Freitag, 5. April 2013

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 5



Sie stand bereits vor der Tür als ich durch die Straße auf ihr Haus zu kam. In der Hand eine Gießkanne, als Anlass.
Wir umarmten kurz, ich etwas fremdelnd, sie gewohnt herzlich und dann fand ich in ihrer Küche genau das vor, was ich erwartet hatte: frisch gebackenen Kuchen und frisch duftenden Kaffee. Dabei fiel mir erstmalig die besondere Lage der Küche im Haus auf. Man gelangte vom Flur direkt hinein und weiter in den langgestreckten Garten hinaus. Rechts ging es in das Wohnzimmer und links in Großvaters „Herrenzimmer“ in dem er Hubertus und die anderen erwachsenen Söhne zum Zigarrenrauchen einlud. Andere Personen habe ich nie dort im Haus bei ihm gesehen. Keine Freunde, keine Nachbarn. Nur uns, nur seine Kinder mit ihren Familien und sie selbst. Roswitha stand stets in ihrer Küche, lief von dort in die Räume, brachte, räumte ab, rührte, schüttelte, wischte irgendwas in ihrem Reich, falls es denn ein Reich war und nicht nur eine gut zu kontrollierende Zelle, von allen Seiten jederzeit einsicht- und betretbar. Ich traute mich nicht, sie danach zu fragen. Wie auch.

Im Kontrollieren war er stark gewesen, sogar meine Köddel in der Kloschüssel hat er gezählt, und wenn es nur zwei waren musste ich noch mal ran und mehr bringen. Er war der erste Gesundheitsfanatiker, den ich kennenlernte und so sorgte er dafür, dass solche Leute mir suspekt wurden und ich für mich weniger auf solche „Gesundheitsmaßnahmen“ gab. Ihr schien es nichts ausgemacht zu haben. Äußerlich. Drückte und presste alles frisch aus, „bloß nichts Gekauftes Roswitha!“ und versorgte ihn, sobald er einen Anflug von Erkältung spürte. „Ruf in der Firma an, Roswitha, dass ich krank bin!“ Genützt hat ihm das alles nichts, Rente klar verpasst, nach meiner Rückkehr aus dem Ferienlager mit den „Falken“ erfuhr ich es: Schlaganfall als 62jähriger und tot. Bumms aus. Kein Opa mehr auf der väterlichen Seite, dafür jetzt zwei „Stiefomas“ als Witwe.

Sie sah ruhig zu mir hinüber, fragte mich vorsichtig aus nach meinem Leben. Ihr gutes Recht, hatten uns ja schon lange nicht mehr gesehen und ich hatte Zeit, viel Zeit. Während ich ihr antwortete versuchte ich mir Karl vor zu stellen, hier auf dieser Wohnungskreuzung, wo er schüchtern mir begegnet war, nur halb die Sitzfläche des Küchenstuhls einnehmend und immer auf der Hut vor ihm, der zu Beginn seiner Besuche noch lebte, wenig mit ihm sprach, eigentlich gar nicht, außer die übliche nordische Kurzbegrüßung.

Und wie er ganz auf dem Stuhl saß, aber immer noch hier, nur hier, nach dem sie ihr Witwendasein begonnen hatte, länger blieb, sich nicht mehr umsah nach ihrem Mann, dem er große Ehrfurcht entgegenbrachte. Mir kam er, ehrlich, wie ein Kriecher vor, einer, der vor alles Angst hat. Aber sie hatte ihn ja anscheinend gemocht, zumindest als Gast und Geselle ihrer einsamen Stunden, vor allem nach dem auch ihre Kinder aus gezogen waren, aufgebrochen nach Berlin und München, warum auch immer sehr weit von ihr weg. Hier war eine auffällige Parallele zur anderen Familie, zum Bruder meiner Mutter und dessen Kinder. Auch die waren weit weg gezogen, angeblich, so das Familiengerücht, wegen der Tante, ihrer Mutter.

Mitten in meine Gedanken hinein sagte sie etwas, was mich aufhorchen ließ. „Es ist an der Zeit, dass ich Dir etwas über Deine Familien, Deinen Vater, Deine Großväter, Deine Mutter und Onkels erzähle.“
Jetzt hatte sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Würde ich von ihr erfahren, warum ich in diesen Familien unterwegs bin, hatte sie en Schlüssel für mich?
„Sie alle waren Hobbels!“
Was waren die? Ich sah sie irritiert an. Wie kam dieses Wort hierher, was hatte das mit unseren Sippen zu tun?
„Übrigens, auch Karl war Hobbel. „
Dann sprach sie nicht weiter, sah mich nur wie immer in ihrer freundlichen, fast ein wenig traurigen Art an, eine Trauer die sie ganz weit hinten in ihren Augen versteckte und doch nie ganz verbergen konnte.
Ich riß mich zusammen. „Was sind diese Hobbels, Roswitha?“
„Eine Geheimorganisation von Leuten, die keine Lust auf eine kommunistische, christliche oder sonstige Ideologie hatten, daher sich nirgendwo wieder finden konnten. Entstanden sind sie nach 1936 hier in Nazi-Deutschland in der Illegalität und ihr Name spielt auf den Roman von John Steinbeck über einen Streik von Wanderarbeitern an: „Stürmische Zeiten“. Und die hatten sie dank der Nazis ja wohl auch.“
„Wobbel Roswitha, das sind Buckel auf der Straße und ich kenne es auch noch als Begriff für die Fußfesseln bei Pferden.“
„Richtig, auch darauf spielten sie an. Sie wollten Stolpersteine sein und zugleich anderen Fesseln anlegen, selbst aber, zumindest innerlich, frei bleiben.“
„Roswitha, … Nein.“
Sie sah mich jetzt richtig besorgt an.
„Roswitha, was ist das für eine Geschichte? Was erzählst Du da?“
Eines fühlte ich in diesem Moment, diese überraschende Wendung in unserem Gespräch passte mir ganz und gar nicht und konnte unmöglich etwas mit meinem Besuchsgrund hier zu tun haben. Meine Leute hatten merkwürdige Geschichten zu bieten, klar, aber „Hobbels“, das ging mir zu weit. Keiner von ihnen kam mir irgendwie „hobbelig“ vor oder wie ein Illegaler Widerständler. Das heißt, bis auf Edgar, Hubertus Bruder, der mit dem Panzerklau, aber da war nach 1945, ebenso Erwins großer „Wilder Streik“ im Hafen.
„Hobbels“! Mein Gott, was erzählte die alte frau da und sah mich an, ihr ungeschminktes Gesicht, dass mich mit seiner Haut irgendwie an Nonnengesichter erinnerte, mit ihren sanften Augen, ihrer Ruhe, die sie immer schon um sich her verbreitete wie andere Aktionismus, der aber stets an ihr verpuffte. Hobbels!
„Du kannst es nicht glauben?“
„Nein, natürlich nicht!“
„Oder willst Du es nicht glauben?“
„Ja, das auch.“
Dann versuchte ich einen Verteidigungsangriff: „Kein Mensch in Deutschland würde eine Organisation, auch keine geheime so nennen: Hobbels. Nein, Roswitha! Kein Mensch, außerdem, warum hat man bisher nirgendwo gehört oder gelesen von diesen … Hobbels?!“
„Willst Du noch Kaffee? Nein, doch, was nun?“
Ich hielt ihr resignierend die Tasse hin. Kein Gedanke mehr an Karl, kein Bild von ihm. Stattdessen Hobbels. Mein Vater ein Hobbel, Ihr Ehemann ein Hobbel, meine Mutter eine, wie nannten die das: Hobbelin? Auf keinen Fall. Das brachte alles durcheinander, wenn es denn stimmen sollte, sogar der kleine fleißige Diddi ein Hobbel! Nein.
„Ich bin hineingewachsen. Dein Opa hat mich eingeführt, da war ich das Kindermädchen für Deine Onkel und deinen Vater. Ich weiß nicht warum, er es an dem Abend getan hat, vielleicht war er da schon in mich verliebt oder er brauchte einfach jemand im Haus, dem er vertrauen konnte. Jedenfalls holte er mich in sein Arbeitszimmer und erzählte alles.“
„Und Karl Feldmann? Der war doch Nazi, wie seine Frau? Und mein Onkel, Mamas Bruder, der auch!“
„Karl war nie ein richtiger Nazi, hat das aber erst bemerkt als er schon in der Partei war. Nur seine Frau, die blieb bis zum bitteren Ende eine 100prozentige.“
„Und ihre Mutter?“
„Glaube ich nicht, die kroch nur auf die Seite, wo es ihrer Meinung nach, was zu holen gab. Aber, interessiert Dich die Hobbel-Geschichte gar nicht, das was unsere Familien so lange verbunden und eigentlich erst zusammen geführt hat?“
„Doch, aber nicht sofort. Ich muss das erst verdauen.“ Ich sagte ihr nicht, dass ich im Internet erst einmal nach diesen ominösen Hobbels recherchieren wollte, bevor ich mich weiter darauf einließ. Es kam mir einfach 1.zu plötzlich, 2. zu unwahrscheinlich vor.
„Und was interessiert Dich so an Karl und seiner Familie? Die haben doch gar nichts mit Dir zu tun!“
„Vielleicht gerade das, das sie einerseits nichts und andererseits vielleicht doch auch etwas mit uns, unserer Vorgeschichte zu tun haben.“
Ich schaffte es schließlich, dass sie das Thema Hobbels fallen ließ in dem ich ihr versprach in den nächsten Tagen wieder zu kommen und mir näheres von ihr berichten zu lassen. Und sie vervollständigte mit ihren Erinnerungen mein Bild von jener Nacht, in der sie Karl auf die Beine, in den Bunker und damit zurück in das Leben verholfen hatte.

„Sie blieb dicht hinter ihm. Unten begrüßten ihn einige: "Guten Abend, Herr Feldmann." Es fiel ihm auf, dass ihn keiner nach seiner Frau und deren Mutter fragte.
"Er hat mir das Leben gerettet." Meinte sie etwa ihn, Karl Feldmann mit dem einen Arm?  Karl sah in das runzlige Großmuttergesicht, erkannte es als das Gesicht einer Frau, die er im Laden von Frau Kruse schon öfter gesehen hatte und lachte laut los. Nur kurz lachte er, den Umstehenden klang es einem Schmerzensschrei nicht unähnlich.

Die alte Frau zog ihn an sich, nahm seinen Kopf in den Arm, drückte ihn an ihre Brust. Karl sah plötzlich wieder die dunkle Masse zwischen den Türen vor sich, seine Hilde, wie sie verzweifelt versucht hatte, durch den Spalt zu kommen.

Er hörte eine junge Stimme über sich berichten: "Irgendwie warf mich eine Druckwelle plötzlich hin, Oma, und ich war weg. Guck mal. Ich glaube, an meinem Kopf, ist da was?  Ja da."

Karl fiel auf, dass auch sein Kopf schmerzte. Er befreite sich sanft aus der Umarmung, fühlte vorsichtig mit der Hand an die brennende Stelle. Nahm die Hand vor die Augen.

"Blut." Sie sagten es fast gleichzeitig. Diese Oma und er. Er sah der jungen Stimme in die Augen. Wie alt mochte sie wohl sein? Höchstens 25, eher 20. Lang, schlank, war sie, ein kräftiges Gesicht. Etwas zu groß vielleicht die Nase. Unwillkürlich fasste er sich an die eigene Nase. Die schien ihm schon immer eher zu klein zu sein.
Karl stand auf, nickte jung und alt dankend zu, ging, mit noch leicht zitternden Knien zu einem der unbesetzten Pfeiler, ließ sich langsam runterrutschen und versank in der Bunkeratmosphäre. Er wusste nicht, warum, aber er saß gerne hier, zwischen der überlebenden Nachbarschaft, sah den Männern, die aufgrund ihres Alters oder körperlicher Gebrechen wegen nicht Soldat waren, beim Skatspiel zu oder lauschte ihren Kommentaren. Manchmal betrachtete er stundenlang das Tanzen der Stricknadeln mit den Wollfäden, strich wohl auch mal einem Kind übers Haar, half, es bei nahen Bombeneinschlägen zu beruhigen. 

Aber noch nie war er ohne Hilde und Mutter im Bunker gewesen. Und noch nie hatte er ein "Leben gerettet". Warum hatte er eigentlich? Lieber nicht fragen.

Wahrscheinlich war ja doch nur sein Stolpern gemeint. Was wäre gewesen, wenn er nicht so in Gedanken vertieft über sie gefallen wäre? Sie hatte danach doch ihm hoch geholfen und weiter gezogen, hatte damit doch wohl sein Leben gerettet. Hätte er sie im umgekehrten Falle liegen lassen, überhaupt die Kraft gehabt ihr hoch zu helfen? Würde er ab jetzt alles einfach liegen lassen wie die Schwiegermutter? 

Was sagte Hans Albers dazu?  Der kam nicht. Keine Stimme, die raubeinig zu ihm brummte "Mien Dschung!". Wie wäre es, wenn er, Karl Feldmann, einfach für immer irgendwo anders hinginge, eigene kleine Mietwohnung, machten andere auf der Arbeit schon lange. 

Ohne Hilde leben? Niemals. Er liebte Hilde. Er würde sie nie verlassen, so wenig wie diese Partei, in der er zwar nichts geworden war, in die er aber eingetreten war in dem Gefühl, damit für immer Bestandteil seines Volkes zu werden. Nicht um groß zu werden.  Nur um bei der Größe am richtigen Platz zu sein.  Dafür war er nun auch bereit, mit in den Untergang zu gehen.
Er hatte seinen Felix Dahn, "Kampf um Rom" gut gelesen.  Die letzte Schlacht der Mannen Theoderichs. Wie sie durchhielten, Mann für Mann, ohne den Untergang der großen Goten aufhalten zu können. 

Auch damals waren Falschheit und die Übermacht des Niedrigen in die Welt eingedrungen. Das große Rom hatte es sich als Ziel gesucht. Karl war mit gefallen. Bestimmt ein dutzendmal hatte er dieses Epos vom Untergang durchgehechelt, fast gierig darauf, am Ende mit dem letzten Helden zu versinken. Und danach würde die schwarze Nacht kommen und alle Krieger zudecken. Karl war kein Krieger, saß nur in der Straßenbahn, aber er hatte sein Parteibuch, seine Nummer, die ihn als Veteranen der Bewegung auszeichnete.

Wenn er Hilde so liebte, warum wartete er dann nicht auf ihr Erscheinen?  Er dachte einfach nicht so weit, dachte nicht wirklich ihren Namen mit Gesicht und allem.
Krüger kam näher, untersuchte Karls Wunde. Krüger war Blockwart in einer Mietskaserne neben dem Bunker. "Verletzt unser Held?"

Karl mochte Krüger nicht.  Der war ihm zu breit, zu bierkutscherhaft, stank zu sehr nach Fusel und Tabak. Trotzdem rührte er sich nicht unter Krügers prüfender Hand.

"Na, mien Dschung.  Bist in Sicherheit. Morgen fliegen wir beide in die Südsee. Du und ich." Hans Albers war zurückgekehrt. Grinste aus Krügers Kittel. "Glaubst dem alten Seebären nicht?  Wirst sehn wirste!" und war verschwunden, zurück blieb die ab geschruppte, hundertfach gesäuberte Farbe von Krügers Kittel..
Der drehte sich zu den Anderen im Raum um.  "Hier braucht’s 'n Verband und eine Pinzette. Der hat Steinchen drin."

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