Samstag, 30. März 2013

Seine Passion






















Es wohnte ein sehr alter Mann in einem kleinen Bauernhaus in den Bergen und wartete dort nur noch auf den Tod. Seine Kinder hatten sich in alle Welt verstreut und erinnerten ihn nur an Festtagen durch Postkarten daran, dass es sie einmal für ihn gegeben hatte.

An einem Ostersamstag nun machte er sich auf, zu seinem Kreuz oben bei der Kapelle zu wandern, bevor die Jungen aus dem Dorf dort alles mit ihrem Lachen und ihrer Geschäftigkeit füllten, denn dort bereiteten sie jeden Samstag vor Ostern das große Feuer vor, an dem sie dann am Sonntag in der Dunkelheit Feuerscheiben entzünden und hinunter in das Tal katapultieren würden.

Er kam gut vorwärts und vergaß bald die Schmerzen des Alters in seinen Knochen. Oben angekommen meinte er, dass mit seinem Kreuz, dass er von seinem Küchenfenster jahraus, jahrein betrachten konnte, etwas nicht stimmte. Als er näher trat, sah er, dass es einen tiefen Riss am Sockel hatte. Er drückte leicht dagegen und dann geschah es:

Das große Holzkreuz knirschte kurz und fiel um, genau auf seinen linken Arm, woraufhin er mit dem Kreuz zu Boden stürzte. Schnell wurde ihm klar, dass der Arm gebrochen sein könnte und er bekam furchtbare Schmerzen, sobald er versuchte ihn zu bewegen. Gewohnt in seinem langen Leben immer wieder mit überraschenden Situationen und Problemen alleine fertig zu werden, überfiel ihn auch jetzt keine Panik oder gar Mutlosigkeit. Er nickte nur, stemmte sich, kroch dabei so unter das Kreuz, dass er es vorwärts bewegen konnte.

Und schon stand sein Entschluss fest, kaputter Arm hin, kaputter Arm her, das Kreuz musste runter in das Tal, dort repariert werden.

Er kroch mehr, als das er ging, mit dem Kreuz auf dem Rücken zurück den Weg, den er gerade froh und heiter hoch gekommen war.

Es fiel ihm schwer und er wußte, dass es sein konnte, dass er es nicht schaffen würde. Aber ein Versuch ist es wert, dachte er. Es hat keinen Sinn, so früh auf zu geben. Trotzdem reichten seine Kräfte nur für kleinere Abschnitte. Dann ließ er sich fallen, roch die frische Frühlingserde und betete. Das tat er für sein Leben gern, denn Beten war seine letzte Kommunikationsmöglichkeit geblieben in dem verlassenen Haus. Er betete nicht für sich sondern für das Kreuz, das es gelingen möge, es nach unten und in die Reparatur zu bringen. Das Kreuz war ihm heilig.

Und nach jedem Gebet fühlte er sich frischer und gestärkt und robbte seine nächsten paar Meter.

Da kam ein halbverhungertes Wildschwein aus dem Wald direkt auf ihn zugerast. Es krachte mit vollem Schwung gegen das Kreuz, flog dabei etwas in die Luft und blieb dann benommen kurz liegen. Der Mann robbte weiter und versuchte nicht an das Wildschwein zu denken.

In der Nähe, auf einem Wanderweg, der um den Hügel herumführte, tauchten ein paar Touristen auf mit ihren Kindern. Er hörte ihr Lachen und sah zu ihnen hin. Sie hatten ihn entdeckt, zeigten mit Finger auf ihn, erzählten irgendwas ihren Kindern, lachten wieder und holten ihre Handys raus, offensichtlich, um ihn zu fotografieren.

Er versuchte zu schreien, sie mögen ihm helfen, bekam aber nur ein leises, heiseres Stöhnen heraus und gab es auf. So machte er sich, kräftig fotografiert, weiter auf seinen steinigen Weg hinunter in das Tal.

Die Zeit wurde ihm lang, die Sonne wanderte hinter ein paar Wölkchen immer höher hinauf in den blauen Himmel und ihm wurde langsam heiß, sein Magen knurrte bisweilen wie ein Wolf, der Arm schmerzte und das Gewicht nahm ihm bisweilen die Luft. Da betete er: „Herr, willst Du mich ersticken. Lasse mir etwas Luft, bitte, und ein bisschen mehr Kraft auch, sonst schaffe ich es nicht. Ist doch Dein Kreuz!“

Nach Stunden kam er an den Rand des Dorfes. Da kam ihm der Briefträger mit seinem Fahrrad entgegen.

Spöttisch sah er das merkwürdige Bild mit dem spindeldürren, alten Mann unter dem riesigen Holzkreuz kurz an und rief: „Wo willst Du denn damit hin, Bauer, in der Kirche haben sie schon eins! Lass es liegen! Du überhebst Dich noch!“

Ohne auf den Briefträger sonderlich zu achten kroch der Mann weiter. Beim Bäcker kamen ein paar Frauen mit frischem Brot und Brötchen heraus. Eine bückte sich zu ihm hinunter und fragte, was los sei.

„Unser Kreuz! Ist kaputt! Muss gemacht werden!“

Da gab sie ihm ein Laugenbrötchen. Die mochte er besonders gerne und er fragte sich, ob sie das wissen könne. Er blieb unter seinem Kreuz auf der Dorfstraße liegen und aß das Laugenbrötchen mit kleinen Bissen und großem Appetit. Dabei murmelte er: „Danke Herr“.

Die freundliche Frau hörte das und sagte leichtverwundert: „Wieso Herr, das Brötchen habe ich Dir doch gegeben!“

„Ich weiß und dank auch recht schön. Trotzdem!“

Kopfschüttelnd ging die Frau weiter. Ansonsten kümmerte sich keiner der anderen Frauen weiter um ihn. Mochte der doch ein Kreuz über die Dorfstraße ziehen. Was ging sie das an. Alte Leute hatten halt ihre Marotten.

Kurz vor der Schreinerei, wohin er das Kreuz zu bringen dachte, hupte plötzlich ein Auto ihn an. Dann sah er vor sich dicke Stiefel und spürte, wie ihm das Kreuz abgenommen und er hoch gehoben wurde.

„Aus dem Weg Alter! Das ist eine Straße für Autos! Also, mach hinne!“ und damit legten sie ihn auf dem Fußweg ab, woraufhin er sie bat, sie mögen ihm das Kreuz wieder auflegen, da er zu schwach sei, es selber zu tun.

Sie scherten sich nicht darum, eilten in ihr Fahrzeug und fuhren hastig davon.

So scob sich der alte Mann noch einmal mühsam unter das Kreuz und drückte es so weit hoch, dass er es weiter schieben konnte.

So kam er die letzten Meter bis zur Schreinerei. Dort hatte die Frau des Meisters mit großer Verwunderung sein handeln bemerkt, ihren Mann gerufen und zusammen traten sie zu ihm hin.

Der Schreiner erkannte gleich die Schäden am Kreuz und um welches es sich handeln musste. Er zeigte hinauf zur Kapelle, sie sah hin und nickte.

„Wahnsinn, warum hast Du uns nicht einfach Bescheid gesagt. Wir hätten es mit unserem Fahrzeug viel leichter runter geschafft.“

„Es ist doch mein Kreuz!“

Das war der Moment, in dem ich zufällig auf der Suche nach einer warmen Stube mit gutem Kaffee vorbei kam. Ich trat hinzu und sah, wie der Mann sanft zuckte, sich unter dem Kreuz streckte, die Augen dabei geschlossen. Dann blieb er still liegen. Schnell befreiten wir ihn von seiner Last. Es war zu spät. Er war tod. Traurig standen wir um ihn herum und wußten nicht so recht etwas mit uns an zu fangen. Aber wir sahen in sein Gesicht und sahen es: ein tiefes zufriedenes Lächeln.

Schließlich sagte die Frau des Meisters: „Irgendwie ja auch ein schöner Tod“ und lief ins Haus, den Notruf an zu wählen. Wir Männer nickten nur, hielten unsere Hüte in den Händen und senkten die Köpfe.

Das Lächeln dieses alten Mannes habe ich nie vergessen. Obwohl ich nicht gläubig bin, war mir schnell klar, was mit ihm los war. Er hatte seine Passion gefunden und so den Frieden mit sich und unserer Welt.

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