Donnerstag, 14. März 2013

Die 2te Ankunft















Alles und jedes fängt bei dieser Stadt, dieser Erinnerungsruine meiner Kindheit, mit dem Bahnhof an, mit dem fiesen Kreischen der metallenen Räder des hineinfahrenden, langsam abbremsenden Zuges, beginnt mit den schwarz durchwebten Rauchschwaden der aus allen Stahl- und Messingporen vor Hitze dampfenden Lokomotive, beginnt mit jenem plötzlichen Stoß, der mich wuchtig und brutal gegen Ilse schleudert, der Tante Nachbarin, Mamas Freundin, die mich hierher begleitet hat, geführt, gefüttert, beredet, mich 5jährigen Knirps auf dem Weg zu Mama und Papa mitgerissen, vorwärtsgestoßen, am Händchen gehalten hat, mich in Kassel bei dem langen Halt  auch nicht an das freundliche Ehepaar verkaufen wollte, dies freundlich und beschützend gesagt hatte, mir so Vertrauen schenkte und Kraft für die Weiterreise, wo ich in den fliehenden Flüssen, Bergen und Tälern immer Lörrach sehen wollte und doch nur das Land sah, irgendein Land, das mir später noch manches Kopfzerbrechen bereiten sollte wie auch die Leute, die da winzig klein an mir vorbeiflogen, immer wieder besänftigt von Ilse, deren Leib unter rauem Tuch mich nun abfedert, zurückstößt, während eine kackbraune Kunstledertasche vollgefüllt mit meiner 5jährig angesammelten Kleinkindhabe mich gen Boden zerrt und am Laufen hindert.













Ich verliere mich in dem luftleeren Dasein zwischen den meinen Kopf bedrängenden, vorwärtsstoßenden Knien, reibe mich an behosten oder berrockten Schienbeinen, alles Stoff und dick und kratzig, vergeblich mit der freien Hand Luft und Halt suchend, hineingesogen in ungeheure Ausdünstungen, die sogar den Schwefelgeruch der Dampflok zum Schweigen bringen, nur noch fähig zu einem einzigen Schrei, der ohne Echo auf den Lippen kleben bleibt: "Tante Ilse!!!"
Ihre Antwort ist aus der Erinnerung herausgebrochen, nicht einmal ein loser Stein auf dem Boden.
Vielleicht hat sie gesagt:"Du wolltest doch unbedingt selber laufen", vielleicht hat sie auch nur ihre grobe Hand auf meinen frisch für diese Fahrt geschorenen Kopf gelegt, vielleicht hat sie gar nichts getan, weil sie selber zu beschäftigt war, zum Ausgang des Bahnsteigs zu kommen, hat mich gar nicht gehört, hat mich überhört nach der langen Fahrt, während der ich kaum eine Sekunde zu überhören war, und das ihr, die keine Kinder hatte und nie welche haben würde, und doch immer freundlich zu mir blieb, auch nach dem ihre Freundin, meine Mama, nicht mehr mit ihr sprechen wollte, weil das mit ihr und meinem Papa geschehen war. 














Aber das wussten wir beide da noch nicht, wussten vorerst nur, was der krächzende Monolog eines Lautsprechers dem Bahnsteig zurief: 
"Lörrach, Lörrach! Hier Lörrach. Sie haben noch Anschluss an den Zug ...", und ich hatte keinen Anschluss mehr, kein weiterer Zug würde mich aufnehmen und weiter forttragen, ruckelnd und zuckelnd, auch blieb der Name des Ortes für den nächsten Zug auf der Strecke und ich verstand damals sowieso nur das eine Wort, mein Wort, meine magische Zauberformel für schöne Träume, für Hoffnung und Sehnsucht, für Mama und Papa und ich, Lörrach, mein Lörrach.














 Immer wenn mein Blick egal warum zurückschleicht, über dieser Stadt und meinen Spuren in ihr schwebend auf der Suche nach einer Bleibe eine Sekunde lang überlegt, wo der Anfang sein könnte, mein Anfang, die 2te Ankunft bei Ihnen, zu denen ich hingefahren worden war, ohne Nabelschnur im Gepäck, ohne Geburtshelferzange an das Tageslicht befördert, in der Hoffnung, dass dies nun auch die letzte Ankunft bei ihnen sein könnte, mein Blick danach die Trümmer abgrast, die mir seitdem geblieben sind, die halben Gesichter, ganzen Gerüche und Töne, Gesichter, deren Profile kaum noch zu erkennen aber doch erahnbar sind nach 55 Jahren, endet es bei diesem Bahnsteig, dem Drüber und Drunter und Drumherum Bahnhof, seinen durch dicken, graugelben Rauch gerußten, klobigen Mauern, seinen rauen Stahlträgern mit den langgestreckten Dächern am Ende, die wie tote Flügel über den schmutzigen Betonplatten der Bahnsteige erstarrt sind, dieser Welt aus einem überdimensionierten Stabilbaukasten, endet dort, nicht bei den ersten Ausflügen, die nur kleine Schwarzweißbildchen mit gezackten Rändern mir verraten, da ging es wohl bis in die Schweiz, Berg rauf und Berg runter, an Sommerwiesen entlang, weswegen es zu Speiseeis und Brause vor alten Gaststuben mit Sommergärten kam, nur meine Blicke darauf, seine Hand, die meine umschließt, ahne ich noch, den Bahnhof aber können sie nicht besiegen, dieses Bild der Ankunft, um das ich in den paar Jahren im Ort immer wieder herumstreichen sollte, vorsichtig, ja ängstlich, er könnte mich aufsaugen, zurückschleudern auf den Zug, zurück nach Bremen, wo Oma und Opa auf den Balkon saßen, die mich nie geschlagen, nie alleine gelassen hatten, und doch hatte ich diese Freiheit schätzen gelernt, meine Ausflüge zu den Bergdörfern, an der Schlachterei vorbei oder zur  alten Burgruine. 














Nein, ich wollte mich von dem Bahnhof nicht wegbringen lassen, diesem Höllentor zu einer anderen Welt, die, was ich nicht wissen konnte, geduldig und liebevoll besorgt, weiter auf mich wartete, wenig später, für mich eine Ewigkeit später, wieder aufnehmen würde, die Narben verheilen lassen, den Schmerz und mich reden lassen, mir zu hören, echtes Essen servieren statt aus Büchsen und Chemiekäsen und –würsten, so sie auf mich warteten, aber viel zu fern, ließ ich den Bahnhof schnell Bahnhof sein, erbettelte nur im Winter am Stand auf der anderen Seite eine heiße Esskastanie. Die hatte mir Papa als erstes Geschenk damals dort gekauft, am Tag meiner 2ten Ankunft bei ihnen.














Links die Tante, rechts der Papa, in der Mitte ich, auf einer Mauer der Burgruine Rötteln 1958.



 



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