"Wie
geht’s, großer Schweiger?"
Geht
so, wollte er ihr antworten. Es wurde nur ein Krächzen. Dafür nahm er seine
Umgebung wieder stärker wahr, als zöge ihn sein Bewusstsein von der Frau neben
ihm fort.
Das erste
Mal fiel ihm auf, dass die Bunkerwände eigentlich ganz schön hoch waren und
durch die inzwischen angesammelten Möbel aus verlassenen und kaputten Häusern
der Raum fast Wohnzimmeratmosphäre besaß. Zirka 50 Köpfe zählte er. Es
interessierte ihn, wie viele noch hierher kamen. Ob wieder welche in den
Häusern geblieben waren, keine Lust mehr hatten? Die Russen sollen kurz vor
Berlin stehen, hatten sie vorgestern auf der Arbeit gesagt. Die Arbeit. Auch
vorbei. Die Werft war durch Riesenkraft einfach verbogen worden. Verkrümmt
hockte die Hellige jetzt auf dem Gelände. Rundherum hatte die gleiche Kraft mit
allem, was herumlag "Fußball" gespielt. In dem Werftgebäude waren
nicht nur die Fensterscheiben durchlöchert worden. Das war nicht anders zu
erwarten gewesen.
"Du
sprichst wohl nicht mit jedem?" Wieder diese junge, aber auch auf
merkwürdige Art bereits tiefe Stimme an seinem Ohr.
Erst
wollte er "doch" sagen, verkniff es sich aber. Überlegte, ob er ihr
von seinem Arm erzählen könnte.
Wäre
sie jemand, der zuhört? Würde sie
verstehen, warum er sich in die Maschine hatte fallen lassen, warum er lieber
als Krüppel denn als Soldat weitermachen wollte? Könnte er ihr von seiner mordsmäßigen Angst
erzählen, von seiner Angst aus der Straßenbahn auszusteigen?
Er
sah sie wieder vor sich, die ca. 10 Jugendlichen, eindeutig seine
Parteikameraden, wie sie sich mit ungefähr genauso vielen Kommunisten
prügelten. 1932 kam das öfter vor.
Er
kannte viele solcher Szenen, war dann sogar selber dieses eine Mal bei einem
Überfall auf eine Veranstaltung der KPD „rein geraten“, als zufälliger Zeuge in
der Straßenbahn. Ganz hinten und ohne eingreifen zu müssen.
Aber
denen vor ihm ging es schlecht. Sie zogen eindeutig den Kürzeren.
Da
war ihm der Schweiß ausgebrochen. Er
hatte die Uniform an. Die Straßenbahn hatte länger gehalten. Alle Fahrgäste wussten, zu welcher Seite er
gehörte. Er stieg nicht aus, blieb mit rotem Kopf sitzen. Ein bulliger Mann mit
Glatze hatte ihn dann gefragt: "Warum bist Du denn nicht raus? Was hast Du so eiliges zu tun, dass Du Deine
Kameraden im Stich lässt?"
Hinterher
hatte er sich viele Antworten zurechtgelegt.
"Warum sind Sie denn nicht selber?" zum Beispiel. Der Zweifel an seiner Haltung und die Gewissheit,
ein Feigling zu sein, blieben. Könnte er ihr so etwas sagen, als ihr
Lebensretter?
Zwei
Kinder entledigten ihn der Antwort. Sie
kamen plötzlich aus dem Dunkel. "Onkel, spielst Du mit uns?" Das
größere war ein Mädchen. Er fand es
drollig in ihrem Wollkleid, das offensichtlich aus den Resten alter
Strickjacken oder Pullover zusammengenäht worden war. "Ruth, Gerold. Lasst den fremden Onkel in Ruhe. Er ist
verwundet, das seht ihr doch."
Fremder
Onkel - es durchschnitt ihm den Leib. Nachbar, Kamerad, Parteigenosse ja. Aber
fremd und Onkel! Er fühlte sich
plötzlich ausgestoßen aus der Bunkergemeinschaft.
"Offensichtlich
ist es bald vorbei." Wieder die Stimme. Diesmal drehte er sich wenigstens
so, dass er die junge Frau betrachten konnte. Was mochte sie sein? Sah resolut
aus, nicht wie Hilde, anders, aber resolut, gebildet irgendwie. Er wusste
selbst nicht, wie er darauf kam.
Was
meinte sie mit ihrer Frage? Den Angriff oder den ganzen Krieg?
"Beides!"
sagte sie leise. Er nickte. Sie hatte recht. Doch. Es musste nun bald mal zu
Ende gehen. Er hatte auch keine Lust mehr
in der Straßenbahn zu sitzen und zuzusehen.
Er
stand auf und zog an ihrem Arm. Hans Albers stand plötzlich am
Pfeiler."Geh nur, mien Dschung. … Geh! … Du verpasst sonst noch den Schluss
der Vorstellung."
Karl
zog das Mädchen hinter sich her, achtete nicht auf Krüger, der mit einer
Pinzette wegen der Steinchen hinter ihm herlief.
"Feldmann!!!
Mensch, es ist doch noch keine Entwarnung gekommen. Halt, Feldmann, bleiben
Sie, hier!"
Sie
duckten sich zusammen auf die Treppe. Die Tannenbäume zogen gerade über sie
hinweg. Dann bebte die Erde eine Minute lang. Karl sah, davon unberührt in den
Himmel.
"Eines
Tages sind dort nur noch die alten Sterne. Und die werden keine Bomben auf uns
werfen und nicht mit MG's schießen, nicht unsere Straßen in Feuerflüsse
verwandeln oder unsere schönen Häuser in Stein- und Schutthaufen."
Karl
war an Deck, spürte das Wasser sich an den Bug drängen, das Schiff anheben,
spürte wie es im Spiel der Wellen wieder sank.
Es rauschte an seinem Ohr. Als er
das Mädchen vor Zufriedenheit an sich drücken wollte, stieß er gegen ihre Nase.
Sie hatte ihm ins Ohr geprustet.
"Du
hast Nerven. Die Tommies bewerfen uns und Du schläfst ein."
Er
schüttelte nur etwas den Kopf, stand wieder auf und zog sie mit aus dem
Eingang. Sie sah ängstlich nach oben, wo die Punkte sich schnell entfernten. Rund
um sie herum qualmte es, und bizarre Mauerreste bildeten die Figuren der
Unterwelt nach. Nirgendwo ein lebender
Mensch. Über der ganzen Stadt hing ein heller Schein. Es schien überall zu
brennen. Karl sah das nicht. Er sog nur die brenzlig riechende, kalte
Nachtluft tief ein.
Ja,
diesem Mädchen würde er es sagen können. Schluss mit der Straßenbahn, nie mehr
Kampf um Rom. 31, da war noch vieles drin.
Warum mit den ungehobelten Größen untergehen. Hätten sie nicht auch feiner
und vorsichtiger zu Werke gehen können?
"Weißt
Du schweigsames Rätseltier eigentlich, wie ich heiße?"
Mit
dem Segelschiff in die Südsee, da mußte sie mit. Irgendwie, irgendwann. "Roswitha heiße ich, Du sturer Esel. Sag
mal. Was willst Du eigentlich von mir, wenn Du nicht mit mir redest? Erzählst
erst romantische Sachen von Sternen, pennst ein, reißt mich hoch, ohne dass
Entwarnung ist …?!“
"Psst!"
Er zeigte auf das Haus, an dem sie schon vorbeigehen wollten.
Karl
verlor jede Farbe im Gesicht, das Leuchten in den Augen und diesmal blieb Hans
Albers verschwunden. Er schüttelte die Hand des Mädchens ab und rannte durch
den verbrannten Garten auf die offene Tür zu.
Oben
sah das Mädchen Licht brennen. Ein
Fenster war nicht verdunkelt.
"Feldmanns sind verrückt geworden.
Schade, vor allem um ihn."
Hinterhergehen
mochte sie nicht. Etwas verloren ging
sie die Straße weiter hinauf, wagte kaum, die Reste der Häuser links und rechts
zu betrachten.
"Diesmal
hatten sie es total auf uns abgesehen", dachte sie. "jetzt kann es
nicht mehr lange dauern."
Karl
meinte die Treppe hochzufliegen. Jede Trance war von ihm gewichen.
Sie
saßen in der Stube, beide, drehten ihm gleichgültig ruhig ihre groben Gesichter
zu, über sich den Volksempfänger mit seinem Krächzen: „… errangen einen vollen
Abwehrerfolg gegen die starken feindlichen Kampfflugverbände. In der Schlacht
um Berlin konnte die alte Kampflinie trotz starker feindlicher Panzerverbände gehalten
werden. Der Führer weilt heute in Berlin, um die neuen Rekruten persönlich unter
seinen Eid' zu nehmen."
"Wir
leben noch", sagte Hilde ruhig in das Quäken der Radiostimme hinein. Sie sah ihn von oben bis unten an. Stumm war
er in der Türöffnung stehen geblieben. Dachte nichts. Wartete. Die Frau mit der
so jungen tiefen Stimme hockte in ihm wie ein kleines Pfand. Er musste Lächeln bei dem Gedanken an sie.
"Dieser
Idiot", dachte Hilde und beschloss aufgrund der Ungehörigkeit dieses
Lächelns nie wieder mit ihm zu reden.
Sie
stand auf, drängte ihn beiseite, kam mit seinem Bettzeug, einem Bleistift und
einem Zettelblock zu ihm zurück, auf dem sie geschrieben hatte:
"Benutze
ab jetzt diesen Block, wenn Du mir etwas zu sagen hast.
Dein
Bett schlage auf wo Du willst. Meinetwegen auch auf Deinem geliebten
Scheißhaus.
Ich
rede und schlafe nie mehr mit Dir.
Schieß
Dir deswegen kein Loch in Deine hohle Birne.
Es wäre
zu schade um die Kugel."
Er
bewahrte den Zettel bis zu seinem Tod in der Brieftasche auf.
Wenige
Tage später rollten amerikanische Panzer durch die Reste ihrer Straßen. Hilde
und Karl winkten ihnen mit weißen Taschentüchern zu.
"Lass
Dein Parteibuch verschwinden. Und bau bloß keinen Scheiß jetzt. Wir haben
überlebt. Das reicht!" hatte sie ihm aufgeschrieben.
Seit
der schriftlichen Form des Gesprächs mit ihr, hatte er das Gefühl, sich viel
besser mit ihr zu verstehen.
Die
Mutter dagegen sprach ihn noch direkt an.
"Steh auf, Du Drecksack." oder "Komm her!", „Hau
ab!","Halt mal"'.
Aber
ab und zu, wenn er mit. der Mutter allein war und zu sehr hin und her geschubst
wurde, kam Hans Albers zu ihm. "Dschung,
die Südsee wartet. Du wirst sehen."
Es
war der Arzt, sein Hausarzt, der ihn vor der Front bewahrt hatte, den Hilde
aufgrund seiner „Komischkeit und Dollheit“ ins Haus bestellte zur Untersuchung,
der ihn beiseite nahm und ruhig und lange mit ihm sprach. Dann gab er ihm
Termine jeweils am Ende der Besuchszeit, die Karl jedes Mal freudig wahrnahm.
Hilde bekam davon nichts mit, nur ihre Mutter murrte, was der Kerl dauernd bei
dem Quacksalber wolle, helfen täte der doch offensichtlich ihm nicht, der Karl
sei so dull wie vorher, wenn nicht sogar mehr.
Karl
unternahm nie den Versuch, aus zu ziehen in eine kleine Wohnung, oder sich an
eine der nun zahlreich vorhandenen und oft nicht abgeneigten Kriegswitwen an Hildes
statt zu nehmen.“
Der
Arzt! Gab es nicht einen Arzt in der Familie, der Bruder von Opa und dem
Malermeister. Über den gab es auch ein Gerücht. Der oberste Nazi und Jäger,
offiziell Polizeichef, hatte den gleichen Familiennamen wie sie, kam aber aus
einer anderen Linie, worüber alle, zumindest nach 45, angeblich sehr froh
gewesen waren. Das war so im Gespräch mal aufgetaucht, wenn ich mit meinen
Buntstiften dabei saß und meine Segelschiffe und Inseln gemalt hatte.
Ja,
ich habe als Kind vorwiegend große Segelschiffe und Inseln gemalt, gezeichnet,
getuscht. Ja, das führte mich in Karls Nähe, gab mir eine Ahnung von seinen Träumen.
Ich hatte alle Bücher vom Dachboden bei Diddi gesäubert und gelesen, alle die,
die auch Karl gemocht hatte. Mein Onkel hatte sie dort versteckt nebst einigen
anderen Sachen aus der Nazizeit.
Und
so hörte ich, was nicht für mich bestimmt war, der Name, der sonst nirgendwo
mehr ausgesprochen wurde und den ich Jahre später erst in einer Chronik der
Stadt zufällig entdeckte. Zu meiner größten Verwunderung haben mich auch alte
Genossen und Widerstandskämpfer der Stadt später nie auf die Namensgleichheit
angesprochen, obwohl der ein mieser scharfer Hund gewesen sein musste.
Und
dieser scharfe Hund soll den Arzt nur wegen der Namensvetternschaft in Ruhe gelassen,
von der Verfolgung und Ausspitzelung ausgeschlossen haben. Angeblich weil der
Angst gehabt hätte, durch den Namen vielleicht Schaden an seiner Kariere nehmen
zu können oder mit verdächtig zu werden. Was und warum der Arzt überhaupt in
diese Bredouille gekommen sein soll, wurde nie gesagt.
War
der Arzt der Hobbel, der Karl dann langsam …?
Quatsch,
die gab es nicht. Ich habe alles durchsucht und nachgefragt. Nichts. Von so
einer Gemeinschaft oder Organisation hatte nie jemand etwas gehört. Muss wohl
ein sehr geheimer Geheimbund gewesen sein, wenn es ihn denn wirklich je gegeben
hat. Ich wurde langsam einerseits etwas sauer auf Roswitha, andererseits auch
besorgt um sie und überlegte auch, ob es nicht besser sei ihre Kinder zu
informieren.
Ein
Besuch enthob mich weiterer Überlegungen in dieser Richtung. Es war 19 Uhr und
ich hatte gerade vor, noch einen Bummel um die Häuser zu unternehmen, um „den
Pudding“ gehen hieß das hier, da klingelte es. Zuerst hatte ich es gar nicht
gehört und beeilte mich daher umso mehr rasch an die Tür zu kommen beim
zweiten, stärkeren Klingeln. Ich rechnete mit niemanden, konnte eigentlich mit
niemanden rechnen und öffnete doch die Tür, als würde ich mit jemanden rechnen
können, tat es irgendwie nebulös auch, war daher um so erstaunter einen kleinen
weißhaarigen Mann vor mir zu sehen, der lächelnd zu mir auf sah und sich mit
leiser, angenehm weicher Stimme vorstellte. Ich hörte meinen eigenen Namen und
begriff gar nichts. Er sah mir das wohl an, übernahm die Initiative und fragte,
ob er wohl kurz eintreten dürfe, wolle auch nicht stören, nicht lange
jedenfalls aber die Roswitha habe so besorgt geklungen und da sei er eben mal vorbei
gekommen.
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