Freitag, 20. September 2013

Im Schlaf dem Abend entgegen


Der Sommer hatte sich gut gefühlt dieses Jahr, wurde aber doch müder und würde wohl bald vom Herbst abgelöst werden. Philipp Baumen lag auf seinem Gartenstuhl, die Füße auf dem Hocker und ließ sich die Wärme der Nachmitagssonne zu seinem Nickerchen aufs Gesicht scheinen.
Nach einer Weile erwachte er, ging ins Haus, zog den Mantel an und fuhr wie gewohnt zur Spätschicht in die Kartoffelfabrik am Stadtrand. Dort stempelte er seine Karte ab und begab sich zum Aufgang zu den Maschinenhallen. An diesem Tag stand aber ein Tisch vor den Treppen und dahinter saß der Personalchef und hielt eine Liste in der Hand. Die Kollegen standen bereits an und gingen dann jeweils links hoch zu der Abteilung Knödel oder rechts zu der Abteilung Kartoffelpuffer und Kartoffelbrei. Als er an der Reihe war, wollte er wie gewohnt sich rechts zur Treppe wenden, wurde aber darauf hin hingewiesen, dass er aufgrund seiner Verdienste und ja, jahrelangem Einsatz für die Firma, zum Knödel aufgestiegen sei und daher die Ehre habe ein Knödel zu sein.
Das verstand unser Mann nicht ganz, nickte aber und ging brav nach links um dort, wie er nun dachte, einen neuen Arbeitsplatz zu besetzen, hörte noch, wie der Personaler hinter ihm her rief: „Oder wollten sie als Pulver enden?“
Philipp Baumen sagte nichts, stieg weiter hoch. Oben wurde er von einem Mann empfangen, den er noch nie hier gesehen hatte. Ganz entfernt kam ihm der vor wie ein Zwillingsbruder seines Mathelehrers auf der Volksschule, keine gute Erinnerung.
Der bat ihn zur Seite, führte ihn durch eine Tür in einen Raum, den er ebenfalls noch nie zuvor hier gesehen hatte und er kannte sich hier eigentlich gut aus, oft genug war er schließlich bei den Knödeln eingesprungen.
„Wenn Sie sich jetzt bitte ausziehen würden.“
„Ausziehen?“
„Ja!“
„Warum?“
„Darum! Oder meinen sie wir mischen Kleidungsreste unter die Knödel? Das würden sie doch auch nicht essen, oder?“
„Kleidungsreste unter die Knödel?!“

Egal, er zog sich aus, irgendwas würden die sich schon dabei denken. Wahrscheinlich schon wieder neue Hygienebestimmungen.
Nackt wurde er dann freundlich aber bestimmend von dem Typen eine Tür weiter geführt. Dort klebte man ihm ein Pflaster so auf den Mund dass er weder schreien noch reden konnte. Entsetzt sah er den Mann an:
„Nur aus Rücksicht gegenüber den Mitarbeitern. Diese Schreie, verstehen Sie, das ist auf Dauer nicht aus zu halten.“
Und schon wurde er hinter bereits dort liegenden anderen nackten Kollegen auf ein breites Fließband gelegt, während das langsam weiter lief. Nach wenigen Sekunden spürte er ein unregelmäßiges gliederzuckenartiges Vibrieren des Bandes, das immer stärker wurde. Als er sich umdrehte sah er etwas großes Dunkles sich niedersenken und die Körper nach unten drücken. Aber es blieb ihm kaum Zeit, da sah er es auch über sich und unter seinem Rücken fühlte er es schaben, spürte wie scharfe Kanten in sein Fleisch stießen, kleine Stücke heraus rissen, bis er sich selbst von oben sah, blutend, zuckend, auf einer langen, automatischen Kartoffelreibe, wie er sie auch zu Hause, allerdings für Kartoffelpuffer verwandte, und dachte: „Der sagte doch, ich sei nun ein Knödel!“. Und es fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie man eigentlich Knödelmasse aus Kartoffeln gewinnt, dachte trotz Blut und merkwürdig wenig spürbaren Schmerzen darüber nach, und da wachte er auf, wie man bei so einem Alptraum plötzlich wach wird, in kleinen Schritten, zögerlich, geistig arg verwirrt, das Herz bis zum Hals klopfend, kalten Schweiß auf stark pochender Stirn.
Noch länger dauerte es, bis er die Augen öffnen und in den mittlerweile mit kleinen weißen Wölkchen gefüllten Himmel schauen konnte.
„Was für ein Scheißtraum“, dachte er. „Bin doch in Rente!“

Dann aber erschrak er, setzte sich hoch und sah sich entgeistert um.
Er war allein, alle Liegestühle auf der Terrasse neben ihm waren leer.
„Wo seid ihr alle?“
Nur die Vögel in der Hecke gaben daraufhin in ihrer Art und Weise kurz laut.
„Vor allem: wo sind meine Eltern?“
Der eben noch vom Traum erschlagen sich und wie gerädert fühlende Sonnengenießer sprang hoch, ging nervös um die Stühle herum, sah durch die große Scheibe in das Wohnzimmer.
„Mein Gott, wann habe ich die beiden zuletzt gesehen?“
Er wusste es nicht mehr. So sehr er sich auch abmühte, es fielen ihm keine Bilder dazu ein. War es gestern gewesen, letzte Woche, letzten Monat oder gar schon letztes Jahr?
Großer Trauer kam über ihn und von innen stach ein gemeiner Schmerz dazu, wie von einem Messer mit geriffelter Klinge.
„Wann, wann, wann … ?!“
Es wurde nicht besser für ihn, als ihm die beiden Buben und das Mädel einfielen, seine, ihre Kinder, denn auch die waren einfach verschwunden ohne ein Abschiedsbild für ihn zu hinterlassen.
„Verfluchte Scheiße!!! Was ist hier los, verdammt!“
Er glaubte es zu schreien, sah sich selber wie er auf der Terrasse schreiend umher rannte, hörte aber nichts, keinen Laut, einfach nichts, nicht mal die Vögel aus der Hecke meldeten sich.
Ganz leise wurde er, ja stumm, kauerte sich, krümmte sich, war nur noch ein hockendes Stückchen Elend, als ihm seine Frau einfiel, aber kein Bild, auch nicht von ihr, wann und wie er sie zuletzt gesehen hatte, kein Ton, kein Wort, keine Geste, nichts.
Völlig erschüttert verließ er den Garten, schlich durch das Haus, dessen knarzende Stille, ging durch die Haustür auf die Straße, sah wie gewohnt die parkenden Neuzulassungen stehen, wie sie hier jedes Jahr frisch angerollt kamen, in den jeweiligen Jahresfarben, sah die späte Sonne sich im Lack amüsieren, ja, als würde sie ihm aufmuntern zublinzeln oder grinste sie?
Der Hausarzt, hier im Nachbarschaftshaus um die Ecke, Dr. Rauch, der Siggi, wie ihn der Vater nannte als alter Schulfreund, der musste es wissen, der musste ihm jetzt und hier helfen. Verdammt, er wollte seine Familie und seine Bilder zurück.
Philipp Baumen klingelte Sturm. Erst als ihm keiner öffnete, sah er auf das Schild:
„Dr. Höllental, Hals, Nasen-Ohrenarzt.“
Was sollte das jetzt? Er drehte sich um zur Straße. Sah von weitem die alte Betram her humpeln.
„Mein Gott, “ dachte er, „ist die nicht schon lange tot?!“
Er rannte los, von ihr weg, irgendwohin, rannte durch die Straßen, sah die Häuser bald an sich vorbeifliegen, die Vorgärten mit ihren letzten Blüten, spätsommergelb,
dann die Dächer, spürte, wie er rennend und mit den Armen gleich wie mit Flügeln schlagend, zu fliegen begann, über ging in das Gleiten wie er es bei den Schwalben gesehen hatte, hörte auf zu strampeln, verlor an Höhe, erst langsam, dann immer schneller, stürzte der Erde, den grauen Platten eines Gehweges immer näher und … natürlich wachte er auf, wieder in Schüben, verwirrt, mit pochendem Herz, Schweiß auf der Stirn, auf der er eine Hand spürte, ihre Hand, die Hand seiner Frau, in deren Gesicht er blickte nach dem vorsichtigen Öffnen der Augen.
„Was ist mit Dir, hast Du schlecht geträumt?“
„Gertrud, wann haben wir uns zuletzt gesehen? Bitte!“
Sie sah ihn an:
„Wovon hast Du geträumt, Philipp?“
„Bitte, Gertrud, wann haben wir uns zuletzt gesehen? Ich habe versucht mich zu erinnern und da war nichts, kein Bild, nichts. Und auch von meinen Eltern und den Kindern, nichts!“
„Philipp, Deine Eltern sind seit 5 Jahren tot und die Kinder leben mit ihren Familien in München, Osnabrück und …“
„Ja, ja, schon gut.“
Er konnte sich wieder erinnern. Ja, die waren fort, länger schon. Aber Gertrud, die war hier und er suchte verzweifelt ein Bild vor diesem hier, bevor er eingeschlafen war. Er fand es nicht.
Sie schüttelte den Kopf und holte sich ihren Liegestuhl, setzte sich hinein.
„Nun  wach mal erst richtig auf! Ich bin müde. „
„Gertrud, das kann doch nicht sein, dass ich kaum noch weiß was wir hier all die Monate treiben seit Beginn meiner Rente. Ich sehe alles Mögliche, aber nicht uns, nicht Dich.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht gibt es da nichts zu sehen, Peter. Wir leben einfach, verbringen die Tage wie man die Tage verbringt. Was willst Du denn da groß sehen?“
„Dich und mich Gertrud, wie wir leben, ob wir lachen oder weinen, Getrud, ob Du glücklich lächelst oder böse guckst, irgendwas, Gertrud, irgendwas muss ich doch sehen können.“
„Das kommt schon. Bist noch duhn vom Schlafen. Muss’n schlimmer Traum gewesen sein. Vielleicht war das Essen doch zu schwer.“
„Getrud, vielleicht müssen wir mehr miteinander reden. Verstehst Du, darüber, was wir treiben.“
„Warum denn? Ich wüsste auch gar nicht worüber.“
„Weil wir sonst ohne Erinnerung sind und dann auch kein Heute haben, keine Zukunft, nichts, weil alles weg ist, jeden Tag einfach weg wie nie dagewesen.“
„Ja, ja! Krieg‘ Dich man wieder ein. Erinnern? Ja, das kann ich Dich, wolltest Du nicht längst den Wasserhahn im Badezimmer reparieren?!“
„Aber Gertrud, das meine ich doch nicht. Erinnerung, Gertrud, an uns, unser Leben, das da was war, was auch Morgen zu Leben sich für uns lohnt!“
Aber es ging ihm wie den meisten Philosophen im Land, er wurde nicht erhört oder auch nur ansatzweise verstanden, eigentlich schlicht und ergreifend ignoriert.
Und da saß er nun mit zwei Alpträumen, wusste nichts rechtes mehr damit an zu fangen, besah den Himmel, das im Schlaf lächelnde Gesicht von Gertrud neben sich, beschloss, dieses Bild als erstes in die Sammlung auf zu nehmen, es morgen wieder hervor zu holen und an zu sehen wie früher als Schulbub seine Briefmarken. Ja, so würde es gehen. Wieder ruhiger schloss er die Augen und schlief, diesmal traumlos, neben ihr dem gemeinsamen Abend entgegen.

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