Montag, 7. April 2014

Reha-listische Impressionen, unvollständige Gedanken



An-fahrt Februar 2014

Rheine bis Hannover

Kein gleichmäßiges Rattern des Zuges mehr auf den Schienen, dafür schleifende Singstimmen durchbrochen von Stößen ohne Gefühl für Rhythmus und Jamben.

Umsteigen. Hannover:

Natürlich war der Fahrstuhl auf dem Bahnsteig defekt.  Natürlich fuhr die Rolltreppe nur rauf, nicht runter, auf beiden Seiten.  Natürlich ist mein Koffer viel zu schwer für die Treppe, natürlich ist sie zu hoch mit viel zu vielen Stufen. . Natürlich schleppe ich mich mit ihm hinunter, statt mich vergeblich auf die Suche nach einer uniformierten Hilfe des Bahnpersonals zu begeben.  Natürlich beschweren sich Beine, Gelenke und Rücken. 

Auf dem Bahnhofsvorplatz einer der letzten Asylplätze für Raucher vor hohen Türen aus der Glastürenzeit, die geduldig auf und zu gleiten.  Ob Eingang oder Ausgang entscheiden hier die, die kommen und die, die gehen.  Auf jeden Fall für mich ein lohnenswertes Zwischenziel. Zwei Zigaretten schaffe ich.


Auf dem Vorplatz im Angesicht des Pferdearsches unter dem Abbild des einstigen Königs von Hannover und England eine Schulklasse, plötzlich Kurzgebell: „Auf geht’s! Alles folgt mir! Zusammenbleiben!“
So ein Tonfall hätten den König da oben und seine Offiziere und Schulmeister wohl erfreut.

Wild gestikulierend oder die Handys eifrig weiter mit Lauten und Zeichen bestückend und wie das Kurzschwert eines Römers vor sich hinhaltend zerteilt der Klassenverband ohne auf unseren Protest und Unwillen zu achten uns Raucher vor der Tür.

Ihr Lehrer läuft nicht einfach vor ihnen her, mir scheint eher, er läuft vor ihnen weg, als hätten seine markigen Kommandos ihn seine letzte Kraft gekostet im Kampf gegen ihre Handys, permanente Unlust einerseits, und Lust auf Chaos andererseits.


Natürlich bin ich pünktlich, dieses Mal mildtätig beglückt vom Bahnhof und einer mich und meinen Koffer nach oben fahrenden Rolltreppe.  Natürlich ist der Zug laut Anzeige „5 Minuten später“, was eine weibliche Stimme über Lautsprecher bestätigt.

Etwas aufgebrachter bin ich dann schon, als die gleiche Stimme plötzlich verkündet, der Zug fahre heute auf einem anderen Gleis ein. Und schon schimpfen wir alle über die deutsche Bundesbahn, als hätten wir nur darauf gewartet. Ungelogen, bei mir und den anderen Klang Befriedigung mit und endlich befreites Knurren, Murren und Gejammere. So waren wir uns doch sicher uns in Deutschland zu befinden, seinen unpünktlichen Zügen und unmöglichen Bahnsteigen, nur gebaut und so geplant, damit der Wind uns dort mal so richtig durchblasen kann und dem Gefrierpunkt näher bringen. So genossen wir es uns als Deutsche aufzuführen.
Natürlich kommen wir alle rechtzeitig, wenn auch knapp, am anderen Bahnsteig an, erschöpft vom Schimpfen und Hasten.


Aber der Sitzplatz, den ich danach im Abteil für mich einfordere, erbost auf meine Sitzplatzkarte zeigend, der steht mir wirklich nicht zu. Da hatte ich mich vertan bei den Karten und aus Versehen die für die Rückreise gezückt.


Bis ich mich wieder beruhigt hatte, erreichten wir schon das Leinetal, das behäbig in seiner Breite und seinen Hügeln neben uns her glitt, als traue es sich nicht Ecken und Kanten zu zeigen, als wäre ihm die Erde sicherer als der Himmel, das karge Leben näher als irgendein Paradies, Mut oder Phantasie.


Wie das Tal so die Menschen? Ich weiß es nicht. Aber es heißt so, man sagt es. Es hätten die frühen Reisekaiser, die Ottonen und Heinrichs,  sie zu sehr zu Diensten gezwungen und die Köpfe geduckt, als dass sich die nächsten Jahrtausende noch viel hätte erheben könnten. Und so hätten sie vergessen, dass sie Mensch geworden waren, als sie die Köpfe über die hohen Gräser gehoben und mutig hierhin vorgestoßen waren mit ihrem Feuersteinutensilien für Jagd, Feuer und Fischzubereitung.

Das näher kommende Göttingen sei keine Ausnahme, es ducke sich mit seinen Überresten  aus Mittelalter und Nachkriegsbaracken dicht in das Leinetal, ärgerlich über die Kirchturmspitzen die die Frömmlichen hier hochgezogen hatten, duckt es sich nah an das Plätscherchen von Flüsschen, das weder hier, noch vor- oder nachher sich selbst als Wässerchen darüber zu trüben scheint.


Dann sehe ich es, an den Hängen über Göttingen, das uralte Geismar, erkenne es an seinen verzweifelten in Beton gegossenen Bemühungen, auf sich aufmerksam zu machen, mit seinen Bettenburgen noch immer bitter klagend, dass dieses Fachwerkgerümpel im Tal zum Namen geworden war, obwohl viel jünger und unreifer, und nicht die Siedlung, in die sich die Bewohner einst aus dem Tal geflüchtet hatten vor den Raubrittern und Vagabunden, vorchristlich, aber nicht unchristlich, keineswegs das Geismar mit der gefällten Eiche des Iren Boni, nicht Irren, anderswie zum Kreuz gekommen und doch darunter geraten, eingevogtet vom fernen Kaiser und in Knechtschaft eines Vasallen, der als Fürst alle so drangsalierte, dass selbst die Göttinger die Nase voll bekamen und seine Burg schleiften. Ein unzuverlässiges Gesindel in den Augen der Geismararaner, zwar später Mitglied der Hanse und doch nur auf Händel und Streit aus mit allen, die sich nicht schnell genug aus dem Staub machten. Und dies bis heute, betonen einige Altgeismaraner. Heinrich Heine und die Märchenbrüder wussten bereits ihr jeweiliges Lied davon zu singen.


Mich verbindet mit Geismar das Endgültige, der so rasch mögliche Wechsel vom Spiel in den Ernst des Lebens in seiner härtesten, klarsten Form: dem Tod.
Es war in unserem ersten Semester, in dem wir noch alle kulturellen und politischen Ereignisse in unsere Biographien reinzwängen wollten.
Der Tod kam auf die Bühne in Geismar, in ein Antikriegsstück des Trotztheaters. Er kam mit schnellerem Atem mitten im Kriegsgetöse vom Tonband hinter der Bühne. Dann atmete er schwer. Wir sahen im Fastdunkel nur noch schemenhafte Schatten hin und herlaufen, fallen, sich krümmen, darunter der Schauspieler Uwe Voth.  Sahen wenig, hörten trotz des Lärms ihre Bewegungen und diesen Atem, der immer heftiger kam, kaum noch durch die Brust zu kommen schien, ja, fast gar nicht mehr. Dann rief eine Stimme um Hilfe, um einen Arzt.
Wir saßen fasziniert ob der Echtheit der Szene stocksteif, betroffen einerseits und erwartungsfroh auf den Fortgang andererseits, dachten alle nur: „Ja, so ist Krieg!“ Und waren mit dem Theater mehr als zufrieden, schließlich versprachen wir uns von ihnen ja etwas Packendes, Gelungenes gegen den Krieg, für den Frieden, für den wir damals besonders waren unter der Bedrohung von Pershings, Cruise Missiles und weit von uns entfernter Präsidenten Stare-Wars-Phrasen-tasien.
Alles war gut, alles prima und anschließend bräuchten wir nur noch eine Pizzeria mit Preisen für Baföghaushaltskassen finden und der Abend würde mehr als gelungen für uns sein.
Aber das Licht ging an, Uwe Voth atmete wirklich nicht mehr, es wurde wirklich ein Arzt gebraucht, weniger um ihn zu retten als die Todesursache festzustellen.
Schweigend saßen wir noch eine Weile da, erschüttert, einige weinten, andere starrten nur ungläubig auf die Bühne. Das am nächsten Tag der Schauspieler Uwe Voth auf der ersten Seite der Bildzeitung landete, machte die Sache für ihn und uns auch nicht besser.
An Pizza, schönen Vino oder kühles Bier war auch nicht mehr zu denken.
Wie wir aus dem kleinen Theater herausgingen, Geismar verließen um in unsere Studentenbuzzen zu gelangen, wusste wohl keiner von uns hinterher.
Uns blieben für den Rest unseres Lebens Uwe Voths letzte verzweifelte Atemzüge auf dem Weg in seinen Tod auf einer Theaterbühne in Geismar.


Auf meinem Weg in die Reha-Klinik, in der auch Traumata-Patienten behandelt werden, frage ich mich nun, hier im Zug, während Geismar langsam hinter mir verschwindet, ob dies eines meiner Traumata sein könnte, eines dieser Ereignisse, die mir die schwarze Seele füllten, dieses schwarze Loch ohne fassbare Ecken und Kanten, ohne Gesichter und mögliche Verortungen, ohne genaue Erinnerung?
Haben wir es verarbeitet? Wie lange war sein Tod, unser Dabei-Sein noch Bestandteil unserer Gespräche, unseres Denkens?
Ach, wir waren so jung und so herrlich vergesslich, so wahnsinnig nach vorne orientiert. Wie sollten wir uns damit lange aufhalten, was hätte es ändern können? Ja, was? Vielleicht uns?


In Göttingen wurde uns der Sohn geboren, ungeplant, fast nicht mehr auf unserer Lebensplanliste, Nicht für das Kreuz, für das Leben haben wir ihn dort die ersten Jahre unterstützt beim Wachsen und Erwachen. Das Kreuz hatte seinen Sohn. Wir brauchen von unserem keine Vergebung, nur die für uns so spannende Teilhabe an einem Leben, dass zwar durch uns in Gang gebracht wurde, aber doch nicht das unsere ist.


Während Friedland mit seiner Glocke vorbeifliegt, ebenso die längst abgeklungene Euphorie über die dort Ankommenden, frage ich mich, warum auch immer, was es bewirkt haben mag im Leinetal, dass weder Geismar noch Göttingen je Kaiserpfalz waren, stattdessen dieses zum verrandeten Dorf mit neuzeitlichem Pendersiedlungscharakter Grone, Pfalz Grona, und schon gar nicht dieses Grone zwischen Autobahn und Bahnstrecke, nein, es war dieses bisschen Ge-Steine oben auf dem Kamm des Hügels entlang der Leine, längst geschliffen, abgetragen, woanders verbaut, was einst des Kaisers war.
Ja, was? Was Grona war, wurde verschart, was Nichts war weltberühmt, zumindest die hier begonnenen Grimmsmärchen, geräucherten Würste und wissenschaftlichen Ergebnisse (ja, siehe Heine, noch immer unschlagbar, nicht nur in Bezug auf Göttingen).


Das Große wird klein nur, was Klein ist zu groß, oder wie?


Rosdorf ist vorbei. Dort war unsere Bronzezeit, unsere Steinzeit. Dort fingen unsere Urahnen Fische, entwickelten die Angeln und vor allem die Netze. Und ich rutsche mehr, denn dass dieser Zug mich rollend fährt, an ihren Wirkstätten vorbei, nur ihre Faustkeile im Kopf und ihren Muschelschmuck.


Soll ich ihn verraten? Ja, ich verrate ihn, wenn auch nicht mit Namen, den kenne ich auch gar nicht. Auch nicht seine Herkunft. Sein Alter aber kann ich schätzen. Seine in die Jahre gekommene Bürgerlichkeit zwischen gut versorgt und Altersarmut im Pflegefall. Zur Zeit noch in der Auslaufzone, gerade um die 60 geworden.
Er sitzt zwischen mir und dem Gang des ICEs, das rechte Bein über das Linke geschlagen. Seine Kleidung habe ich schon vor 50 Jahren an Männern seines Alters und Standes gesehen: dicke Cordhose, dicke Tweedjacke, Typ englisches Fabrikat, Rolli, dunkelbraunes Schuhleder in Frachtkähneformat, auf keinen Fall italienisch, dafür mit dicken Sohlen und Streifensocken, wahrscheinlich an der Ferse frisch gestopft.
Ich liebe meine Vorurteile, je älter ich werde umso mehr und da er in ein paar von diesen Vorurteilen passt, liebe ich auch ihn, in diesen leider mit ICE-Trasse viel zu stark verkürzten und vertunnelten Minuten zwischen Hannover und Kassel.
Er wirkt müde, aber bemüht konzentriert. In seiner rechten Hand führt er einen noch länger tauglichen Bleistift, in der linken Hand eine Kladde, wie ich sie, ebenfalls in meinen Kinderjahren, oft bei Lehrern sah, aufgeschlagen bei einem wohl mit diesem Bleistift geschriebenen Gedicht in erkennbaren Strophen und wahrscheinlich Reimen.
Er dreht den Bleistift ständig um, da dieser am Ende ein Radiergummi festhält.
Er beginnt damit ein Wort auszuradieren, dreht den Bleistift, schreibt ein neues Wort. Findet ein anderes Wort, radiert es aus, schreibt ein neues. So radiert und schreibt er, schreibt er und radiert bis wir kurz vor Kassel sind. 
Natürlich bin ich neugierig, was für einen Text er so umgräbt und umgräbt wie der Maulwurf letztes Jahr unseren Garten.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er den Text, vielleicht ein Gedicht, vor allem genießt und braucht für das Wegradieren und neu Einsetzen von Worten, denke, dass er enttäuscht sein wird, wenn ihm kein Wort mehr radierfähig erscheint und Platz machen kann für ein neues.
Er liest seinen Text nicht. Er sucht darin. Tut dies so ruhig und entspannt wie die Frau zwei Sitze weiter vor uns ihren Schal weiter strickt.

….

Paco Lucia ist tot. Leider keine CD von ihm zur Hand. Nur auf Youtube. Aber das stottert hier und das will ich ihm zu Ehren und mir zum Genuss nicht antun. Bleibt die Erinnerung seines Spiels in meinem Kopf und damit nicke ich kurz ein.

 

Was würde Heine heute schreiben? Zum Beispiel über diese Landschaft mit ihren Asphaltbändern, Betonklecksen und fassadengrauen Flecken mal gewürfelt, mal vereinzelt, die nicht nur hier das Land „bestücken“?
Haben sie deswegen so viele Tunnel in die Kasseler Berge gegraben für die Züge, damit wir das gesprenkelte Elend draußen nicht mehr sehen?
Vielleicht schießen sie uns ja morgen nur noch durch solche Röhren? Konzepte dafür gibt es bereits. Als Alternative zum Autofahren!
Vorher gibt es dann beim Fahrkartenkauf „Happy-Trial-Pillen“, mit denen wir uns während der Schussfahrt fortträumen in die Züge der Vergangenheit, ihr Rattern zu hören, am Fenster vorbeiziehen, nicht fliegen, eine Landschaft wie sie nur noch die Kinderbuchillustratoren zeichnen, damit die Kinder nicht schon am Anfang nur noch bebaute Ungeheuerlichkeiten als Natur ansehen. Und dann träumen wir auch Kühe auf Weiden, goldgelbes Getreide statt grünen Mais, träumen Schweine und Hühner im Freigehege, träumen Weidenhügel und Eichen-, Birken- und Buchenwälder, träumen Weiden an Bächen die wie schlangen sich durch die Täler winden, richtige Weiden träumen wir, die noch Himmel anbieten für die Verliebten. Aber es ist zu befürchten, dass es diese Kapseln nur als Sonderzuschlag mit entsprechendem Zuschlagspreis gibt und der Rest, dem das zu teuer ist, darf sich während seines Schussfluges in „Flugmeditation“ üben.


Natürlich gibt es ab Kassel keinen Zug mehr für mich. Umsteigen in einen Bus oder zwei Stunden warten, heißt es. Der Bus sei aber mit der Fahrkarte nutzbar.

Also Bus. Der erste, der uns bis Fritzlar mitnimmt, sieht die Sache so wie die Bahn. Der zweite, der uns nach Bad Wildungen bringen soll, natürlich nicht. Sein Bus gehöre nicht zur Bahn und darum müssten wir zahlen. Ihn interessiere nicht was die Bahn sage und seine Firma rufe er deswegen auch nicht an. Wir müssten  ja nicht mit ihm fahren, könnten doch auch zum Bahnhof gehen und dort den nächsten zug abwarten. Alle meckern, schimpfen, protestieren. Es hilft nichts. Wir müssen abdrücken. Eine ältere Türkin neben mir lächelt und sagt: „Ist doch auch schön, so merken wir dass wir in Deutschland sind.“ Daraufhin wäre ich am liebsten sofort der Deutsch-Türkischen Freundschaft beigetreten. Genau dieser Gedanke war mir heute doch schon mal begegnet. In diesem Sinne: es lebe die deutsche Engstirnigkeit und Bürokratie.

(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014

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