Samstag, 5. Oktober 2013

Retter der Dachböden



Seit ein paar Wochen steht er nun schon jeden Tag auf dem Kirchplatz, wenn wir aus dem Gottesdienst heraus kommen. Er steht da mit seinem hochgereckten und selbst bemalten Pappschild. Sieht uns ernst und stumm an. Sagt nie ein Wort, auch wenn, was selten vorkommt, ihn einer darauf anspricht. Steht da, sieht uns in die Augen, hat selber klare blaue Augen und einen starken Blick, den man kaum aushalten kann und so sehen wir meistens nicht mit, wenden den Blick ab, fühlen unsere ganze Schwäche in diesem Augenblick. Sind doch nur Augen und ein Pappschild mit den Worten: „Rettet die Dachböden!“
Als Pastor der Gemeinde musste ich ihn ansprechen. Natürlich bedrängten mich Mitglieder aus dem Kirchenvorstand, etwas zu tun. Politische Propaganda habe vor der Kirche nichts zu suchen, sei doch verboten und wir, die Gemeinde, hätten hier schließlich Hausrecht, eigentlich sei das doch Hausfriedensbruch und so weiter.
Sie wissen ja, wie wenig christlich gerade engagierte ehrenamtliche Christen bisweilen sind.
Wir Pastoren haben auch nicht mehr die Zeit wie früher, uns um alles zu kümmern. Drei Gemeinden habe ich zurzeit zu betreuen. Es fehlt das Geld. Das Land ist zwar reich geworden in den Jahrzehnten nach dem letzten großen Krieg aber ärmer an gläubigen Christen und Kirchensteuern.
Diese Gemeinde hier lag mir besonders am Herzen. In den Straßen und Häusern des Viertels bin ich geboren worden und herangewachsen, bis ich wegen des Studiums in eine andere Stadt ziehen musste.
Es ist ein gutes Stadtviertel. Alle Häuser sehen frisch und renoviert aus. Die kleinen Vorgärten der ehemaligen Arbeiter- und Bürgerhäuser funkeln im Frühling von der Blumenpracht und glänzen im Herbst von den Blättern der Ziersträucher und Bäume.
Der Wohlstand hat uns Ruhe und täglichen Frieden hereingebracht. Wer hier wohnt, hat sein Auskommen, seine zum Gymnasium und Studium strebenden Kinder, verfügt in der Freizeit über einen gut ausgeklügelten Menüplan für allerlei Aktivitäten wie Theaterbesuch, Joggen, Fitnessgeräte im Center an der Hauptstraße und Restaurants mit Speisekarten aus allen Himmelsrichtungen dieses Planeten.
Aber natürlich gibt es auch hier mal Not oder Wirrnis, Menschen, die durch das Raster fallen. Für die haben wir eine Teestube mit „Tafel“ eingerichtet, für die Supermärkte, Bäcker und Schlachter ihre abgelaufene oder am Tag nicht frisch verkaufte Waren spenden und natürlich haben wir auch eine Kleiderkammer zu der auch ein kleines Möbelkaufhaus gehört, auch alles mit Waren aus Spenden. Das macht nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch viel Freude, auf jeden Fall ist der ganze Kirchenvorstand damit gut beschäftigt. Besonders stolz sind wir auch auf unsere kleine Hospiz-Gruppe, die Sterbende und ihre Angehörigen betreut, schließlich müssen wir alle trotz unseres Glückes hier ja einmal vor das Angesicht des Herrn treten. Und wem die Religion fehlt, dem fällt das nicht gerade leicht.
Was also, bitte, kann da ein Typ groß stören mit einem Pappschild?
Und worüber soll ich mit ihm reden? Über Dachböden?
Neulich noch musste ich eine verwirrte Frau in die Psychiatrie bringen. Mitten im Gottesdienst war die aufgesprungen und hatte geschrien: „Ihr seid alle Mörder, Mörder, Mörder!“
Sie war nicht zu beruhigen und so brachten zwei Männer des Kirchenvorstandes sie zu mir in die Pfarrwohnung, wo meine Haushälterin sich um sie kümmerte.
Nach dem Gottesdienst fand ich die beiden in der Küche, die Frau kräftig am weinen und meine Haushälterin mehr als ratlos daneben.
„Reden Sie doch mal mit ihr. Ich schaffe es nicht, sie zu beruhigen.“
Ich nickte, ließ sie weiter an unserem Mittagsessen werkeln und setzte mich zu der Frau. Als ich ihre Hand nehmen wollte, zog sie die schnell und heftig zurück, schüttelte den Kopf.
„Nicht! Sie haben ja keine Ahnung. Sie sind blind, wissen Sie! Blind! Taub! Das sind sie, sonst würden Sie bei all den Mördern hier nicht so fröhlich grinsen.“
Ich dachte nicht, dass ich grinste, meinte eher begütigend zu lächeln. Aber wahrscheinlich hatte die Frau unter ihren Tränen mich gar nicht richtig gesehen.
Sie ließ mich nichts fragen. Sprach redete, schrie, bis wir sie unterstützt von Rettungssanitätern aus der Wohnung in den Krankenwagen bringen konnten.
Was sie redete? Nun, dass alle Völker im Wohlstand zu Mördern würden, sich selbst und ihren Kindern das Leben und die Zeit töten würden mit Fernsehen, Drogen, Alkohol, Computerspielen und blödsinnigen Massen-Events in riesigen Sportarenen, ansonsten aber durch Hektik, Druck und Erpressung gute Arbeit töten, jede Regung von Mitmenschlichkeit und sinnvoller Beschäftigung. Das ging bei ihr alles ineinander, übereinander, durcheinander. Von den Begriffen her, die sie gebrauchte, musste sie sehr gut gebildet und auf dem Laufenden gewesen sein. So kam es mir jedenfalls vor. Aber total durch geknallt, wenn ich als Pastor das auch nicht so nennen sollte. Natürlich kam auch die Umweltverschmutzung dran, die ausgerotteten Tiere, die Erderwärmung mit den schmelzenden Gletschern und dem steigenden Meerwasser. Nicht zu vergessen die hungernden Menschen überall auf den Kontinenten, denen die Lebensgrundlagen ermordet worden wären. Ja sie nannte alles Mord, morden, Mörder. Solche Leute gibt es halt. Denen kann auch die Bibel und ein Pastor nicht mehr helfen. Aber wir haben eine gute Psychiatrie am Stadtrand, in einer ehemaligen Kaufmannsvilla, mit sehr gutem Ruf auch in der Umgebung. Da brachte ich sie hin mit dem Rettungswagen, wartete noch bis die Spritze der Sanitäter ihre Wirkung tat und verabschiedete mich von ihr. Ich wusste sie von da in guten Händen.
Und nun dieser Mann mit dem Schild. Ein älterer Herr eher, vielleicht 60 oder 70, auf jeden Fall grau- und langhaarig, gekleidet in Jeansjacke und Jeanshose wie wohl schon zu seinen Jugendzeiten. Fehlte nur die Gitarre auf dem Rücken.
„Ich soll mit Ihnen reden.“
Der Mann sah mich, so zumindest mein Eindruck, neugierig an.
Und sprach, sehr zu meinem Erstaunen, sofort.
„Warum? Wer sagt Ihnen das?“
„Der Kirchenvorstand!“
„Nicht Ihr Herr, der Gott da oben? Ich dachte, dessen befehle müssten Sie nur befolgen?“
Man wird verstehen, dass ich keine rechte Lust auf so eine plumpe Gottesdiskussion hatte.
„Wegen Ihrem Schild. Was meinen Sie damit überhaupt?“
„Haben Sie ausnahmsweise ein wenig Zeit. Dann erkläre ich es Ihnen. Aber nicht hier. Mir ist kalt und ich kann nicht mehr lange stehen.“
Ich ging auf seine Selbsteinladung gerne ein, denn es war wirklich schon kühl in der Jahreszeit und so gingen wir zusammen zum Pfarrhaus. Er schwieg wieder und so hielt ich auch meinen Mund.
Er war mit einem Kaffee einverstanden, lehnte aber Kekse oder etwas anderes dazu ab.
Meine Haushälterin schüttelte leicht und missbilligend den Kopf als wir eintraten und verzog sich.
Er schwieg erstmal weiter, trank einen Schluck Kaffee und sah mich mit seinen Augen an. Interessante Augen, die hatte er wirklich. Er wirkte weder bedrückt noch hysterisch wie die Mörder-Frau neulich, eher klar und mit sich selbst im Reinen.
Wie immer es auch geschah, ich wurde plötzlich und ziemlich unsicher in seiner Gegenwart. Fühlte mich unbehaglich. Bekam auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen, ohne zu wissen warum.
Als er endlich zu sprechen anfing, war ich erleichtert.
„Haben Sie die Dachböden der Häuser hier mal gesehen. Jetzt, meine ich. Was sie aus denen gemacht haben? Nein? Ich sage es ihnen: Kinderfallen. Da hocken ihre Kinder jetzt bis spät in der Nacht an ihren Computern und nichts dort, gar nichts erinnert noch an die alten Dachböden, an diese Märchenräume, Räuberhöhlen und Fundorte, die sie einst waren.“
Berufsmäßig gut durchtrainiert nickte ich zu seinen Worten, schlürfte Schlückchen nach Schlückchen den Kaffee und hörte einfach nur zu.
„Von den verschwundenen Trümmergrundstücken will ich ja gar nicht reden. Unsere Abenteuerinseln und Entdeckungsräume. Ja, wir hatten dort eine gute Kindheit. Die Kinder heute können noch von Vorgarten zu Vorgarten hüpfen. Aber was gibt es da schon zu entdecken? Oder den Gärten dahinter? Erfüllte Konsumwünsche, ja die haben sie dort. Trampolin, Basketballkorb, kleine Fußballtore, eigenen Sandkästen um dort ihre Langeweile zu verbuddeln. Aber nichts mehr zu entdecken, keine echte Herausforderung und schon gar nichts für Träume und Phantasien. „
Er hatte seinen Kaffee ausgetrunken und ich schenkte ihm nach. Ich fragte mich woher diese Wohlstandskritik kommen mochte in diesen Tagen, diese Nostalgie, als wenn früher alles besser gewesen wäre. Ja, die Trümmergrundstücke hatte ich auch noch erlebt. Die letzten Paar. Aber wir waren dorthin geflüchtet, hatten ja keine eigenen Kinderzimmer in denen wir uns aufhalten konnten, nur Schlafstuben. Heute mussten Kinder nicht nach draußen flüchten, hatten ihr eigenes reich. Was sollte daran verkehrt sein. Zuviel Computer ja! Auch das die ihren eigenen Fernseher dort hatten und nicht mal mehr gemeinsam mit den Eltern fern sahen, ja! Das ist nicht gut. Aber eine Tragödie?
Die Kinder entwickelten sich doch gut hier, kamen fast alle auf die Uni, wurden Ärzte, Lehrer, Ingenieure. Was also sollte schlecht gelaufen sein mit denen?
Als hätte er meine Gedanken erraten, fuhr er fort:
„Auf der Strecke bleibt das Soziale, die Phantasie, der Mut zur Kreativität, zu außergewöhnlichen Lösungen, verstehen sie, und eine Kindheitswelt, eine echte Kinderwelt, nicht das was sie jetzt haben, in dem sie wie kleine Erwachsene handeln, als Babys schon Knöpfe drücken und auf Computern sich bewegen, statt auf der Erde. Wissen Sie noch, was Sie auf den Dachböden erlebt haben, mit wem sie dort waren und wie oft?“
Ich schüttelte den Kopf. Wollte mich gar nicht daran erinnern, an den Staub, den Geruch und die Unordnung dort. Ich war immer froh gewesen, nicht dort hinauf zu müssen.
„Ich jedenfalls kann es und weiß noch, was ich dem Dachboden meiner Großeltern zu verdanken habe. Dort habe ich meine ersten Reisen mit Sigesmund Rüstig in die Südsee angetreten, ein altes, leicht riechendes Buch, wie alle die ich dort damals fand in den Kisten. Mit dem tapferen Nettelbeck habe ich königsberg verteidigt und geheult beim „Kampf um Rom“. Ich bin mit den Vifelanten gegen Viehdiebe geritten und habe in den Mädchenbüchern meiner Mutter das „Rosenresli“ bezaubern gefunden und hätte sie und ihre Mutter gerne aus ihrer Armut befreit. Ja, es waren nicht alles sogenannte gute Bücher, manche stammten aus der Nazizeit und waren deshalb dort oben gelandet. Es waren weder Goerthe, noch Schiller, noch Heine dabei und auch nicht die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Aber Bücher waren es trotzdem, mit Weiten und Bildern, wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte. Und dank ihnen bin ich zum Lesen gekommen, zu meiner Phantasie vorgestoßen und habe mich zu träumen getraut, ganz andere und wilde Geschichten als vorher. Nicht nur das, der Dachboden war mein erstes Jagdrevier, meine Schatzinsel, das erste reich, dass ich mir selbst erobern konnte. Und später haben wir Freunde dort gehockt, gequatscht, geträumt, uns Höhlen gebaut dort, wenn der Sommer vorbei war und das Schmuddelwetter uns in die Häuser sperrte.“
Er machte eine Pause und ich sah ihn weiter ruhig an. Irgendetwas kam mir in die Erinnerung, noch sehr verschwommen aber doch in der Art, wie er sie hier vor mir ausbreitete. Es war der Keller. Dort hatte ich meines Vaters Krimis in Kartons gefunden und sogar Comics hatte er dort gelagert. War ihm sichtlich peinlich gewesen, als ich eines Tages damit nach oben kam. Ich habe sie nicht im Keller und auch nicht auf dem Boden gelesen sondern auf dem Klo. Denn da war ich am ungestörtesten Dran in meiner Kindheit. Und ich hatte seine Bibel gefunden und die nahm ich sogar mit unter das Bett, um sie abends beim Licht einer Taschenlampe durch zu lesen. Sie kam mir vor wie ein einziger großer Abenteuerroman mit vielen tollen aber auch zum Teil verrückten gestalten. Als ich seine Karl May-Bücher fand musste ich immer wieder an die Geschichten in der Bibel denken, weil ich dessen Geschichten als sehr ähnlich empfand. Vielleicht bin ich so zum Pastor geworden und der Bibel als regelmäßige Lektüre treu geworden und geblieben bis zum heutigen Tag.
Ich erzählte ihm davon und meinen Bruchstücken an Erinnerung, die er in mir ausgelöst hatte.
Das erfreute ihn sichtlich.
„Ja, genau das meine ich. Ob Dachboden, Keller, Kabuff, ist doch egal. Heute fehlen diese versteckten schätze, alles weg auf dem Sperrmüll oder den Flohmärkten verscherbelt. Ja und die Keller sind Partykeller geworden oder Hobbyraum. Wie sollen unsere Kinder so Reisen entdecken und sich selber?“
„Das machen sie heute am Computer.“
„Aber wie denn, ohne Geruch, ohne Kratzer, ohne das Holz spüren, die Spinnenfäden, ohne das schummrige Licht mit den Augen zu durchsuchen. Geht doch alles am Computer nicht. Der mag ihren Grips herausfordern, aber mehr geht da nicht. Bestimmt nicht. Es fehlt alles was das Leben ausmacht, riechen, hören, schmecken ohne dass wir es einstellen, einfach so, ohne unser Zutun, das Leben wie es uns umgibt, fordert, streichelt und auch zwickt. Unvorhergesehen, einfach so. Erleben! Wissen Sie! Erleben! Das fehlt ihnen. Und darum stehe ich mit dem Schild da. Darum versuche ich die letzten Dachböden für sie zu retten. Darum sitze ich hier mit Ihnen. Wir brauchen wieder echte Erlebniswelten und nicht pädagogisch verdröselten Naturerlebnispfade oder sogenannte Abenteuerspielplätze, die die Kinder in 5 Minuten durchschaut haben, um sich dann zu entscheiden, was ihre Bedürfnisbefriedigung noch am ehesten erreicht.“
Zu meiner eigenen Überraschung bot ich ihm an, mit mir auf den Dachboden des Pfarrheims zu kommen, auf dem ich bestimmt Jahre nicht mehr war.
Wir verbrachten zwei Stunden dort zusammen, durchstöberten Kisten, fanden tatsächlich alte Bücher, die die Gemeindebücherei wohl aussortiert hatte und allerlei Krimskrams.
Zum Schluss bat ich ihn seine Gedanken für das Gemeindeblättchen zu formulieren. Bereits nach einer Woche hatte ich seinen Text. Es gab tatsächlich eine heftige Debatte im Kirchenvorstand über diesen „Schwachsinn“, wie einige erbost meinten, und ich bin seitdem mit dem Mann befreundet, überhaupt habe ich angefangen mich für andere Dinge zu interessieren und zusammen haben wir manchen Dachboden durchstöbert und vor dem Umbau gerettet. Als nächstes planen wir ein Museum für Dachböden. Die ersten Spenden haben wir schon.

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