Nicht an
sie erinnert die, vom Blitz gespaltene, von den Jahrzehnten zerzauste alte
Linde an der Groner Landstraße in der alten Universitätsstadt Göttingen, eher
bekannt durch die Brüder Grimm oder Heines spöttische Worte.
Erinnern
soll die Linde an das Leinebergische Landgericht, das hier seine Delinquenten
vom Leben zum Tode befördern ließ.
Ungerührt
von diesem grausigen Ort braust heute hier der Verkehr zur Autobahnauffahrt oder
kommt von dort und strebt abgasend an der Linde vorbei, hinein in das vom
Fachwerk gesprenkelte Leinestädtchen.
Umrahmt
von Friedhof und Krankenhaus, einigen schmalen Häusern, teilt sich dem hier
verweilenden Bummelanten kein Schrei mehr mit, kein Schluchzen, nichts von dem
lähmenden Entsetzen, das hier so manchen befiel.
Achtzehnhundertneunundfünfzig,
am 20. Januar, starb hier Frederike Lotze. Henkersknechte haben sie an diesem
Ort festgeschnallt - der Scharfrichter trennte, mit einem einzigen Schlag des
Schwertes, ihren schönen und willensstarken Kopf ab.
Zehntausend
Menschen standen dabei, sahen Frederike sterben. Alle hörten sie die
Frage:"Bekennst Du Dich schuldig, Frederike Lotze?"
Still war
es, unheimlich still. Leise war Frederikes Antwort. Im Angesicht des vor ihr sitzenden
Richters, der Henkersknechte, des Scharfrichters mit seinem Schwert:
"Ja,
ich bekenne mich schuldig!"
Frederike
stammte aus einem kleinen Dorf, ungefähr zwanzig Kilometer von ihrer Hinrichtungsstätte
entfernt.
Hübsch
ist es dort und wir können uns vorstellen, wie sie zwischen den sanften Hügeln
mit ihren drei- bis fünfhundert Metern Höhe, dem dichten Bramwald und den
klaren, sprudelnden Quellen aufgewachsen ist als eines von mehreren Kindern, in
Ohr und Herz die Namen der so nahen und für sie doch unerreichbaren Städte.
Was tun,
wenn noch kein Freier in Aussicht und alle satt zu essen haben wollten?
Frederike
ging über die Hügel und kam dorthin, wo in einem Tal „Fulda und Werra sich
küssen...“.
Das Haus
in Hannoversch Münden, in dem sie sich verdingte, steht heute noch. Eine
Bäckerei war damals dort, wo heute Süßwaren in der Langen Straße 28 verkauft
werden.
Der Hausherr
war Junggeselle und im sogenannten "besten" Mannesalter.
Wir
wissen nicht, ob es ihm schwergefallen ist, die arme Dienstmagd aus der
einfacher beschaffenen Welt auch des Nachts zu besonderen Diensten anzuregen.
"Eine
Geschichte, schmutzig und alt" und wie Leine, Werra und Fulda "so
kalt" begann.
Sie
liebte ihn von Herzen - er nur des Nachts ihre Wärme; sie schmiedete Pläne -
und auch er schmiedete, nur waren es nicht dieselben.
Sie
glaubte an die Reinheit der Quellen, fand, was schön sei, sei auch gut.
Ringsumher
erzählte man sich viele Märchen, warum nicht eines Tages auch jenes von der
Dienstmagd und dem Bäckermeister?
Was sind
Worte? Braucht man sie nicht auch, um kleine Brötchen teurer zu verkaufen? Und
was konnte ein armes Mädchen aus dem elenden Dankelshausen schließlich geben,
wenn andere mit ihrem Geld einen sorgenfreien Lebensabend sicherer in Aussicht
stellten?
Wir
wissen nicht, was dem nicht immer ganz so braven Bäckermeister durch den Kopf
ging, wenn er dem Mädchen, auf dem Gipfel seiner Lust die Ehe, ja ewige Treue
versprach.
Und wer
weiß schon, wie sie mit ihm sprachen, die Freunde und „ach so gerne“ seine Schwäger
in spe:
"Machen
wir doch alle so. Ist ja nur 'ne Dienstmagd. Also hat sie zu dienen!"
Meinten
sie nicht auch, er solle sich wegen so einer „Lappalie nicht ins Hemd machen“?!
Sicher ist:
Er brach den Schwur und beschloss, eine andere zur Frau zu nehmen.
Frederike
warf sich nun nicht etwa tief gekränkt und verzweifelt in die kalten Fluten,
die das Städtchen ja genug umflossen und bereits viele Folgen solcher
Geschichten mit sich gerissen und an die Ufer gespült hatten. Erwarteten dies
nicht die Herrschaften solcher „Geschichten“ heimlich und ohne schlechtes
Gewissen, wofür ja die Armen da waren und ansonsten die Beichte beim Pastor.
Hatten es
nicht viele deshalb auch vorgezogen, ihr Kind dem Wasser zu übergeben, in der
Hoffnung danach weiter ohne Probleme zu dienstboten, wenn auch mit mehr Abstand
zu den Herren?
Sie nicht!
Sie floh auch nicht vor Scham zurück in das liebliche Tal zwischen den Hügeln,
ging nicht, blieb, schluckte, lächelte, servierte, putzte.
Sie blieb
ruhig und im Haus und "am Morgen, als er Kaffee trank mit Schmand, da ward
auf einmal ihm ganz blümerant".
Frederike
verhinderte so, dass er den Schwur brechen konnte und letztlich doch zu seinem
Wort stehen musste, wenn auch ganz anders als von ihr und ihm auf unterschiedlichste
Art geplant.
Und mit
solchen Reaktionen rechnen die, die so gerne treten, verführen, ausnutzen und
flüchten, wo nur Standhalten die richtige Handlung wäre, auch heute noch nicht
gern.
Rächend
tat darauf die Männergesellschaft, was sie für rechtens hielt. Frederike kam
vor Gericht und im Göttinger Gefängnis wartete sie auf ihren Prozess.
Dies
alles ereignete sich im kalten Dezember achtzehnhundertachtundfünfzig und so
wird sie übel gefroren haben.
Über
mitleidige Hände oder verständnisvolle Worte ist uns nichts bekannt.
Auch nach
dem Prozess musste sie noch im Gefängnis bleiben, Wochen auf ihre Hinrichtung
warten.
Das
Überraschende für alle aber war: Sie stand zu ihrer Tat, leugnete nicht, stritt
nichts ab, akzeptierte klaglos das fürchterliche Urteil.
Und wie
einfach für die Richter des bei Mord zuständigen Göttinger Obergerichts: sie mussten
"auf Todesstrafe erkennen".
Am 20.
Januar begann Frederikes letzter Tag. Bereits um 9 Uhr führte man sie zur
Linde.
Die
königliche Regierung hatte alle Dienstboten der umliegenden Kreise ebenfalls
zur Hinrichtungsstätte befohlen - zur Abschreckung versteht sich.
Hätte
Frederike gerne alle Dienstherren zwangsverpflichtet, sich ebenfalls das Ganze
anzuschauen? Oder hätte sie lieber den sich langsam verfärbenden, vergeblich
zuckenden Bäcker allen Dienstherren und deren Söhnen vorgeführt? Zur Abschreckung?
Natürlich
waren es Männer, die Frederike zur Linde führten: der Scharfrichter Schwarz aus
Hannover, der das Urteil verkündende Richter, der Trostworte murmelnde Geistliche,
immer noch empört über ihre fehlende Reue, ihr, wie er später notierte „hochmütiges
Gebaren im Angesicht des Herrn“.
Mit
mehreren Beisitzern saßen die Männer zur Verlesung des Urteils an einem großen Tisch
unter der Linde.
Kalt muss
es gewesen sein und vielleicht starrte Frederike auf die Nebel, die der Richter
beim Verlesen ausstieß. Vielleicht hat sie sehr gefroren, die nackten Füße kaum
noch gespürt und gehofft, dass bald alles vorbei sein würde.
Hat sie
in diesen Augenblicken bereut? Haben sich das auch die zehntausend Zuschauer
gefragt?
"Ja,
ich bekenne mich schuldig!" Klar und deutlich ihre Worte, leise zwar aber
bestimmt und klar auch ihre traurigen Augen mit denen sie sich die Männer am
Tisch ansah.
Sie wirkte
nicht traurig und auch nicht zornig. Sterben war normal in diesen Zeiten für
Menschen, die aus den kleinen Dörfern am Rande des Eichsfeldes kamen. Und wer
lebte, hatte es ja auch nicht immer besser.
Und dann ein
Hieb, der jede Wiederkehr unmöglich machte.
Es war
eine der letzten Hinrichtungen, jedenfalls in Göttingen unter der Linde, damals
1859.
Das alte
Richtschwert kam danach zur Ruhe.
Das Schwert
stellten die "Göttinger Monatsblätter" vor ein paar Jahren sehr
detailliert in ihrer Rubrik "Göttinger Kostbarkeiten" vor.
Es war
nicht das letzte verführte Dienstmädchen, nicht die letzte ungewollte
Schwangerschaft, nicht das letzte gebrochene Versprechen aus mit Lust erfüllter
Liebesnacht.
Nur in Göttingen fehlt mir noch immer ein Denkmal: für Frederike Lotze,
die mutige Dienstmagd aus Dankelshausen.
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