal auf dem Weg zum Rhein zwischen den sanften Bergen an der Grenze zur Schweiz.
Ich war am Morgen des Heiligen Abends aufgestanden aus meinem Bett und wollte, schlaftrunken wie ich noch war, wohl nach dem Stubenofen sehen, dessen Bestückung mit Kohlen und Briketts aus dem Keller in mein tägliches Aufgabengebiet fiel. Jedenfalls an normalen Wochentagen, wenn Vater und Mutter fort zu ihrer Arbeit waren.
Ich öffnete also die Tür zum Wohnzimmer, war fast schon drinnen, als ich den Tannenbaum und darunter die Geschenke wahrnahm. Fast zeitgleich hörte ich meine Mutter nach mir schreien.
Das Grün des Baumes wirkte matt und stumpf im Tageslicht und war ohne das Leuchten der weißen Wachskerzen bar jeder Festlichkeit. Schnell schloss ich die Tür wieder und wendete mich in Richtung Küche. Meine Mutter stand bereits im Flur, hatte vor Zorn ein rotes Gesicht und schrie mich an.
Was ihre genauen Worte waren, weiß ich nicht mehr. Nur dass die Stimmung den ganzen Tag über verdorben war. Dass sie mir in ihrer Art wohl laut und immer wieder vorwarf, ihr die Stimmung verdorben zu haben und ich kein guter Junge sei, sondern verlogen und verschlagen und womit sie das denn verdient habe. Und dass ich mich gegen den Vorwurf zu verteidigen versuchte, absichtlich und neugierig die an diesem Tag verbotene Tür geöffnet zu haben. Ich wollte wirklich nicht schnüffeln. Es war ein Versehen, es war, weil ich noch nicht ganz wach war und daher nicht daran gedacht hatte, welcher Tag war.
Es war nicht möglich den Eltern das begreifbar zu machen und irgendwann dachte ich, dass es besser gewesen wäre, ihrer Sicht meines Missgeschicks, denn das war es für mich, nachzugeben und den Reumütigen zu spielen.
Bis zu diesem Tag, ich muss in der zweiten Klasse gewesen sein, glaubte ich noch irgendwie an den Weihnachtsmann, wollte an ihn glauben, trotz allerlei verschwörerische Hinweise seitens meiner Schulkameraden- und Freunde. Spielkameraden waren wir noch nicht, die gab es erst in späteren Zeiten. Spielten wir nicht? Damals, in unseren kurzen Lederhosen? Wahrscheinlich nicht. Wir stromerten herum, beobachteten die Erwachsenen und wir lasen, beziehungsweise betrachteten Filmplakate und Comics. Auch hingen wir wohl öfter vor Schaufenstern und wünschten uns etwas von den ausgestellten Waren. Auf jeden Fall nannten wir  uns Freunde, ohne Spiel davor.
Seit der morgendlichen Begegnung mit dem Tannenbaum geriet meine Weihnachtsmannvorstellung gefährlich ins Wanken. Waren es doch die Eltern, die das Zimmer für Heiligabend bestückten?
Auf jeden Fall kam der Abend und ich ging mit noch mehr Angst und klopfendem Herzen nach dem leisen Läuten der Glöckchen an der Hand meiner Mutter in die Stube. Mein Vater schaffte es mit seinem Frohsinn und dem von ihm angestimmten „Oh Tannenbaum“ rasch, die Laune in unserer kleiner gewordenen Familie zu heben. Es war das erste Weihnachten ohne die jüngeren Geschwister, die bereits beide bewegungslos und stumm in einem Krankenhaus lagen, und dann begann, als fast alles wieder gut schien, wie seitdem an jedem Heiligen Abend meine Mutter laut zu weinen und ließ sich nur schwer trösten vom Vater, während ich beruhigt und begeistert meine Geschenke auspackte.
Welche es in dem Jahr waren, weiß ich nicht mehr, nur meine Freude darüber, dass sie mir unter dem Tannenbaum geblieben waren und sich nicht verflüchtigt hatten wegen meines Missgeschickes, was die Mutter mir tagsüber angedroht hatte, daran kann ich mich noch heute gut erinnern. Und des Gefühls meinen Eltern gegenüber, die auf dem Sofa hockten, Mutter in Vaters Arm, weinend, von meinen Geschwistern redend, und nur schwer dazu zu bewegen, sich doch ihr Geschenk einmal an zu sehen, diese beiden, die mir nun ganz sicher die Schenkenden waren, meine Weihnachtsmänner und ich weiß noch, wie mir warm wurde bei diesem Gedanken. Das tröstete mich an dem Abend auch über die von mir so gefühlte Ungerechtigkeit der Vorwürfe hinweg.
So verlor ich zwar den Glauben an den Weihnachtsmann, gewann dafür aber den Glauben an meine so lieb schenkenden Eltern und ich begann sie kindgemäß noch mehr zu lieben.
Selbst heute noch, nach allerlei Streit und neuen „Ungerechtigkeiten“, den späteren Jahren des zornigen Schweigens und immer selteneren Begegnungen, vereint mehr in Verbitterung als in Verständnis und Liebe, lässt mich dieser Abend sie in einem milderen, versöhnlicherem Lichte erscheinen und mich in Gedanken manch Abbitte leisten.
Längst musste ich beide begraben, weit auseinander in zwei verschiedenen Städten und fern den Gräbern ihrer Kinder.

In der Erinnerung dieses Abends aber sind wir auf immer vereint, weinend meine Mutter, tröstend mein Vater, erleichtert ich und in Dankbarkeit ihnen zugewandt.

Donnerstag, 7. November 2013

Im Zollhäuschen


in der Grenzstation
dem Zollhäuschen
verblichener Zeiten
in Abwesenheit
deiner Eltern
hatten wir uns aufgemacht
uns selber zu erleben
Brust und Beugen
Arme Beine
Scham und Schwanz
was sich uns so bot
in den grauen Laken
beginnender
Waschmaschinenzeit

draußen, zwei Häuser weiter
die Opernsängerin nicht
für uns singend
Tonleiter übend
ihre Brust zu weiten
ihre Atemkraft
zu stärken
waren wir ihr überlegen
dank der Liebe fähig
ihr nerviges Brünsten
mit unserem Keuchen
lustgefüllt
zu übertönen

in der Grenzstation
verblichener Zeiten
hatten wir uns
wirklich geliebt
wie nur die Jugend
den Augenblick
als Ewigkeit
zu lieben vermag
hatten wir uns 
zärtlich wild vorgetraut

uns dennoch
zu verlieren
durch die Zeit
ihre Hintertriebenheit
ihre Schlangengruben
verpackten wir das Leid
unserer Trennung schnell
in neue Liebesbändel
Entdeckerreisen
unserer Finger Glieder
sanken wir hernieder
und auch nicht

bleibt uns
in des Alters Begegnung
beim nun mehr
gesittetem Plausch
in Deinem Hobbygarten
diese Grenzstation
dem Zollhäuschen
verblichener Zeiten
Deinem Elternhaus
für immer
der Liebe
jüngstes und fröhlichstes
Treiben
längst zerschlissener
Hoffnung Antlitz
als unserer beider
Gewissheit Pfand
richtig und völlig
geliebt zu haben
fern vom Verstand

nahe beim Herzen

Freitag, 25. Oktober 2013

Unterschiedliche Werte


Als der alte Mann zurück in das große Haus kam, hörte er schon auf der Terrasse das Weinen seines Enkels im Salon. Sofort ging er dort hinein, nach dem Rechten zu sehen. Er fand seinen Enkel auf den Knien vor den Scherben der großen Vase, die das Hochzeitsgeschenk für die im letzten Jahr verstorbene Ehefrau gewesen war. Eine teure Vase, ein wertvolles Geschenk, das sie immer sehr gerne angesehen und mit schönen Blumen aus ihrem Garten befüllt hatte.
Der alte Mann setzte sich neben seinen Enkel auf den Boden, achtete nicht auf die Pfütze, die ihm die Hose durchnässte, nahm seinen Enkel in den Arm und fragte ihn leise, was denn geschehen sei.
Nur stockend und immer wieder von kräftigen Schluchzern unterbrochen gelang es dem Kleinen das Malheur zu berichten, wie er hinter der Katze hergelaufen und dabei mit dem Ellbogen an die Vase gestoßen sei und sie viel zu groß und viel zu schwer gewesen für ihn sie in ihrem Flug auf zu fangen und dann sei sie zerbrochen auf den Fliesen und er schäme sich so.
Der Alte hörte kaum richtig zu, sah zu dem Fenster hinaus und streichelte dem weinenden Knaben sanft über das Haar, drückte ihn zärtlich an sich, wenn das Schluchzen zu stark und der ganze kleine Körper davon durchgeschüttelt wurde.
Schließlich beruhigte sich das Kind etwas und der alte Mann begann zu sprechen.
„Weißt Du, diese Vase hier, die hat jetzt keinen Wert mehr. So ist das mit den Dingen. Irgendwann verlieren wir sie und sie verlieren ihren Wert für uns, mal durch Zerstörung, mal ganz einfach durch die Zeit. Verstehst Du?“
Der Junge in seinem Arm nickte tapfer, wusste aber wohl kaum etwas mit diesen Worten an zu fangen außer, dass der Opa ihm nicht böse zu sein schien wegen des Unglücks.
„Aber, mein lieber, lieber Enkel, wir Menschen, wir verlieren nie unseren Wert, hörst Du, mag man uns auch noch so treten, zerbrechen oder verletzten. Sie mögen uns klein machen, einsperren, isolieren von anderen, verhöhnen, auslachen. Wir behalten unseren Wert und der ist unbezahlbar viel höher, als der Wert einer solchen Vase je sein kann.“
Das verstand der Junge und er nickte, sah seinen Großvater dankbar an. So saßen sie eine Weile zusammen inmitten der Scherben, die in der Nachmittagssonne glänzten und ein letztes Mal die Farbenkunst ihrer Schöpfer zeigten.
Und da war es, dass der Junge sein von Tränen verschmiertes Gesicht zu dem alten Mann wandte und sich das erste Mal traute zu fragen, was das für eine merkwürdige Tätowierung auf dem Arm sei, die der Großvater da habe.
Der alte Mann sah ruhig in die Augen seines Enkels, die ihn erwartungsvoll ansahen. Und er erzählte von den Lagern dieses anderen Landes, in dem er aufgewachsen war, wie er und seine Familie dorthin mit Viehwaggons gebracht worden waren, die Eltern in Duschräume gehen mussten und nie wieder kamen, da dort kein Wasser aus den Duschköpfen gekommen war sondern Gas und wie er selber mit den letzten, fast verhungerten Überlebenden befreit worden war nach langer Zeit und er als Waise zum Onkel geflogen wurde, der rechtzeitig das Land verlassen hatte.
Der alte Mann erzählte es ruhig und ohne Bitterkeit und sein Enkel vergaß die Vase, sah seinen Großvater traurig an, spürte einen ganz anderen Schmerz, einen, der viel tiefer saß und die ganze Brust füllte, ein Schmerz von dem er ahnte, dass der ihn nicht wieder verlassen würde, sein ganzes Leben lang.
Der Alte aber sah sich wieder als verzweifelten Jungen in Auschwitz den Kopf zum Himmel richten, mit seinen müden Augen den Kranichen folgen, die dort gen Süden flogen, dorthin wo wohl noch die Sonne schien.

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Bilderrätsel


wann erlesen wir uns
die Bilder unseres Landes Grausamkeiten
die aus den Kontinenten
die uns kleiden und ernähren
suchen
nach den literarischen Vorlagen solch arger Strolche
untersuchen den Strich
der ausgeflippten Künstler und Denker Handschrift
im entflammten Inferno menschlicher Verkommenheit
halten stand dem Flehen
der Opfer ihren geschundenen Leibern
ihrer Angst vor unserem Interesse

zwischen den Säulen der Großbanken
in deren Städten festgeklebt
unser Horizont
die Gedanken frei
von uns
zum Überleben gefrierfähig verordnet geordnet
nehmen die Taxifahrer
uns als Gäste dankbar mit
wenn es um viele Kilometer und weit genug geht

ihre Tachometer erzählen unsere Strecke
nicht die Zeit
die uns noch bleibt

glauben wir den Bildern aufs Verrecken
warum sonst
schweigen wir bereits
im Angesicht des Vorspanns


Samstag, 5. Oktober 2013

Retter der Dachböden



Seit ein paar Wochen steht er nun schon jeden Tag auf dem Kirchplatz, wenn wir aus dem Gottesdienst heraus kommen. Er steht da mit seinem hochgereckten und selbst bemalten Pappschild. Sieht uns ernst und stumm an. Sagt nie ein Wort, auch wenn, was selten vorkommt, ihn einer darauf anspricht. Steht da, sieht uns in die Augen, hat selber klare blaue Augen und einen starken Blick, den man kaum aushalten kann und so sehen wir meistens nicht mit, wenden den Blick ab, fühlen unsere ganze Schwäche in diesem Augenblick. Sind doch nur Augen und ein Pappschild mit den Worten: „Rettet die Dachböden!“
Als Pastor der Gemeinde musste ich ihn ansprechen. Natürlich bedrängten mich Mitglieder aus dem Kirchenvorstand, etwas zu tun. Politische Propaganda habe vor der Kirche nichts zu suchen, sei doch verboten und wir, die Gemeinde, hätten hier schließlich Hausrecht, eigentlich sei das doch Hausfriedensbruch und so weiter.
Sie wissen ja, wie wenig christlich gerade engagierte ehrenamtliche Christen bisweilen sind.
Wir Pastoren haben auch nicht mehr die Zeit wie früher, uns um alles zu kümmern. Drei Gemeinden habe ich zurzeit zu betreuen. Es fehlt das Geld. Das Land ist zwar reich geworden in den Jahrzehnten nach dem letzten großen Krieg aber ärmer an gläubigen Christen und Kirchensteuern.
Diese Gemeinde hier lag mir besonders am Herzen. In den Straßen und Häusern des Viertels bin ich geboren worden und herangewachsen, bis ich wegen des Studiums in eine andere Stadt ziehen musste.
Es ist ein gutes Stadtviertel. Alle Häuser sehen frisch und renoviert aus. Die kleinen Vorgärten der ehemaligen Arbeiter- und Bürgerhäuser funkeln im Frühling von der Blumenpracht und glänzen im Herbst von den Blättern der Ziersträucher und Bäume.
Der Wohlstand hat uns Ruhe und täglichen Frieden hereingebracht. Wer hier wohnt, hat sein Auskommen, seine zum Gymnasium und Studium strebenden Kinder, verfügt in der Freizeit über einen gut ausgeklügelten Menüplan für allerlei Aktivitäten wie Theaterbesuch, Joggen, Fitnessgeräte im Center an der Hauptstraße und Restaurants mit Speisekarten aus allen Himmelsrichtungen dieses Planeten.
Aber natürlich gibt es auch hier mal Not oder Wirrnis, Menschen, die durch das Raster fallen. Für die haben wir eine Teestube mit „Tafel“ eingerichtet, für die Supermärkte, Bäcker und Schlachter ihre abgelaufene oder am Tag nicht frisch verkaufte Waren spenden und natürlich haben wir auch eine Kleiderkammer zu der auch ein kleines Möbelkaufhaus gehört, auch alles mit Waren aus Spenden. Das macht nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch viel Freude, auf jeden Fall ist der ganze Kirchenvorstand damit gut beschäftigt. Besonders stolz sind wir auch auf unsere kleine Hospiz-Gruppe, die Sterbende und ihre Angehörigen betreut, schließlich müssen wir alle trotz unseres Glückes hier ja einmal vor das Angesicht des Herrn treten. Und wem die Religion fehlt, dem fällt das nicht gerade leicht.
Was also, bitte, kann da ein Typ groß stören mit einem Pappschild?
Und worüber soll ich mit ihm reden? Über Dachböden?
Neulich noch musste ich eine verwirrte Frau in die Psychiatrie bringen. Mitten im Gottesdienst war die aufgesprungen und hatte geschrien: „Ihr seid alle Mörder, Mörder, Mörder!“
Sie war nicht zu beruhigen und so brachten zwei Männer des Kirchenvorstandes sie zu mir in die Pfarrwohnung, wo meine Haushälterin sich um sie kümmerte.
Nach dem Gottesdienst fand ich die beiden in der Küche, die Frau kräftig am weinen und meine Haushälterin mehr als ratlos daneben.
„Reden Sie doch mal mit ihr. Ich schaffe es nicht, sie zu beruhigen.“
Ich nickte, ließ sie weiter an unserem Mittagsessen werkeln und setzte mich zu der Frau. Als ich ihre Hand nehmen wollte, zog sie die schnell und heftig zurück, schüttelte den Kopf.
„Nicht! Sie haben ja keine Ahnung. Sie sind blind, wissen Sie! Blind! Taub! Das sind sie, sonst würden Sie bei all den Mördern hier nicht so fröhlich grinsen.“
Ich dachte nicht, dass ich grinste, meinte eher begütigend zu lächeln. Aber wahrscheinlich hatte die Frau unter ihren Tränen mich gar nicht richtig gesehen.
Sie ließ mich nichts fragen. Sprach redete, schrie, bis wir sie unterstützt von Rettungssanitätern aus der Wohnung in den Krankenwagen bringen konnten.
Was sie redete? Nun, dass alle Völker im Wohlstand zu Mördern würden, sich selbst und ihren Kindern das Leben und die Zeit töten würden mit Fernsehen, Drogen, Alkohol, Computerspielen und blödsinnigen Massen-Events in riesigen Sportarenen, ansonsten aber durch Hektik, Druck und Erpressung gute Arbeit töten, jede Regung von Mitmenschlichkeit und sinnvoller Beschäftigung. Das ging bei ihr alles ineinander, übereinander, durcheinander. Von den Begriffen her, die sie gebrauchte, musste sie sehr gut gebildet und auf dem Laufenden gewesen sein. So kam es mir jedenfalls vor. Aber total durch geknallt, wenn ich als Pastor das auch nicht so nennen sollte. Natürlich kam auch die Umweltverschmutzung dran, die ausgerotteten Tiere, die Erderwärmung mit den schmelzenden Gletschern und dem steigenden Meerwasser. Nicht zu vergessen die hungernden Menschen überall auf den Kontinenten, denen die Lebensgrundlagen ermordet worden wären. Ja sie nannte alles Mord, morden, Mörder. Solche Leute gibt es halt. Denen kann auch die Bibel und ein Pastor nicht mehr helfen. Aber wir haben eine gute Psychiatrie am Stadtrand, in einer ehemaligen Kaufmannsvilla, mit sehr gutem Ruf auch in der Umgebung. Da brachte ich sie hin mit dem Rettungswagen, wartete noch bis die Spritze der Sanitäter ihre Wirkung tat und verabschiedete mich von ihr. Ich wusste sie von da in guten Händen.
Und nun dieser Mann mit dem Schild. Ein älterer Herr eher, vielleicht 60 oder 70, auf jeden Fall grau- und langhaarig, gekleidet in Jeansjacke und Jeanshose wie wohl schon zu seinen Jugendzeiten. Fehlte nur die Gitarre auf dem Rücken.
„Ich soll mit Ihnen reden.“
Der Mann sah mich, so zumindest mein Eindruck, neugierig an.
Und sprach, sehr zu meinem Erstaunen, sofort.
„Warum? Wer sagt Ihnen das?“
„Der Kirchenvorstand!“
„Nicht Ihr Herr, der Gott da oben? Ich dachte, dessen befehle müssten Sie nur befolgen?“
Man wird verstehen, dass ich keine rechte Lust auf so eine plumpe Gottesdiskussion hatte.
„Wegen Ihrem Schild. Was meinen Sie damit überhaupt?“
„Haben Sie ausnahmsweise ein wenig Zeit. Dann erkläre ich es Ihnen. Aber nicht hier. Mir ist kalt und ich kann nicht mehr lange stehen.“
Ich ging auf seine Selbsteinladung gerne ein, denn es war wirklich schon kühl in der Jahreszeit und so gingen wir zusammen zum Pfarrhaus. Er schwieg wieder und so hielt ich auch meinen Mund.
Er war mit einem Kaffee einverstanden, lehnte aber Kekse oder etwas anderes dazu ab.
Meine Haushälterin schüttelte leicht und missbilligend den Kopf als wir eintraten und verzog sich.
Er schwieg erstmal weiter, trank einen Schluck Kaffee und sah mich mit seinen Augen an. Interessante Augen, die hatte er wirklich. Er wirkte weder bedrückt noch hysterisch wie die Mörder-Frau neulich, eher klar und mit sich selbst im Reinen.
Wie immer es auch geschah, ich wurde plötzlich und ziemlich unsicher in seiner Gegenwart. Fühlte mich unbehaglich. Bekam auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen, ohne zu wissen warum.
Als er endlich zu sprechen anfing, war ich erleichtert.
„Haben Sie die Dachböden der Häuser hier mal gesehen. Jetzt, meine ich. Was sie aus denen gemacht haben? Nein? Ich sage es ihnen: Kinderfallen. Da hocken ihre Kinder jetzt bis spät in der Nacht an ihren Computern und nichts dort, gar nichts erinnert noch an die alten Dachböden, an diese Märchenräume, Räuberhöhlen und Fundorte, die sie einst waren.“
Berufsmäßig gut durchtrainiert nickte ich zu seinen Worten, schlürfte Schlückchen nach Schlückchen den Kaffee und hörte einfach nur zu.
„Von den verschwundenen Trümmergrundstücken will ich ja gar nicht reden. Unsere Abenteuerinseln und Entdeckungsräume. Ja, wir hatten dort eine gute Kindheit. Die Kinder heute können noch von Vorgarten zu Vorgarten hüpfen. Aber was gibt es da schon zu entdecken? Oder den Gärten dahinter? Erfüllte Konsumwünsche, ja die haben sie dort. Trampolin, Basketballkorb, kleine Fußballtore, eigenen Sandkästen um dort ihre Langeweile zu verbuddeln. Aber nichts mehr zu entdecken, keine echte Herausforderung und schon gar nichts für Träume und Phantasien. „
Er hatte seinen Kaffee ausgetrunken und ich schenkte ihm nach. Ich fragte mich woher diese Wohlstandskritik kommen mochte in diesen Tagen, diese Nostalgie, als wenn früher alles besser gewesen wäre. Ja, die Trümmergrundstücke hatte ich auch noch erlebt. Die letzten Paar. Aber wir waren dorthin geflüchtet, hatten ja keine eigenen Kinderzimmer in denen wir uns aufhalten konnten, nur Schlafstuben. Heute mussten Kinder nicht nach draußen flüchten, hatten ihr eigenes reich. Was sollte daran verkehrt sein. Zuviel Computer ja! Auch das die ihren eigenen Fernseher dort hatten und nicht mal mehr gemeinsam mit den Eltern fern sahen, ja! Das ist nicht gut. Aber eine Tragödie?
Die Kinder entwickelten sich doch gut hier, kamen fast alle auf die Uni, wurden Ärzte, Lehrer, Ingenieure. Was also sollte schlecht gelaufen sein mit denen?
Als hätte er meine Gedanken erraten, fuhr er fort:
„Auf der Strecke bleibt das Soziale, die Phantasie, der Mut zur Kreativität, zu außergewöhnlichen Lösungen, verstehen sie, und eine Kindheitswelt, eine echte Kinderwelt, nicht das was sie jetzt haben, in dem sie wie kleine Erwachsene handeln, als Babys schon Knöpfe drücken und auf Computern sich bewegen, statt auf der Erde. Wissen Sie noch, was Sie auf den Dachböden erlebt haben, mit wem sie dort waren und wie oft?“
Ich schüttelte den Kopf. Wollte mich gar nicht daran erinnern, an den Staub, den Geruch und die Unordnung dort. Ich war immer froh gewesen, nicht dort hinauf zu müssen.
„Ich jedenfalls kann es und weiß noch, was ich dem Dachboden meiner Großeltern zu verdanken habe. Dort habe ich meine ersten Reisen mit Sigesmund Rüstig in die Südsee angetreten, ein altes, leicht riechendes Buch, wie alle die ich dort damals fand in den Kisten. Mit dem tapferen Nettelbeck habe ich königsberg verteidigt und geheult beim „Kampf um Rom“. Ich bin mit den Vifelanten gegen Viehdiebe geritten und habe in den Mädchenbüchern meiner Mutter das „Rosenresli“ bezaubern gefunden und hätte sie und ihre Mutter gerne aus ihrer Armut befreit. Ja, es waren nicht alles sogenannte gute Bücher, manche stammten aus der Nazizeit und waren deshalb dort oben gelandet. Es waren weder Goerthe, noch Schiller, noch Heine dabei und auch nicht die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Aber Bücher waren es trotzdem, mit Weiten und Bildern, wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte. Und dank ihnen bin ich zum Lesen gekommen, zu meiner Phantasie vorgestoßen und habe mich zu träumen getraut, ganz andere und wilde Geschichten als vorher. Nicht nur das, der Dachboden war mein erstes Jagdrevier, meine Schatzinsel, das erste reich, dass ich mir selbst erobern konnte. Und später haben wir Freunde dort gehockt, gequatscht, geträumt, uns Höhlen gebaut dort, wenn der Sommer vorbei war und das Schmuddelwetter uns in die Häuser sperrte.“
Er machte eine Pause und ich sah ihn weiter ruhig an. Irgendetwas kam mir in die Erinnerung, noch sehr verschwommen aber doch in der Art, wie er sie hier vor mir ausbreitete. Es war der Keller. Dort hatte ich meines Vaters Krimis in Kartons gefunden und sogar Comics hatte er dort gelagert. War ihm sichtlich peinlich gewesen, als ich eines Tages damit nach oben kam. Ich habe sie nicht im Keller und auch nicht auf dem Boden gelesen sondern auf dem Klo. Denn da war ich am ungestörtesten Dran in meiner Kindheit. Und ich hatte seine Bibel gefunden und die nahm ich sogar mit unter das Bett, um sie abends beim Licht einer Taschenlampe durch zu lesen. Sie kam mir vor wie ein einziger großer Abenteuerroman mit vielen tollen aber auch zum Teil verrückten gestalten. Als ich seine Karl May-Bücher fand musste ich immer wieder an die Geschichten in der Bibel denken, weil ich dessen Geschichten als sehr ähnlich empfand. Vielleicht bin ich so zum Pastor geworden und der Bibel als regelmäßige Lektüre treu geworden und geblieben bis zum heutigen Tag.
Ich erzählte ihm davon und meinen Bruchstücken an Erinnerung, die er in mir ausgelöst hatte.
Das erfreute ihn sichtlich.
„Ja, genau das meine ich. Ob Dachboden, Keller, Kabuff, ist doch egal. Heute fehlen diese versteckten schätze, alles weg auf dem Sperrmüll oder den Flohmärkten verscherbelt. Ja und die Keller sind Partykeller geworden oder Hobbyraum. Wie sollen unsere Kinder so Reisen entdecken und sich selber?“
„Das machen sie heute am Computer.“
„Aber wie denn, ohne Geruch, ohne Kratzer, ohne das Holz spüren, die Spinnenfäden, ohne das schummrige Licht mit den Augen zu durchsuchen. Geht doch alles am Computer nicht. Der mag ihren Grips herausfordern, aber mehr geht da nicht. Bestimmt nicht. Es fehlt alles was das Leben ausmacht, riechen, hören, schmecken ohne dass wir es einstellen, einfach so, ohne unser Zutun, das Leben wie es uns umgibt, fordert, streichelt und auch zwickt. Unvorhergesehen, einfach so. Erleben! Wissen Sie! Erleben! Das fehlt ihnen. Und darum stehe ich mit dem Schild da. Darum versuche ich die letzten Dachböden für sie zu retten. Darum sitze ich hier mit Ihnen. Wir brauchen wieder echte Erlebniswelten und nicht pädagogisch verdröselten Naturerlebnispfade oder sogenannte Abenteuerspielplätze, die die Kinder in 5 Minuten durchschaut haben, um sich dann zu entscheiden, was ihre Bedürfnisbefriedigung noch am ehesten erreicht.“
Zu meiner eigenen Überraschung bot ich ihm an, mit mir auf den Dachboden des Pfarrheims zu kommen, auf dem ich bestimmt Jahre nicht mehr war.
Wir verbrachten zwei Stunden dort zusammen, durchstöberten Kisten, fanden tatsächlich alte Bücher, die die Gemeindebücherei wohl aussortiert hatte und allerlei Krimskrams.
Zum Schluss bat ich ihn seine Gedanken für das Gemeindeblättchen zu formulieren. Bereits nach einer Woche hatte ich seinen Text. Es gab tatsächlich eine heftige Debatte im Kirchenvorstand über diesen „Schwachsinn“, wie einige erbost meinten, und ich bin seitdem mit dem Mann befreundet, überhaupt habe ich angefangen mich für andere Dinge zu interessieren und zusammen haben wir manchen Dachboden durchstöbert und vor dem Umbau gerettet. Als nächstes planen wir ein Museum für Dachböden. Die ersten Spenden haben wir schon.

Samstag, 21. September 2013

Stolpersteine

aus
Peter Silies
Morgenlade:

ohne eine lebendige
Erinnerung
suchen unsere Füße
vergebens nach Halt

kommen uns ständig
in die Quere alter Fehler
Stolpersteine

Freitag, 20. September 2013

Im Schlaf dem Abend entgegen


Der Sommer hatte sich gut gefühlt dieses Jahr, wurde aber doch müder und würde wohl bald vom Herbst abgelöst werden. Philipp Baumen lag auf seinem Gartenstuhl, die Füße auf dem Hocker und ließ sich die Wärme der Nachmitagssonne zu seinem Nickerchen aufs Gesicht scheinen.
Nach einer Weile erwachte er, ging ins Haus, zog den Mantel an und fuhr wie gewohnt zur Spätschicht in die Kartoffelfabrik am Stadtrand. Dort stempelte er seine Karte ab und begab sich zum Aufgang zu den Maschinenhallen. An diesem Tag stand aber ein Tisch vor den Treppen und dahinter saß der Personalchef und hielt eine Liste in der Hand. Die Kollegen standen bereits an und gingen dann jeweils links hoch zu der Abteilung Knödel oder rechts zu der Abteilung Kartoffelpuffer und Kartoffelbrei. Als er an der Reihe war, wollte er wie gewohnt sich rechts zur Treppe wenden, wurde aber darauf hin hingewiesen, dass er aufgrund seiner Verdienste und ja, jahrelangem Einsatz für die Firma, zum Knödel aufgestiegen sei und daher die Ehre habe ein Knödel zu sein.
Das verstand unser Mann nicht ganz, nickte aber und ging brav nach links um dort, wie er nun dachte, einen neuen Arbeitsplatz zu besetzen, hörte noch, wie der Personaler hinter ihm her rief: „Oder wollten sie als Pulver enden?“
Philipp Baumen sagte nichts, stieg weiter hoch. Oben wurde er von einem Mann empfangen, den er noch nie hier gesehen hatte. Ganz entfernt kam ihm der vor wie ein Zwillingsbruder seines Mathelehrers auf der Volksschule, keine gute Erinnerung.
Der bat ihn zur Seite, führte ihn durch eine Tür in einen Raum, den er ebenfalls noch nie zuvor hier gesehen hatte und er kannte sich hier eigentlich gut aus, oft genug war er schließlich bei den Knödeln eingesprungen.
„Wenn Sie sich jetzt bitte ausziehen würden.“
„Ausziehen?“
„Ja!“
„Warum?“
„Darum! Oder meinen sie wir mischen Kleidungsreste unter die Knödel? Das würden sie doch auch nicht essen, oder?“
„Kleidungsreste unter die Knödel?!“

Egal, er zog sich aus, irgendwas würden die sich schon dabei denken. Wahrscheinlich schon wieder neue Hygienebestimmungen.
Nackt wurde er dann freundlich aber bestimmend von dem Typen eine Tür weiter geführt. Dort klebte man ihm ein Pflaster so auf den Mund dass er weder schreien noch reden konnte. Entsetzt sah er den Mann an:
„Nur aus Rücksicht gegenüber den Mitarbeitern. Diese Schreie, verstehen Sie, das ist auf Dauer nicht aus zu halten.“
Und schon wurde er hinter bereits dort liegenden anderen nackten Kollegen auf ein breites Fließband gelegt, während das langsam weiter lief. Nach wenigen Sekunden spürte er ein unregelmäßiges gliederzuckenartiges Vibrieren des Bandes, das immer stärker wurde. Als er sich umdrehte sah er etwas großes Dunkles sich niedersenken und die Körper nach unten drücken. Aber es blieb ihm kaum Zeit, da sah er es auch über sich und unter seinem Rücken fühlte er es schaben, spürte wie scharfe Kanten in sein Fleisch stießen, kleine Stücke heraus rissen, bis er sich selbst von oben sah, blutend, zuckend, auf einer langen, automatischen Kartoffelreibe, wie er sie auch zu Hause, allerdings für Kartoffelpuffer verwandte, und dachte: „Der sagte doch, ich sei nun ein Knödel!“. Und es fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie man eigentlich Knödelmasse aus Kartoffeln gewinnt, dachte trotz Blut und merkwürdig wenig spürbaren Schmerzen darüber nach, und da wachte er auf, wie man bei so einem Alptraum plötzlich wach wird, in kleinen Schritten, zögerlich, geistig arg verwirrt, das Herz bis zum Hals klopfend, kalten Schweiß auf stark pochender Stirn.
Noch länger dauerte es, bis er die Augen öffnen und in den mittlerweile mit kleinen weißen Wölkchen gefüllten Himmel schauen konnte.
„Was für ein Scheißtraum“, dachte er. „Bin doch in Rente!“

Dann aber erschrak er, setzte sich hoch und sah sich entgeistert um.
Er war allein, alle Liegestühle auf der Terrasse neben ihm waren leer.
„Wo seid ihr alle?“
Nur die Vögel in der Hecke gaben daraufhin in ihrer Art und Weise kurz laut.
„Vor allem: wo sind meine Eltern?“
Der eben noch vom Traum erschlagen sich und wie gerädert fühlende Sonnengenießer sprang hoch, ging nervös um die Stühle herum, sah durch die große Scheibe in das Wohnzimmer.
„Mein Gott, wann habe ich die beiden zuletzt gesehen?“
Er wusste es nicht mehr. So sehr er sich auch abmühte, es fielen ihm keine Bilder dazu ein. War es gestern gewesen, letzte Woche, letzten Monat oder gar schon letztes Jahr?
Großer Trauer kam über ihn und von innen stach ein gemeiner Schmerz dazu, wie von einem Messer mit geriffelter Klinge.
„Wann, wann, wann … ?!“
Es wurde nicht besser für ihn, als ihm die beiden Buben und das Mädel einfielen, seine, ihre Kinder, denn auch die waren einfach verschwunden ohne ein Abschiedsbild für ihn zu hinterlassen.
„Verfluchte Scheiße!!! Was ist hier los, verdammt!“
Er glaubte es zu schreien, sah sich selber wie er auf der Terrasse schreiend umher rannte, hörte aber nichts, keinen Laut, einfach nichts, nicht mal die Vögel aus der Hecke meldeten sich.
Ganz leise wurde er, ja stumm, kauerte sich, krümmte sich, war nur noch ein hockendes Stückchen Elend, als ihm seine Frau einfiel, aber kein Bild, auch nicht von ihr, wann und wie er sie zuletzt gesehen hatte, kein Ton, kein Wort, keine Geste, nichts.
Völlig erschüttert verließ er den Garten, schlich durch das Haus, dessen knarzende Stille, ging durch die Haustür auf die Straße, sah wie gewohnt die parkenden Neuzulassungen stehen, wie sie hier jedes Jahr frisch angerollt kamen, in den jeweiligen Jahresfarben, sah die späte Sonne sich im Lack amüsieren, ja, als würde sie ihm aufmuntern zublinzeln oder grinste sie?
Der Hausarzt, hier im Nachbarschaftshaus um die Ecke, Dr. Rauch, der Siggi, wie ihn der Vater nannte als alter Schulfreund, der musste es wissen, der musste ihm jetzt und hier helfen. Verdammt, er wollte seine Familie und seine Bilder zurück.
Philipp Baumen klingelte Sturm. Erst als ihm keiner öffnete, sah er auf das Schild:
„Dr. Höllental, Hals, Nasen-Ohrenarzt.“
Was sollte das jetzt? Er drehte sich um zur Straße. Sah von weitem die alte Betram her humpeln.
„Mein Gott, “ dachte er, „ist die nicht schon lange tot?!“
Er rannte los, von ihr weg, irgendwohin, rannte durch die Straßen, sah die Häuser bald an sich vorbeifliegen, die Vorgärten mit ihren letzten Blüten, spätsommergelb,
dann die Dächer, spürte, wie er rennend und mit den Armen gleich wie mit Flügeln schlagend, zu fliegen begann, über ging in das Gleiten wie er es bei den Schwalben gesehen hatte, hörte auf zu strampeln, verlor an Höhe, erst langsam, dann immer schneller, stürzte der Erde, den grauen Platten eines Gehweges immer näher und … natürlich wachte er auf, wieder in Schüben, verwirrt, mit pochendem Herz, Schweiß auf der Stirn, auf der er eine Hand spürte, ihre Hand, die Hand seiner Frau, in deren Gesicht er blickte nach dem vorsichtigen Öffnen der Augen.
„Was ist mit Dir, hast Du schlecht geträumt?“
„Gertrud, wann haben wir uns zuletzt gesehen? Bitte!“
Sie sah ihn an:
„Wovon hast Du geträumt, Philipp?“
„Bitte, Gertrud, wann haben wir uns zuletzt gesehen? Ich habe versucht mich zu erinnern und da war nichts, kein Bild, nichts. Und auch von meinen Eltern und den Kindern, nichts!“
„Philipp, Deine Eltern sind seit 5 Jahren tot und die Kinder leben mit ihren Familien in München, Osnabrück und …“
„Ja, ja, schon gut.“
Er konnte sich wieder erinnern. Ja, die waren fort, länger schon. Aber Gertrud, die war hier und er suchte verzweifelt ein Bild vor diesem hier, bevor er eingeschlafen war. Er fand es nicht.
Sie schüttelte den Kopf und holte sich ihren Liegestuhl, setzte sich hinein.
„Nun  wach mal erst richtig auf! Ich bin müde. „
„Gertrud, das kann doch nicht sein, dass ich kaum noch weiß was wir hier all die Monate treiben seit Beginn meiner Rente. Ich sehe alles Mögliche, aber nicht uns, nicht Dich.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht gibt es da nichts zu sehen, Peter. Wir leben einfach, verbringen die Tage wie man die Tage verbringt. Was willst Du denn da groß sehen?“
„Dich und mich Gertrud, wie wir leben, ob wir lachen oder weinen, Getrud, ob Du glücklich lächelst oder böse guckst, irgendwas, Gertrud, irgendwas muss ich doch sehen können.“
„Das kommt schon. Bist noch duhn vom Schlafen. Muss’n schlimmer Traum gewesen sein. Vielleicht war das Essen doch zu schwer.“
„Getrud, vielleicht müssen wir mehr miteinander reden. Verstehst Du, darüber, was wir treiben.“
„Warum denn? Ich wüsste auch gar nicht worüber.“
„Weil wir sonst ohne Erinnerung sind und dann auch kein Heute haben, keine Zukunft, nichts, weil alles weg ist, jeden Tag einfach weg wie nie dagewesen.“
„Ja, ja! Krieg‘ Dich man wieder ein. Erinnern? Ja, das kann ich Dich, wolltest Du nicht längst den Wasserhahn im Badezimmer reparieren?!“
„Aber Gertrud, das meine ich doch nicht. Erinnerung, Gertrud, an uns, unser Leben, das da was war, was auch Morgen zu Leben sich für uns lohnt!“
Aber es ging ihm wie den meisten Philosophen im Land, er wurde nicht erhört oder auch nur ansatzweise verstanden, eigentlich schlicht und ergreifend ignoriert.
Und da saß er nun mit zwei Alpträumen, wusste nichts rechtes mehr damit an zu fangen, besah den Himmel, das im Schlaf lächelnde Gesicht von Gertrud neben sich, beschloss, dieses Bild als erstes in die Sammlung auf zu nehmen, es morgen wieder hervor zu holen und an zu sehen wie früher als Schulbub seine Briefmarken. Ja, so würde es gehen. Wieder ruhiger schloss er die Augen und schlief, diesmal traumlos, neben ihr dem gemeinsamen Abend entgegen.

Stadtbummel zwischen Toten



Da starten wir gut
genießen unser
altes Fachwerk
als Einsprengsel
im sonnenroten Klinkermeer
der Neuzeit
gebliebene Zeit
zu gehen
zu bleiben
in dieser Stadt



erreichen uns schwach
im Weiterschreiten
aus der Ferne
Quietschen, Hämmern, Bohren
zerrissen von Sirenen
Krankenwagens Zeit
genießen gewärmt
von Spätsommersonnenstrahlen
den einen Augenblick
seine Möglichkeiten
der Blickwinkel
Perspektivwechsel
unaufgeregt entspannt



zwischen Gestern
Hier und Heute
abgezäunt zugewuchert
ein Mausoleum
längst verstorbene
Vergangenheit
abgelegt am Rande
des jüdischen Friedhofs
verlorener Steine
zerschlagener Platten
lockt uns das Tuckern
eines Kahnes
zum Spaziergang am Kanal
den Blick in die Ferne
zu der Himmelsmöwen
luftigem Tanz



die Gedanken so
verglättet
lasse wir uns fangen
von Strauch, Baum und Wellen
lassen uns tragen
wie die Enten
auf blauem Kräuseltuch
verweilen
bis auf dem Grund
der Blick sich tastet
zu neuem Weg



den Möwen folgend
umkreisen wir die Stadt
während der Sommer
am Himmel uns
an seine Vergänglichkeit
verweist
warten die Schiffe im Hafen
auf ihre große Fahrt
blicken von ihnen zur Stadt
spüren die Zeiten
unterschiedliches Leid
gespalten wie verschieden
die Erinnerung
das Bleiben
das Gehen
wie die Grabsteine
neben den Wegen
den Himmel der längst
noch nicht alle Wolken
für uns getragen hat



bleiben Kirche und Altäre
wie gehabt
aber was noch
hat hier Bestand
ist auf dem Weg
neues Festland
zu entdecken
noch von nichts verwüstet
und abgefüllt



wer ist bereit
aus ungebrochenen Kinderherzen
mit der Alten Kunst
und Verstand
das Steuer um zu drehen
für eine angenehmere Fahrt
mit mehr Aussichten
vor der Zeit unter den
Grabsteinen hier
ihren Blumenbeeten
in dieser Stadt?



(c) Bilder und Text: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013