Sie stand bereits vor der Tür als ich durch
die Straße auf ihr Haus zu kam. In der Hand eine Gießkanne, als Anlass.
Wir umarmten kurz, ich etwas fremdelnd, sie
gewohnt herzlich und dann fand ich in ihrer Küche genau das vor, was ich
erwartet hatte: frisch gebackenen Kuchen und frisch duftenden Kaffee. Dabei
fiel mir erstmalig die besondere Lage der Küche im Haus auf. Man gelangte vom
Flur direkt hinein und weiter in den langgestreckten Garten hinaus. Rechts ging
es in das Wohnzimmer und links in Großvaters „Herrenzimmer“ in dem er Hubertus
und die anderen erwachsenen Söhne zum Zigarrenrauchen einlud. Andere Personen
habe ich nie dort im Haus bei ihm gesehen. Keine Freunde, keine Nachbarn. Nur
uns, nur seine Kinder mit ihren Familien und sie selbst. Roswitha stand stets
in ihrer Küche, lief von dort in die Räume, brachte, räumte ab, rührte,
schüttelte, wischte irgendwas in ihrem Reich, falls es denn ein Reich war und
nicht nur eine gut zu kontrollierende Zelle, von allen Seiten jederzeit
einsicht- und betretbar. Ich traute mich nicht, sie danach zu fragen. Wie auch.
Im Kontrollieren war er stark gewesen, sogar
meine Köddel in der Kloschüssel hat er gezählt, und wenn es nur zwei waren musste
ich noch mal ran und mehr bringen. Er war der erste Gesundheitsfanatiker, den
ich kennenlernte und so sorgte er dafür, dass solche Leute mir suspekt wurden
und ich für mich weniger auf solche „Gesundheitsmaßnahmen“ gab. Ihr schien es
nichts ausgemacht zu haben. Äußerlich. Drückte und presste alles frisch aus, „bloß
nichts Gekauftes Roswitha!“ und versorgte ihn, sobald er einen Anflug von
Erkältung spürte. „Ruf in der Firma an, Roswitha, dass ich krank bin!“ Genützt
hat ihm das alles nichts, Rente klar verpasst, nach meiner Rückkehr aus dem
Ferienlager mit den „Falken“ erfuhr ich es: Schlaganfall als 62jähriger und
tot. Bumms aus. Kein Opa mehr auf der väterlichen Seite, dafür jetzt zwei „Stiefomas“
als Witwe.
Sie sah ruhig zu mir hinüber, fragte mich
vorsichtig aus nach meinem Leben. Ihr gutes Recht, hatten uns ja schon lange
nicht mehr gesehen und ich hatte Zeit, viel Zeit. Während ich ihr antwortete
versuchte ich mir Karl vor zu stellen, hier auf dieser Wohnungskreuzung, wo er
schüchtern mir begegnet war, nur halb die Sitzfläche des Küchenstuhls
einnehmend und immer auf der Hut vor ihm, der zu Beginn seiner Besuche noch
lebte, wenig mit ihm sprach, eigentlich gar nicht, außer die übliche nordische
Kurzbegrüßung.
Und wie er ganz auf dem Stuhl saß, aber
immer noch hier, nur hier, nach dem sie ihr Witwendasein begonnen hatte, länger
blieb, sich nicht mehr umsah nach ihrem Mann, dem er große Ehrfurcht
entgegenbrachte. Mir kam er, ehrlich, wie ein Kriecher vor, einer, der vor
alles Angst hat. Aber sie hatte ihn ja anscheinend gemocht, zumindest als Gast
und Geselle ihrer einsamen Stunden, vor allem nach dem auch ihre Kinder aus
gezogen waren, aufgebrochen nach Berlin und München, warum auch immer sehr weit
von ihr weg. Hier war eine auffällige Parallele zur anderen Familie, zum Bruder
meiner Mutter und dessen Kinder. Auch die waren weit weg gezogen, angeblich, so
das Familiengerücht, wegen der Tante, ihrer Mutter.
Mitten in meine Gedanken hinein sagte sie
etwas, was mich aufhorchen ließ. „Es ist an der Zeit, dass ich Dir etwas über
Deine Familien, Deinen Vater, Deine Großväter, Deine Mutter und Onkels erzähle.“
Jetzt hatte sie meine ungeteilte
Aufmerksamkeit. Würde ich von ihr erfahren, warum ich in diesen Familien
unterwegs bin, hatte sie en Schlüssel für mich?
„Sie alle waren Hobbels!“
Was waren die? Ich sah sie irritiert an. Wie
kam dieses Wort hierher, was hatte das mit unseren Sippen zu tun?
„Übrigens, auch Karl war Hobbel. „
Dann sprach sie nicht weiter, sah mich nur
wie immer in ihrer freundlichen, fast ein wenig traurigen Art an, eine Trauer
die sie ganz weit hinten in ihren Augen versteckte und doch nie ganz verbergen
konnte.
Ich riß mich zusammen. „Was sind diese Hobbels,
Roswitha?“
„Eine Geheimorganisation von Leuten, die
keine Lust auf eine kommunistische, christliche oder sonstige Ideologie hatten,
daher sich nirgendwo wieder finden konnten. Entstanden sind sie nach 1936 hier
in Nazi-Deutschland in der Illegalität und ihr Name spielt auf den Roman von
John Steinbeck über einen Streik von Wanderarbeitern an: „Stürmische Zeiten“.
Und die hatten sie dank der Nazis ja wohl auch.“
„Wobbel Roswitha, das sind Buckel auf der
Straße und ich kenne es auch noch als Begriff für die Fußfesseln bei Pferden.“
„Richtig, auch darauf spielten sie an. Sie
wollten Stolpersteine sein und zugleich anderen Fesseln anlegen, selbst aber,
zumindest innerlich, frei bleiben.“
„Roswitha, … Nein.“
Sie sah mich jetzt richtig besorgt an.
„Roswitha, was ist das für eine Geschichte?
Was erzählst Du da?“
Eines fühlte ich in diesem Moment, diese
überraschende Wendung in unserem Gespräch passte mir ganz und gar nicht und
konnte unmöglich etwas mit meinem Besuchsgrund hier zu tun haben. Meine Leute
hatten merkwürdige Geschichten zu bieten, klar, aber „Hobbels“, das ging mir zu
weit. Keiner von ihnen kam mir irgendwie „hobbelig“ vor oder wie ein Illegaler Widerständler.
Das heißt, bis auf Edgar, Hubertus Bruder, der mit dem Panzerklau, aber da war
nach 1945, ebenso Erwins großer „Wilder Streik“ im Hafen.
„Hobbels“! Mein Gott, was erzählte die alte
frau da und sah mich an, ihr ungeschminktes Gesicht, dass mich mit seiner Haut
irgendwie an Nonnengesichter erinnerte, mit ihren sanften Augen, ihrer Ruhe,
die sie immer schon um sich her verbreitete wie andere Aktionismus, der aber
stets an ihr verpuffte. Hobbels!
„Du kannst es nicht glauben?“
„Nein, natürlich nicht!“
„Oder willst Du es nicht glauben?“
„Ja, das auch.“
Dann versuchte ich einen Verteidigungsangriff:
„Kein Mensch in Deutschland würde eine Organisation, auch keine geheime so
nennen: Hobbels. Nein, Roswitha! Kein Mensch, außerdem, warum hat man bisher
nirgendwo gehört oder gelesen von diesen … Hobbels?!“
„Willst Du noch Kaffee? Nein, doch, was nun?“
Ich hielt ihr resignierend die Tasse hin.
Kein Gedanke mehr an Karl, kein Bild von ihm. Stattdessen Hobbels. Mein Vater
ein Hobbel, Ihr Ehemann ein Hobbel, meine Mutter eine, wie nannten die das:
Hobbelin? Auf keinen Fall. Das brachte alles durcheinander, wenn es denn
stimmen sollte, sogar der kleine fleißige Diddi ein Hobbel! Nein.
„Ich bin hineingewachsen. Dein Opa hat mich
eingeführt, da war ich das Kindermädchen für Deine Onkel und deinen Vater. Ich
weiß nicht warum, er es an dem Abend getan hat, vielleicht war er da schon in
mich verliebt oder er brauchte einfach jemand im Haus, dem er vertrauen konnte.
Jedenfalls holte er mich in sein Arbeitszimmer und erzählte alles.“
„Und Karl Feldmann? Der war doch Nazi, wie
seine Frau? Und mein Onkel, Mamas Bruder, der auch!“
„Karl war nie ein richtiger Nazi, hat das
aber erst bemerkt als er schon in der Partei war. Nur seine Frau, die blieb bis
zum bitteren Ende eine 100prozentige.“
„Und ihre Mutter?“
„Glaube ich nicht, die kroch nur auf die
Seite, wo es ihrer Meinung nach, was zu holen gab. Aber, interessiert Dich die
Hobbel-Geschichte gar nicht, das was unsere Familien so lange verbunden und
eigentlich erst zusammen geführt hat?“
„Doch, aber nicht sofort. Ich muss das erst
verdauen.“ Ich sagte ihr nicht, dass ich im Internet erst einmal nach diesen ominösen
Hobbels recherchieren wollte, bevor ich mich weiter darauf einließ. Es kam mir
einfach 1.zu plötzlich, 2. zu unwahrscheinlich vor.
„Und was interessiert Dich so an Karl und
seiner Familie? Die haben doch gar nichts mit Dir zu tun!“
„Vielleicht gerade das, das sie einerseits
nichts und andererseits vielleicht doch auch etwas mit uns, unserer
Vorgeschichte zu tun haben.“
Ich schaffte es schließlich, dass sie das Thema
Hobbels fallen ließ in dem ich ihr versprach in den nächsten Tagen wieder zu
kommen und mir näheres von ihr berichten zu lassen. Und sie vervollständigte
mit ihren Erinnerungen mein Bild von jener Nacht, in der sie Karl auf die
Beine, in den Bunker und damit zurück in das Leben verholfen hatte.
„Sie blieb dicht hinter ihm. Unten begrüßten
ihn einige: "Guten Abend, Herr Feldmann." Es fiel ihm auf, dass ihn
keiner nach seiner Frau und deren Mutter fragte.
"Er hat mir das Leben gerettet."
Meinte sie etwa ihn, Karl Feldmann mit dem einen Arm? Karl sah in das runzlige Großmuttergesicht,
erkannte es als das Gesicht einer Frau, die er im Laden von Frau Kruse schon
öfter gesehen hatte und lachte laut los. Nur kurz lachte er, den Umstehenden
klang es einem Schmerzensschrei nicht unähnlich.
Die alte Frau zog ihn an sich, nahm seinen Kopf
in den Arm, drückte ihn an ihre Brust. Karl sah plötzlich wieder die dunkle
Masse zwischen den Türen vor sich, seine Hilde, wie sie verzweifelt versucht
hatte, durch den Spalt zu kommen.
Er hörte eine junge Stimme über sich berichten:
"Irgendwie warf mich eine Druckwelle plötzlich hin, Oma, und ich war weg. Guck
mal. Ich glaube, an meinem Kopf, ist da was?
Ja da."
Karl fiel auf, dass auch sein Kopf
schmerzte. Er befreite sich sanft aus der Umarmung, fühlte vorsichtig mit der
Hand an die brennende Stelle. Nahm die Hand vor die Augen.
"Blut." Sie sagten es fast
gleichzeitig. Diese Oma und er. Er sah der jungen Stimme in die Augen. Wie alt
mochte sie wohl sein? Höchstens 25, eher 20. Lang, schlank, war sie, ein kräftiges
Gesicht. Etwas zu groß vielleicht die Nase. Unwillkürlich fasste er sich an die
eigene Nase. Die schien ihm schon immer eher zu klein zu sein.
Karl stand auf, nickte jung und alt dankend
zu, ging, mit noch leicht zitternden Knien zu einem der unbesetzten Pfeiler, ließ
sich langsam runterrutschen und versank in der Bunkeratmosphäre. Er wusste
nicht, warum, aber er saß gerne hier, zwischen der überlebenden Nachbarschaft,
sah den Männern, die aufgrund ihres Alters oder körperlicher
Gebrechen wegen nicht Soldat waren, beim Skatspiel zu oder lauschte ihren
Kommentaren. Manchmal betrachtete er stundenlang das Tanzen der Stricknadeln
mit den Wollfäden, strich wohl auch mal einem Kind übers Haar, half, es bei
nahen Bombeneinschlägen zu beruhigen.
Aber
noch nie war er ohne Hilde und Mutter im Bunker gewesen. Und noch nie hatte er
ein "Leben gerettet". Warum hatte er eigentlich? Lieber nicht fragen.
Wahrscheinlich
war ja doch nur sein Stolpern gemeint. Was wäre gewesen, wenn er nicht so in
Gedanken vertieft über sie gefallen wäre? Sie hatte danach doch ihm hoch
geholfen und weiter gezogen, hatte damit doch wohl sein Leben gerettet. Hätte
er sie im umgekehrten Falle liegen lassen, überhaupt die Kraft gehabt ihr hoch
zu helfen? Würde er ab jetzt alles einfach liegen lassen wie die
Schwiegermutter?
Was
sagte Hans Albers dazu? Der kam nicht. Keine
Stimme, die raubeinig zu ihm brummte "Mien Dschung!". Wie wäre es,
wenn er, Karl Feldmann, einfach für immer irgendwo anders hinginge, eigene
kleine Mietwohnung, machten andere auf der Arbeit schon lange.
Ohne
Hilde leben? Niemals. Er liebte Hilde. Er würde sie nie verlassen, so wenig wie
diese Partei, in der er zwar nichts geworden war, in die er aber eingetreten war
in dem Gefühl, damit für immer Bestandteil seines Volkes zu werden. Nicht um
groß zu werden. Nur um bei der Größe am
richtigen Platz zu sein. Dafür war er
nun auch bereit, mit in den Untergang zu gehen.
Er
hatte seinen Felix Dahn, "Kampf um Rom" gut gelesen. Die letzte Schlacht der Mannen Theoderichs. Wie
sie durchhielten, Mann für Mann, ohne den Untergang der großen Goten aufhalten
zu können.
Auch
damals waren Falschheit und die Übermacht des Niedrigen in die Welt
eingedrungen. Das große Rom hatte es sich als Ziel gesucht. Karl war mit
gefallen. Bestimmt ein dutzendmal hatte er dieses Epos vom Untergang
durchgehechelt, fast gierig darauf, am Ende mit dem letzten Helden zu
versinken. Und danach würde die schwarze Nacht kommen und alle Krieger
zudecken. Karl war kein Krieger, saß nur in der Straßenbahn, aber er hatte sein
Parteibuch, seine Nummer, die ihn als Veteranen der Bewegung auszeichnete.
Wenn
er Hilde so liebte, warum wartete er dann nicht auf ihr Erscheinen? Er dachte einfach nicht so weit, dachte nicht
wirklich ihren Namen mit Gesicht und allem.
Krüger
kam näher, untersuchte Karls Wunde. Krüger war Blockwart in einer Mietskaserne
neben dem Bunker. "Verletzt unser Held?"
Karl
mochte Krüger nicht. Der war ihm zu
breit, zu bierkutscherhaft, stank zu sehr nach Fusel und Tabak. Trotzdem rührte
er sich nicht unter Krügers prüfender Hand.
"Na,
mien Dschung. Bist in Sicherheit. Morgen
fliegen wir beide in die Südsee. Du und ich." Hans Albers war
zurückgekehrt. Grinste aus Krügers Kittel. "Glaubst dem alten Seebären
nicht? Wirst sehn wirste!" und war
verschwunden, zurück blieb die ab geschruppte, hundertfach gesäuberte Farbe von
Krügers Kittel..
Der drehte sich zu den Anderen im Raum um. "Hier braucht’s 'n Verband und eine
Pinzette. Der hat Steinchen drin."
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