Am
Heiligen Abend in einer kleinen und alten Hansestadt schmückte ein Greis
alleine in seiner von Eichenmöbeln beherrschten Wohnstube einen Tannenbaum mit
Kugeln, Lametta und elektrischer Lichterkette.
Der
Baum reichte vom Boden bis zur Decke, gerade dass der golden funkelnde Stern
oben als Spitze noch Platz fand.
Der
Baumschmücker war gekleidet, als würde er anschließend ein Restaurant besuchen
wollen, weißes Hemd unter der Krawatte, dunkelgrau melierter Anzug mit scharfen
Bügelfalten in der Hose.
Schlank
war er, vielleicht geblieben, vielleicht geworden. Sein Gesicht wirkte ledern
aber freundlich durch die tiefen Lachfalten seiner vielen Jahrzehnte. Sein Haar
leuchtete weiß und hell mit den Kugeln im Schein der kleinen Lichter.
Aus
der Ecke, von unterhalb des großen, schwarz umrandeten Flachbildschirms, kam
leise Adventsmusik von Chören und Orchestern, klassisch gespielt und gesungen.
Neben
der Tür hing an einem großen, gusseisernen Ständer ein mächtiger Adventskranz,
dessen Kerzen gemäß der Adventszeit unterschiedlich herunter gebrannt waren.
Auch
an anderen Stellen fanden sich adventliche Dekorationen, kleine Tannenzweige
mit ein wenig Goldglitter und Tannenzapfen, Nüssen oder getrockneten
Apfelsinenschalen dekoriert, im Bücheregal drei sehr unterschiedliche
Räuchermänner, auf der langen Kommode eine hohe Pyramide aus dem Erzgebirge mit
drei Ebenen, sogar ein Adventskalender mit dem Motiv eines alten Weihnachtsmarktes
hing an der Wand, alle Fenster ordentlich geöffnet und die Klappen säuberlich
abgetrennt.
Der
Mann summte die Lieder leise mit und sah kaum, was er tat. Er brauchte es auch
nicht, hatte all die vielen Jahre hindurch am Heiligen Abend so den Baum
geschmückt. Zu Beginn etwas wilder, billiger die Kugeln, mehr vom Lametta und
noch jede Menge essbare Zuckerkringel, später dezenter, mit kostbareren Kugeln,
die sie jedes Jahr Stück für Stück ergänzt hatten, erst noch mit den Kindern,
später alleine.
Er
tat seine Arbeit bedächtig, fast im Schneckentempo, als wäre dies ein heiliger
Akt, den er da am Baum vornahm. Und genau das war es auch für ihn. Er liebte
dieses Schmücken, die Tradition von Advent und Weihnacht. Das war schon immer
der Jahreshöhepunkt für ihn gewesen. Ebenso der Kirchenbesuch am Abend, obwohl
er lang schon nicht mehr an einen Gott zu glauben vermochte. Aber der Besuch
war ihm notwendiger Teil des Abends, so auch den Kindern und seiner Frau. Es
war eine Tradition, die das Jahr vollendete, den Sinn bewies, den das Leben
trotz aller Sorgen und Bedrückungen, Schicksalsschläge und Anfeindungen für sie
bereit hielt.
Und
sie gingen in die Kirche um sich dort der Gemeinde anzuschließen, Teil zu
werden ihres Viertels und all der Generationen, die vor ihnen hier hin gegangen
waren, den Heiligen Abend zu würdigen.
Die
Kirche entstammte der Zeit der norddeutschen Backsteingotik und war von den
Bilderstürmern der Reformationszeit halbwegs verschont geblieben, so dass er jedes
Mal während des Gottesdienstes sich in die vom damaligen Bürgertum gestifteten
Bilder fast meditativ verlieren konnte.
Der
alte Mann hier war immer ein kritischer Kopf gewesen, sehr zum Verdruss seiner Frau,
die oft fürchtete, er könne durch seine Äußerungen und Handlungen seine Arbeit
verlieren. Eine gute Arbeit, als Betriebsschlosser, später sogar als Meister
der Betriebsschlosserei, sehr gut bezahlt und trotz Schichtdienst und
Überstunden am Samstag relativ stressfrei. Es gab anderthalb Monatsgehälter
Weihnachtsgeld, im Sommer kam auch noch ein halbes Gehalt Urlaubsgeld dazu.
Davon
konnten die Kollegen heute nur noch träumen, das wusste er. Seine Firma war
längst an einen amerikanischen Großkonzern verkauft, hatte die Tore schließen
müssen und war schon länger umgebaut um ein Museum, ein Theater und Ateliers
für junge Künstler auf zu nehmen. Seine Welt war das da nicht mehr.
Einmal
im Jahr traf er sich mit den alten Kollegen, die naturgemäß immer weniger
wurden. Dann saßen sie zusammen beim Bier und schwelgten in Anekdötchen und
hatten doch ein wenig schlechtes Gewissen, wenn sie an die dachten, die heute
in den Fabriken arbeiten mussten.
„Da
haben wir es noch gut gehabt“, so ein Satz fiel oft in diesen Runden. Oder: „Die
werden nicht unsere Rente haben, die nicht mehr.“ Das machte sie traurig.
Waren
sie doch fast alle in der Gewerkschaft gewesen, hatten sich für ihre Kollegen
eingesetzt. Er selber hatte jahrelang als Betriebsrat und Vertrauensmann an
vorderster Front gestanden wenn es um die Abstellung von Übeln, wie Staub, Lärm
oder schlechte Behandlung ging.
Zweimal
hatten sie sogar gestreikt, eine tolle Zeit, wie er heute noch fand. Da war
Solidarität und Kollegialität großgeschrieben gewesen, nicht wie heute mit
diesem Mobbing und Bossing und Burn out oder wie das noch alles heißen mochte. Und
dann diese Fremdfirmen, die die Tarife zerstörten, dieses Damoklesschwert Hartz
IV, dass den Beschäftigten den Mut nahm, sich zu wehren.
Bei
allem hatte er sich aber auch ganz allgemein für sowas wie Geschichte
interessiert und die alten Gemäuer der Romanik und Gotik und die Bilder in
ihnen waren ihm in ihren jährlichen Urlauben, meist in Italien, Frankreich oder
Bayern, stets die liebsten gewesen. Dort konnte er sich entspannen, fand zu
sich selbst, war sich mehr als nur der Prolet im Blaumann.
Vieles
Alte war seit den Zerstörungen durch Krieg und Wiederaufbau endlich rekonstruiert,
verschönert und restauriert worden. Auch seine Stadt prahlte mit ihrer „steingewordenen“
Vergangenheit, ein Adjektiv aus einem Zitat, das er sehr mochte.
Schon
immer war ihm die Vergangenheit beim Schmücken am Heilig Abend so wie jetzt in
den Sinn gekommen und hatte ihn begleitet bis die letzte Kugel oder früher der
letzte Kringel am Baume hing.
Und
er hatte die Atmosphäre genossen, sich darüber gefreut, dass sie es all die
Jahre geschafft hatten diese Tradition nicht nur aufrecht zu halten, vor allem
mit den Kindern, noch mehr aber sie auch zu genießen, sich nicht beirren oder
anstecken zu lassen von der nach seiner Meinung fürchterlichen Amerikanisierung
der Festtage und Verkitschung durch Billigprodukte, die er oft auf dem
Sperrmüll gefunden hatte, auch den Opfern dieser Konsumschwemme offensichtlich
nicht des Aufhebens oder der Pflege wert. Er fand das schade und sehr
bedauerlich, hatte Mitleid mit den Käufern, die so nichts besaßen, als den schnöden,
glanz- und erinnerungslosen Augenblick.
Nein,
so hatten sie es nie gehalten. Sie hatten nur angeschafft, was bleiben konnte
und wert war, auf Dauer ihnen Freude bereitete.
„Vielleicht
stirbt das alles hier mit mir und ähnlich Gestrickten aus“, dachte er traurig. „Vielleicht
geht das, ja wahrscheinlich sogar, so unter wie einst die Kultur der Inkas oder
Ägypter. Und dann braucht es wieder Jahrhunderte der Barbarei, bis vielleicht
irgendwo neu Kultur entsteht und aufblüht und sich pflegt. Oder diesmal geht
alles den Bach runter, für immer. Wer versteht schon, dass wir das Auge des
Weltalls sind, mit denen es sich selbst betrachten kann und will, seine Schönheit
spüren und das Wunder alles Werdens in seiner unendlichen Zahl an Sonnen,
Materie und Geburten von Planeten. Ohne uns verlöre sich doch auch für das Weltall
der Sinn seiner Existenz. Es wäre wirklich tod und sich selber fremd.“
Der
Mann hatte sich im Alter offensichtlich nicht nur für Geschichte interessiert.
Er
hatte bereits früher, auch schon zu seiner Erwerbstätigenzeit, so „schnurrige“
Gedanken, wie seine Frau diese zu benennen pflegte, halb ironisch, halb ehrfurchtsvoll,
gepflegt, gedacht und ausgesprochen.
Seine
Frau würde heute Abend nicht da sein. So wenig wie seine Tochter oder sein
Sohn, auch nicht deren Ehepartner. Alle gestorben, Krebs, Autounfall,
Herzinfarkt, alle zu früh, vor allem die Jungen, viel zu früh. Aber auch das
war jetzt eine Weile her, die Wunden waren Narben geworden, hart zwar, aber
biegsam, in den Bewegungen kaum zu spüren. Enkel gab es keine. Warum auch
immer. Pech. Ausgerechnet er, der älteste von ihnen allen, war am Leben
geblieben, so wie er auch 5 Brüder und zwei Schwestern überlebt hatte. Warum
auch immer. Er wusste es nicht.
„Vielleicht
bin ich mit meinen Gedanken ja für dieses All da draußen wichtig“.
Er
hatte den Baum fertig und er holte aus der Küche die Silberkanne mit dem Tee, Dresdner
Stollen auf einem Schneideholzbrett, das lange Brotmesser, letztes Weihnachtsgeschenk
der Frau, zwei Tassen und Kuchenteller, deckte dies auf am Wohnzimmertisch, als
wäre seine Frau noch da und würde gleich neben ihm Platz nehmen.
Bedächtig
wie er den Baum geschmückt hatte, schnitt er den Stollen für sich auf. Legte
ihr und sich jeweils ein dickes Stück hin. Nahm das seine und aß es genüsslich.
Dabei
betrachtete er den Baum und lauschte ruhig der Musik, während er sehr langsam
kaute und nur ungern das Verschwinden des Stollens in seinem Gaumen zuließ. Am
liebsten hätte er jetzt die Zeit angehalten.
Natürlich
lagen unter dem Baum Geschenke, so wie früher. Die meisten, auch dies wie
früher, in dem schon immer besonders schönen Weihnachtspapier der alten
Buchhandlung am Eck. Die anderen Geschenke wurden verhüllt vom dem Glanzpapier
einer Drogeriekette, die einen Einpackservice bereit hielt. Natürlich kannte er
den Inhalt der Geschenke, hatte er doch alle ohne Ausnahme selber gekauft zu
Beginn des Dezembers, auch dies wie schon früher.
Er
wollte sich zeit lassen mit dem Auspacken, freute sich aber bereits auf das
Lesen und Stöbern in den Büchern, den Duft des Rasierwassers und natürlich
hatte er auch ihr wieder ein Parfümfläschen gekauft.
„Vielleicht
sollte ich doch mal wieder Tabak besorgen und meine Pfeifen wieder schmauchen,“
überlegte er, denn irgendwie kam es ihm doch so vor, als würde etwas fehlen.
Nicht die Familie, die war ja nicht mehr. Das war geklärt und nicht anders zu
erwarten gewesen. An Wunder glaubte er schon seit seinen Kindertagen in diesem
verfluchten Krieg, den seine eigenen hirnverbrannten Landsleute angezettelt
hatten, nicht mehr. Nein, etwas anderes hatte er wohl vergessen, etwas, was ihm
möglich gewesen wäre zu beschaffen und jetzt hier bei sich zu haben. Aber ob
die Pfeifen ihn da retten könnten?
Nein,
das war es sicher nicht.
Während
er sich so dem Grübeln hingab und den letzten Bissen Stollen genoss, klingelte
es an seiner Haustüre. Ganz entgegen seiner Gewohnheit zuerst aus dem
Schlafzimmerfenster nach unten zu sehen, wer da Einlass begehren könnte, ging
er direkt nach unten, durchschritt den kleinen Windfang und öffnete die
Haustür.
Bis
zu dieser Sekunde hatte er sich nicht einmal gefragt, wer da vor der Tür stehen
könnte noch war er neugierig darauf gewesen. Das langsame Tempo seiner Handlungen
an diesem Abend schienen auch auf sein Gehirn und dessen Geschwindigkeit von Wahrnehmung
und Denken beeinflusst zu haben. So kam es, das sein Körper handelte, bevor er
darüber nachdenken konnte. Vielleicht geschah es aber auch, weil Klingeln,
folgendes sich Erheben und die Treppe hinuntergehen ihn von der Fragerei
befreite, was er vergessen haben könnte, was ihm fehlen würde.
Mehr
zu seiner Überraschung, denn zum Erschrecken, kam er nicht mehr dazu, die Tür
weit zu öffnen und wie gewohnt den Besucher in Augenschein zu nehmen, noch
weniger ihn nach seinem Begehren zu fragen. Die Tür wurde sofort nach vorne
gedrückt, er mit der Tür gegen den Rahmen der anderen Tür des Windfanges, die
in den kleinen Flur mit der Treppe führte, und noch bevor er dieses realisieren
konnte, drängten zwei Männer mit Nikolausmasken ihn weiter, die Treppe hinauf,
stießen ihn auf das Sofa neben dem Christbaum, bedrohte ihn der eine mit einer
Pistole, während der andere sehr hastig alle Schubladen im Raum aufriss, die
Vitrinen durchstöberte und schließlich so fortfahrend das ganze Haus
durchsuchte, in einen Sack warf, was ihm werthaltig schien, bis er schließlich
wieder vor dem alten Mann stand, fragte: “Geld, Scheckkarten?!“
Der
alte Mann nickte, zeigte in den Flur, wo sein Wintermantel hing.
„In
der rechten Innentasche, in der Brieftasche.“
Als
der anscheinend mit dem Rauben Beauftragte zufrieden wieder kam, wollte der nur
noch wissen:
„Irgendwo
noch Bargeld, Schmuck, Aktien?“
Der
Alte schüttelte Kopf.
„Rentner,
nix mehr. Schon lange nicht mehr.“
„Sieht
man. Ganz schön vertaubt hier. Auf wen wartest Du denn?“
„Warten?
Ich? Auf niemand.“
„Verarsch
uns nicht. Die zweite Tasse, das Stück Kuchen, na …! Wer ist es und wo!“
„Aber,
das ist doch nur für meine Frau.“ Der Alte war verlegen, als wäre es ihm
peinlich, dass diese Räuber ihn der Lüge bezichtigten.
„Ja
und? Wo ist sie hin, die alte Dame? Oder hast Du alter Bock noch ne Junge?“
Beide
lachten und grienten ihn an.
Er
schüttelte den Kopf, was immer er damit sagen wollte, ob: „Nein, keine Junge“
oder, „Sie verstehen mich nicht.“
„Alter,
los, wo ist die Tante, mach hinne! Wir haben nicht den ganzen abend Zeit!“
„Auf
dem Friedhof.“
„Blumengießen
am Heilig Abend? Ich fass es nicht. Alter, Du sollst uns nicht anlügen! Der da
oben sieht alles und wir erst recht.“
Wieder
lachten seine Räuber.
Der
alte Mann, und fast ein Wunder war es wohl, dass es den beiden ungebetenen
Besuchern gar nicht auffiel, blieb weiter völlig ruhig, fast unberührt, sagte
nur leise:
„Nein,
sie liegt dort begraben. Sie ist tod. Seit zwanzig Jahren.“
„Und
da stellste ihr noch’n Keks hin?“
„Seit
zwanzig Jahren, ja.“
Die
Männer schüttelten den Kopf, sahen ihn abfällig, wahrscheinlich wie einen an,
der ihrer Meinung nach nicht alle Schräubchen grade sitzen hatte, der eine von
ihnen suchte dann noch hier und da weiter, schließlich schlug der Bewacher dem Überfallenen
und nunmehr Ausgeraubten kurz und heftig auf den Hinterkopf und dann verzogen
sie sich. Das alles hatte nicht viel mehr als 5 bis 10 Minuten gedauert.
Der
alte Mann lag wohl das Mehrfache an Zeit bewusstlos auf seinem Sofa.
Schließlich aber erwachte er, befühlte seinen Kopf, schlurfte langsam und
vorsichtig in sein Badezimmer und besah sich im Spiegel. Er fand sein Gesicht
blass und die Augen wässrig. Aber so sah es schon länger aus. Der Schlag hatte
zwar eine Beule hervorgebracht aber keine blutende Wunde. Damit gab sich der
Alte zufrieden und ging in die Küche, entnahm dem Kühlschrank etwas Eis, ging
zurück in das Badezimmer, packte das Eis in einen frischen Waschlappen, den er
bequem aus der Schublade fischen konnte, da der Räuber sie offen stehen lassen
hatte. Mit dem Waschlappen am Hinterkopf ging er zurück in seine
Weihnachtsstube und sah auf die Uhr. Eine Stunde noch, dann würde er sich auf
den weg machen zur Kirche. Der Gottesdienst begann zwar erst eine Stunde
danach, aber wenn er einen Sitzplatz ergattern wollte, musste er früher da
sein. In diesem Moment, bei dem Blick auf seine Uhr und das Bild von der
Kirche, das sie in ihm auslöste, begriff er, worüber er den Abend über
gerätselt hatte. Ja, etwas fehlte, etwas sehr wichtiges hatte er vergessen und
dies schon seit geraumer Zeit.
Die
Menschen hatte er vergessen, vergessen sie zu besuchen, vergessen sie in seine
Rituale ein zu beziehen. Da in der Kirche, da waren sie, die Menschen, aber
nicht für ihn. So wie er ja auch nicht wegen ihnen dorthin ging.
Er
war einsam geworden, hatte durch Tod und Bequemlichkeit seit Monaten mehr mit
anderen Menschen gesprochen, im Höchstfalle mal gegrüßt, an der Kasse „Guten
Tag“ und „Auf Wiedersehen“ gewünscht.
Und
er sah sich selber, sah sich wie das All, einsam, ohne Gefährten, ohne
Austausch, nur sich selbst erlebend, im blinden Flug der Geschichte, die ein Kreis
sein mochte oder eine unendliche Bahn ohne Anfang, ohne Ende, ohne oder mit
Gott. Egal, wenn man alleine ist und mit niemanden sprechen kann.
„Wir
sind nicht nur das Auge des Weltalls, nein, wir sind auch seine Freunde,
Gefährten, Geliebten, ja, das alles sind wir. Ohne uns ist es einsam, leer,
vertane, verlorene Zeit im Irgendnirgendwo. Und so bin auch ich heute verloren
in der Einsamkeit trotz meiner geheiligten Rituale, meiner Erinnerungen, weil
es niemanden gibt, mit dem ich darüber sprechen kann. Ich muss wieder mehr
unter Menschen und dort meine Bahnen ziehen.“
Als
alter Facharbeiter und Meister war er es gewohnt nach dem Denken nicht lange zu
zögern, sondern gleich an die Tat zu gehen. So zog er sich jetzt schon an, ging
auf die Straße, beobachtete, ob da ein Mensch sei, den er ansprechen könnte und
wenn es um Feuer für die Pfeife sei. An die Räuber dachte er nicht mehr. Sie
waren ihm egal. Er hatte eine leichte Beule, an sein Geld auf dem Konto und
seine Rente kamen sie nicht ran, anderes Wichtiges hatte er im Schließfach. Was
die mitgenommen hatten ließe sich ersetzen. Auch hätte er ja vorher wie sonst
auch aus dem Fenster gucken können. Nein, die interessierten ihn nicht, taten
ihm, wenn er überhaupt etwas ihnen gegenüber zu fühlen vermochte, eher leid.
Arme Gesellen, Idioten, durch die er sich seinen Heilig Abend bestimmt nicht
kaputt machen ließ.
In
der Kirche angekommen, war er sogar guter Laune und grüßte wie seit Jahren
nicht mehr gut gelaunt und mit neugierigen Augen alle Menschen um sich herum.
Und als es zum Friedensgruß kam, da lächelte er jedem dem er die Hand gab an und
es geschah tatsächlich, dass zwei seiner Banknachbarn mit ihm vor der
Kirchentür stehen blieben und sich mit ihm eine Weile unterhielten. Es stellte
sich heraus, dass sie seit kurzem erst schräg gegenüber von ihm wohnten und so
war der gemeinsame Rückweg eine schnell beschlossene Angelegenheit.
Wieder
alleine in seinem Haus war es der Alte zufrieden, räumte auf und beseitigte die
Spuren des Überfalls. „Immerhin ein Anfang,“ dachte er, „vier Menschen heute
schon, erst die Diebe, na ja, dann die neuen Nachbarn. Mal sehen, was für
Menschen mit dies Fest morgen in mein Leben bringt.“
Und
so ging er, müde vom Tag, später doch leicht genervt von der Beule beim
Einschlafversuch, in sein Bett, froh und erwartungsvoll wie wohl einst die
Hirten auf dem Feld, als gemäß uralter Überlieferung der Engel zu ihnen kam und
seine Botschaft verkündete.
„Ja,
klein ist es das Weltall, für manchen bisweilen zu klein und dann doch wieder
auch viel zu groß. Es ist ein, das, unser Weltall halt, einsam und auch nicht, vor
allem dann nicht einsam, wenn es durch uns Menschen zu sich selber spricht.“
Mit solchen Gedanken, die sicherlich nicht jedem Menschen, dem er am nächsten
Tag begegnen könnte, sofort und leicht einsichtig oder verständlich sein
dürften, fand er auf das Gleis eines tiefen Schlafes.
Die
Räuber? Die Diebe? Ob er sie nicht wenigstens am nächsten Tag angezeigt hat?
Wozu? Es war für ihn so schnell gegangen, dass es ihm nächsten Tag schon so gut
wie nicht mehr präsent, ja wie ungeschehen war. Und das der Kopf ihm wehtat?
Nun, das geschieht schon mal im Alter. „Schmerzen sind die verlässlichsten
Begleiter des Alters“, sagte er immer.
Aber
das Geld und was sonst noch geraubt wurde? Das war ihm gleichgültig. Geld kam.
Geld ging. Wie so vieles. Die Adventdekoration war ihm geblieben und alles
andere war ihm nicht so wichtig. „Was hindert es die Erde an ihren Schönheiten
zu wirken und zu gestalten, dass der Mond unbewohnbar und hässlich ist“,
pflegte er auch dann und wann zu sagen. Und er war nicht ein Mal beleidigt
gewesen, wenn die Gesellen nach so einem Satz leicht genervt nur noch laut „Meisteeeer!“
geschrien hatten.
Gedanken
eines alten Mannes am Ende eines sehr langen Weges. Mögen sie ihm und uns
gegönnt sein.
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