Samstag, 21. Dezember 2013

Überfall am Heiligen Abend im Auge des Weltalls



Am Heiligen Abend in einer kleinen und alten Hansestadt schmückte ein Greis alleine in seiner von Eichenmöbeln beherrschten Wohnstube einen Tannenbaum mit Kugeln, Lametta und elektrischer Lichterkette.
Der Baum reichte vom Boden bis zur Decke, gerade dass der golden funkelnde Stern oben als Spitze noch Platz fand.
Der Baumschmücker war gekleidet, als würde er anschließend ein Restaurant besuchen wollen, weißes Hemd unter der Krawatte, dunkelgrau melierter Anzug mit scharfen Bügelfalten in der Hose.
Schlank war er, vielleicht geblieben, vielleicht geworden. Sein Gesicht wirkte ledern aber freundlich durch die tiefen Lachfalten seiner vielen Jahrzehnte. Sein Haar leuchtete weiß und hell mit den Kugeln im Schein der kleinen Lichter.
Aus der Ecke, von unterhalb des großen, schwarz umrandeten Flachbildschirms, kam leise Adventsmusik von Chören und Orchestern, klassisch gespielt und gesungen.
Neben der Tür hing an einem großen, gusseisernen Ständer ein mächtiger Adventskranz, dessen Kerzen gemäß der Adventszeit unterschiedlich herunter gebrannt waren.
Auch an anderen Stellen fanden sich adventliche Dekorationen, kleine Tannenzweige mit ein wenig Goldglitter und Tannenzapfen, Nüssen oder getrockneten Apfelsinenschalen dekoriert, im Bücheregal drei sehr unterschiedliche Räuchermänner, auf der langen Kommode eine hohe Pyramide aus dem Erzgebirge mit drei Ebenen, sogar ein Adventskalender mit dem Motiv eines alten Weihnachtsmarktes hing an der Wand, alle Fenster ordentlich geöffnet und die Klappen säuberlich abgetrennt.
Der Mann summte die Lieder leise mit und sah kaum, was er tat. Er brauchte es auch nicht, hatte all die vielen Jahre hindurch am Heiligen Abend so den Baum geschmückt. Zu Beginn etwas wilder, billiger die Kugeln, mehr vom Lametta und noch jede Menge essbare Zuckerkringel, später dezenter, mit kostbareren Kugeln, die sie jedes Jahr Stück für Stück ergänzt hatten, erst noch mit den Kindern, später alleine.
Er tat seine Arbeit bedächtig, fast im Schneckentempo, als wäre dies ein heiliger Akt, den er da am Baum vornahm. Und genau das war es auch für ihn. Er liebte dieses Schmücken, die Tradition von Advent und Weihnacht. Das war schon immer der Jahreshöhepunkt für ihn gewesen. Ebenso der Kirchenbesuch am Abend, obwohl er lang schon nicht mehr an einen Gott zu glauben vermochte. Aber der Besuch war ihm notwendiger Teil des Abends, so auch den Kindern und seiner Frau. Es war eine Tradition, die das Jahr vollendete, den Sinn bewies, den das Leben trotz aller Sorgen und Bedrückungen, Schicksalsschläge und Anfeindungen für sie bereit hielt.
Und sie gingen in die Kirche um sich dort der Gemeinde anzuschließen, Teil zu werden ihres Viertels und all der Generationen, die vor ihnen hier hin gegangen waren, den Heiligen Abend zu würdigen.
Die Kirche entstammte der Zeit der norddeutschen Backsteingotik und war von den Bilderstürmern der Reformationszeit halbwegs verschont geblieben, so dass er jedes Mal während des Gottesdienstes sich in die vom damaligen Bürgertum gestifteten Bilder fast meditativ verlieren konnte.
Der alte Mann hier war immer ein kritischer Kopf gewesen, sehr zum Verdruss seiner Frau, die oft fürchtete, er könne durch seine Äußerungen und Handlungen seine Arbeit verlieren. Eine gute Arbeit, als Betriebsschlosser, später sogar als Meister der Betriebsschlosserei, sehr gut bezahlt und trotz Schichtdienst und Überstunden am Samstag relativ stressfrei. Es gab anderthalb Monatsgehälter Weihnachtsgeld, im Sommer kam auch noch ein halbes Gehalt Urlaubsgeld dazu.
Davon konnten die Kollegen heute nur noch träumen, das wusste er. Seine Firma war längst an einen amerikanischen Großkonzern verkauft, hatte die Tore schließen müssen und war schon länger umgebaut um ein Museum, ein Theater und Ateliers für junge Künstler auf zu nehmen. Seine Welt war das da nicht mehr.
Einmal im Jahr traf er sich mit den alten Kollegen, die naturgemäß immer weniger wurden. Dann saßen sie zusammen beim Bier und schwelgten in Anekdötchen und hatten doch ein wenig schlechtes Gewissen, wenn sie an die dachten, die heute in den Fabriken arbeiten mussten.
„Da haben wir es noch gut gehabt“, so ein Satz fiel oft in diesen Runden. Oder: „Die werden nicht unsere Rente haben, die nicht mehr.“ Das machte sie traurig.
Waren sie doch fast alle in der Gewerkschaft gewesen, hatten sich für ihre Kollegen eingesetzt. Er selber hatte jahrelang als Betriebsrat und Vertrauensmann an vorderster Front gestanden wenn es um die Abstellung von Übeln, wie Staub, Lärm oder schlechte Behandlung ging.
Zweimal hatten sie sogar gestreikt, eine tolle Zeit, wie er heute noch fand. Da war Solidarität und Kollegialität großgeschrieben gewesen, nicht wie heute mit diesem Mobbing und Bossing und Burn out oder wie das noch alles heißen mochte. Und dann diese Fremdfirmen, die die Tarife zerstörten, dieses Damoklesschwert Hartz IV, dass den Beschäftigten den Mut nahm, sich zu wehren.
Bei allem hatte er sich aber auch ganz allgemein für sowas wie Geschichte interessiert und die alten Gemäuer der Romanik und Gotik und die Bilder in ihnen waren ihm in ihren jährlichen Urlauben, meist in Italien, Frankreich oder Bayern, stets die liebsten gewesen. Dort konnte er sich entspannen, fand zu sich selbst, war sich mehr als nur der Prolet im Blaumann.
Vieles Alte war seit den Zerstörungen durch Krieg und Wiederaufbau endlich rekonstruiert, verschönert und restauriert worden. Auch seine Stadt prahlte mit ihrer „steingewordenen“ Vergangenheit, ein Adjektiv aus einem Zitat, das er sehr mochte.
Schon immer war ihm die Vergangenheit beim Schmücken am Heilig Abend so wie jetzt in den Sinn gekommen und hatte ihn begleitet bis die letzte Kugel oder früher der letzte Kringel am Baume hing.
Und er hatte die Atmosphäre genossen, sich darüber gefreut, dass sie es all die Jahre geschafft hatten diese Tradition nicht nur aufrecht zu halten, vor allem mit den Kindern, noch mehr aber sie auch zu genießen, sich nicht beirren oder anstecken zu lassen von der nach seiner Meinung fürchterlichen Amerikanisierung der Festtage und Verkitschung durch Billigprodukte, die er oft auf dem Sperrmüll gefunden hatte, auch den Opfern dieser Konsumschwemme offensichtlich nicht des Aufhebens oder der Pflege wert. Er fand das schade und sehr bedauerlich, hatte Mitleid mit den Käufern, die so nichts besaßen, als den schnöden, glanz- und erinnerungslosen Augenblick.
Nein, so hatten sie es nie gehalten. Sie hatten nur angeschafft, was bleiben konnte und wert war, auf Dauer ihnen Freude bereitete.
„Vielleicht stirbt das alles hier mit mir und ähnlich Gestrickten aus“, dachte er traurig. „Vielleicht geht das, ja wahrscheinlich sogar, so unter wie einst die Kultur der Inkas oder Ägypter. Und dann braucht es wieder Jahrhunderte der Barbarei, bis vielleicht irgendwo neu Kultur entsteht und aufblüht und sich pflegt. Oder diesmal geht alles den Bach runter, für immer. Wer versteht schon, dass wir das Auge des Weltalls sind, mit denen es sich selbst betrachten kann und will, seine Schönheit spüren und das Wunder alles Werdens in seiner unendlichen Zahl an Sonnen, Materie und Geburten von Planeten. Ohne uns verlöre sich doch auch für das Weltall der Sinn seiner Existenz. Es wäre wirklich tod und sich selber fremd.“
Der Mann hatte sich im Alter offensichtlich nicht nur für Geschichte interessiert.
Er hatte bereits früher, auch schon zu seiner Erwerbstätigenzeit, so „schnurrige“ Gedanken, wie seine Frau diese zu benennen pflegte, halb ironisch, halb ehrfurchtsvoll, gepflegt, gedacht und ausgesprochen.
Seine Frau würde heute Abend nicht da sein. So wenig wie seine Tochter oder sein Sohn, auch nicht deren Ehepartner. Alle gestorben, Krebs, Autounfall, Herzinfarkt, alle zu früh, vor allem die Jungen, viel zu früh. Aber auch das war jetzt eine Weile her, die Wunden waren Narben geworden, hart zwar, aber biegsam, in den Bewegungen kaum zu spüren. Enkel gab es keine. Warum auch immer. Pech. Ausgerechnet er, der älteste von ihnen allen, war am Leben geblieben, so wie er auch 5 Brüder und zwei Schwestern überlebt hatte. Warum auch immer. Er wusste es nicht.
„Vielleicht bin ich mit meinen Gedanken ja für dieses All da draußen wichtig“.
Er hatte den Baum fertig und er holte aus der Küche die Silberkanne mit dem Tee, Dresdner Stollen auf einem Schneideholzbrett, das lange Brotmesser, letztes Weihnachtsgeschenk der Frau, zwei Tassen und Kuchenteller, deckte dies auf am Wohnzimmertisch, als wäre seine Frau noch da und würde gleich neben ihm Platz nehmen.
Bedächtig wie er den Baum geschmückt hatte, schnitt er den Stollen für sich auf. Legte ihr und sich jeweils ein dickes Stück hin. Nahm das seine und aß es genüsslich.
Dabei betrachtete er den Baum und lauschte ruhig der Musik, während er sehr langsam kaute und nur ungern das Verschwinden des Stollens in seinem Gaumen zuließ. Am liebsten hätte er jetzt die Zeit angehalten.
Natürlich lagen unter dem Baum Geschenke, so wie früher. Die meisten, auch dies wie früher, in dem schon immer besonders schönen Weihnachtspapier der alten Buchhandlung am Eck. Die anderen Geschenke wurden verhüllt vom dem Glanzpapier einer Drogeriekette, die einen Einpackservice bereit hielt. Natürlich kannte er den Inhalt der Geschenke, hatte er doch alle ohne Ausnahme selber gekauft zu Beginn des Dezembers, auch dies wie schon früher.
Er wollte sich zeit lassen mit dem Auspacken, freute sich aber bereits auf das Lesen und Stöbern in den Büchern, den Duft des Rasierwassers und natürlich hatte er auch ihr wieder ein Parfümfläschen gekauft.
„Vielleicht sollte ich doch mal wieder Tabak besorgen und meine Pfeifen wieder schmauchen,“ überlegte er, denn irgendwie kam es ihm doch so vor, als würde etwas fehlen. Nicht die Familie, die war ja nicht mehr. Das war geklärt und nicht anders zu erwarten gewesen. An Wunder glaubte er schon seit seinen Kindertagen in diesem verfluchten Krieg, den seine eigenen hirnverbrannten Landsleute angezettelt hatten, nicht mehr. Nein, etwas anderes hatte er wohl vergessen, etwas, was ihm möglich gewesen wäre zu beschaffen und jetzt hier bei sich zu haben. Aber ob die Pfeifen ihn da retten könnten?
Nein, das war es sicher nicht.
Während er sich so dem Grübeln hingab und den letzten Bissen Stollen genoss, klingelte es an seiner Haustüre. Ganz entgegen seiner Gewohnheit zuerst aus dem Schlafzimmerfenster nach unten zu sehen, wer da Einlass begehren könnte, ging er direkt nach unten, durchschritt den kleinen Windfang und öffnete die Haustür.
Bis zu dieser Sekunde hatte er sich nicht einmal gefragt, wer da vor der Tür stehen könnte noch war er neugierig darauf gewesen. Das langsame Tempo seiner Handlungen an diesem Abend schienen auch auf sein Gehirn und dessen Geschwindigkeit von Wahrnehmung und Denken beeinflusst zu haben. So kam es, das sein Körper handelte, bevor er darüber nachdenken konnte. Vielleicht geschah es aber auch, weil Klingeln, folgendes sich Erheben und die Treppe hinuntergehen ihn von der Fragerei befreite, was er vergessen haben könnte, was ihm fehlen würde.
Mehr zu seiner Überraschung, denn zum Erschrecken, kam er nicht mehr dazu, die Tür weit zu öffnen und wie gewohnt den Besucher in Augenschein zu nehmen, noch weniger ihn nach seinem Begehren zu fragen. Die Tür wurde sofort nach vorne gedrückt, er mit der Tür gegen den Rahmen der anderen Tür des Windfanges, die in den kleinen Flur mit der Treppe führte, und noch bevor er dieses realisieren konnte, drängten zwei Männer mit Nikolausmasken ihn weiter, die Treppe hinauf, stießen ihn auf das Sofa neben dem Christbaum, bedrohte ihn der eine mit einer Pistole, während der andere sehr hastig alle Schubladen im Raum aufriss, die Vitrinen durchstöberte und schließlich so fortfahrend das ganze Haus durchsuchte, in einen Sack warf, was ihm werthaltig schien, bis er schließlich wieder vor dem alten Mann stand, fragte: “Geld, Scheckkarten?!“
Der alte Mann nickte, zeigte in den Flur, wo sein Wintermantel hing.
„In der rechten Innentasche, in der Brieftasche.“
Als der anscheinend mit dem Rauben Beauftragte zufrieden wieder kam, wollte der nur noch wissen:
„Irgendwo noch Bargeld, Schmuck, Aktien?“
Der Alte schüttelte Kopf.
„Rentner, nix mehr. Schon lange nicht mehr.“
„Sieht man. Ganz schön vertaubt hier. Auf wen wartest Du denn?“
„Warten? Ich? Auf niemand.“
„Verarsch uns nicht. Die zweite Tasse, das Stück Kuchen, na …! Wer ist es und wo!“
„Aber, das ist doch nur für meine Frau.“ Der Alte war verlegen, als wäre es ihm peinlich, dass diese Räuber ihn der Lüge bezichtigten.
„Ja und? Wo ist sie hin, die alte Dame? Oder hast Du alter Bock noch ne Junge?“
Beide lachten und grienten ihn an.
Er schüttelte den Kopf, was immer er damit sagen wollte, ob: „Nein, keine Junge“ oder, „Sie verstehen mich nicht.“
„Alter, los, wo ist die Tante, mach hinne! Wir haben nicht den ganzen abend Zeit!“
„Auf dem Friedhof.“
„Blumengießen am Heilig Abend? Ich fass es nicht. Alter, Du sollst uns nicht anlügen! Der da oben sieht alles und wir erst recht.“
Wieder lachten seine Räuber.
Der alte Mann, und fast ein Wunder war es wohl, dass es den beiden ungebetenen Besuchern gar nicht auffiel, blieb weiter völlig ruhig, fast unberührt, sagte nur leise:
„Nein, sie liegt dort begraben. Sie ist tod. Seit zwanzig Jahren.“
„Und da stellste ihr noch’n Keks hin?“
„Seit zwanzig Jahren, ja.“
Die Männer schüttelten den Kopf, sahen ihn abfällig, wahrscheinlich wie einen an, der ihrer Meinung nach nicht alle Schräubchen grade sitzen hatte, der eine von ihnen suchte dann noch hier und da weiter, schließlich schlug der Bewacher dem Überfallenen und nunmehr Ausgeraubten kurz und heftig auf den Hinterkopf und dann verzogen sie sich. Das alles hatte nicht viel mehr als 5 bis 10 Minuten gedauert.
Der alte Mann lag wohl das Mehrfache an Zeit bewusstlos auf seinem Sofa. Schließlich aber erwachte er, befühlte seinen Kopf, schlurfte langsam und vorsichtig in sein Badezimmer und besah sich im Spiegel. Er fand sein Gesicht blass und die Augen wässrig. Aber so sah es schon länger aus. Der Schlag hatte zwar eine Beule hervorgebracht aber keine blutende Wunde. Damit gab sich der Alte zufrieden und ging in die Küche, entnahm dem Kühlschrank etwas Eis, ging zurück in das Badezimmer, packte das Eis in einen frischen Waschlappen, den er bequem aus der Schublade fischen konnte, da der Räuber sie offen stehen lassen hatte. Mit dem Waschlappen am Hinterkopf ging er zurück in seine Weihnachtsstube und sah auf die Uhr. Eine Stunde noch, dann würde er sich auf den weg machen zur Kirche. Der Gottesdienst begann zwar erst eine Stunde danach, aber wenn er einen Sitzplatz ergattern wollte, musste er früher da sein. In diesem Moment, bei dem Blick auf seine Uhr und das Bild von der Kirche, das sie in ihm auslöste, begriff er, worüber er den Abend über gerätselt hatte. Ja, etwas fehlte, etwas sehr wichtiges hatte er vergessen und dies schon seit geraumer Zeit.
Die Menschen hatte er vergessen, vergessen sie zu besuchen, vergessen sie in seine Rituale ein zu beziehen. Da in der Kirche, da waren sie, die Menschen, aber nicht für ihn. So wie er ja auch nicht wegen ihnen dorthin ging.
Er war einsam geworden, hatte durch Tod und Bequemlichkeit seit Monaten mehr mit anderen Menschen gesprochen, im Höchstfalle mal gegrüßt, an der Kasse „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ gewünscht.
Und er sah sich selber, sah sich wie das All, einsam, ohne Gefährten, ohne Austausch, nur sich selbst erlebend, im blinden Flug der Geschichte, die ein Kreis sein mochte oder eine unendliche Bahn ohne Anfang, ohne Ende, ohne oder mit Gott. Egal, wenn man alleine ist und mit niemanden sprechen kann.
„Wir sind nicht nur das Auge des Weltalls, nein, wir sind auch seine Freunde, Gefährten, Geliebten, ja, das alles sind wir. Ohne uns ist es einsam, leer, vertane, verlorene Zeit im Irgendnirgendwo. Und so bin auch ich heute verloren in der Einsamkeit trotz meiner geheiligten Rituale, meiner Erinnerungen, weil es niemanden gibt, mit dem ich darüber sprechen kann. Ich muss wieder mehr unter Menschen und dort meine Bahnen ziehen.“
Als alter Facharbeiter und Meister war er es gewohnt nach dem Denken nicht lange zu zögern, sondern gleich an die Tat zu gehen. So zog er sich jetzt schon an, ging auf die Straße, beobachtete, ob da ein Mensch sei, den er ansprechen könnte und wenn es um Feuer für die Pfeife sei. An die Räuber dachte er nicht mehr. Sie waren ihm egal. Er hatte eine leichte Beule, an sein Geld auf dem Konto und seine Rente kamen sie nicht ran, anderes Wichtiges hatte er im Schließfach. Was die mitgenommen hatten ließe sich ersetzen. Auch hätte er ja vorher wie sonst auch aus dem Fenster gucken können. Nein, die interessierten ihn nicht, taten ihm, wenn er überhaupt etwas ihnen gegenüber zu fühlen vermochte, eher leid. Arme Gesellen, Idioten, durch die er sich seinen Heilig Abend bestimmt nicht kaputt machen ließ.
In der Kirche angekommen, war er sogar guter Laune und grüßte wie seit Jahren nicht mehr gut gelaunt und mit neugierigen Augen alle Menschen um sich herum. Und als es zum Friedensgruß kam, da lächelte er jedem dem er die Hand gab an und es geschah tatsächlich, dass zwei seiner Banknachbarn mit ihm vor der Kirchentür stehen blieben und sich mit ihm eine Weile unterhielten. Es stellte sich heraus, dass sie seit kurzem erst schräg gegenüber von ihm wohnten und so war der gemeinsame Rückweg eine schnell beschlossene Angelegenheit.
Wieder alleine in seinem Haus war es der Alte zufrieden, räumte auf und beseitigte die Spuren des Überfalls. „Immerhin ein Anfang,“ dachte er, „vier Menschen heute schon, erst die Diebe, na ja, dann die neuen Nachbarn. Mal sehen, was für Menschen mit dies Fest morgen in mein Leben bringt.“
Und so ging er, müde vom Tag, später doch leicht genervt von der Beule beim Einschlafversuch, in sein Bett, froh und erwartungsvoll wie wohl einst die Hirten auf dem Feld, als gemäß uralter Überlieferung der Engel zu ihnen kam und seine Botschaft verkündete.
„Ja, klein ist es das Weltall, für manchen bisweilen zu klein und dann doch wieder auch viel zu groß. Es ist ein, das, unser Weltall halt, einsam und auch nicht, vor allem dann nicht einsam, wenn es durch uns Menschen zu sich selber spricht.“ Mit solchen Gedanken, die sicherlich nicht jedem Menschen, dem er am nächsten Tag begegnen könnte, sofort und leicht einsichtig oder verständlich sein dürften, fand er auf das Gleis eines tiefen Schlafes.
Die Räuber? Die Diebe? Ob er sie nicht wenigstens am nächsten Tag angezeigt hat? Wozu? Es war für ihn so schnell gegangen, dass es ihm nächsten Tag schon so gut wie nicht mehr präsent, ja wie ungeschehen war. Und das der Kopf ihm wehtat? Nun, das geschieht schon mal im Alter. „Schmerzen sind die verlässlichsten Begleiter des Alters“, sagte er immer.
Aber das Geld und was sonst noch geraubt wurde? Das war ihm gleichgültig. Geld kam. Geld ging. Wie so vieles. Die Adventdekoration war ihm geblieben und alles andere war ihm nicht so wichtig. „Was hindert es die Erde an ihren Schönheiten zu wirken und zu gestalten, dass der Mond unbewohnbar und hässlich ist“, pflegte er auch dann und wann zu sagen. Und er war nicht ein Mal beleidigt gewesen, wenn die Gesellen nach so einem Satz leicht genervt nur noch laut „Meisteeeer!“ geschrien hatten.
Gedanken eines alten Mannes am Ende eines sehr langen Weges. Mögen sie ihm und uns gegönnt sein.

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