Freitag, 15. März 2013

Ein Vortrag in spe




In Nairobi war es stickig. Professor N’quandi drückte nervös den Kopf der Fernbedienung, aber die Klimaanlage kam gegen die Luft der Metropole nicht an.

Erwartungsvoll hockte dagegen seine Studentengruppe vor den Bildschirmen. „Der Untergang einst großer Nationen“, die Semesterabschlußaufgabe, war fast abgehandelt. Und bis jetzt war ihr Professor mit den Arbeitsergebnissen über Rom, Ägypten oder die UdSSR sehr zufrieden gewesen. Die Semesterferien waren also fast erreicht und wahrscheinlich nutzte N’quandi diese für ein Buch über ihr Thema, in dem er ihre Ergebnisse ausschlachtete, vielleicht würden sie ausnahmsweise sogar namentlich erwähnt.

Dimitri Wassili, ein deutscher Gaststudent, dessen Stipendium vom „Fonds für verarmte Nationen“ finanziert wurde, war als letzter dran. Er sollte über den Niedergang seines Heimatlandes Deutschland von einem der reichsten zu einem der ärmsten Länder der Welt berichten. Um ihn herum waren alle neugierig auf seine Untersuchungsergebnisse, denn noch immer diskutierte die Fachwelt leidenschaftlich und äußerst kontrovers die Ursachen dieses in der neueren Geschichte wohl einmaligsten Fall eines tiefen Absturzes. Bisher hatte keine Erklärung dafür eine größere Resonanz oder Anerkennung finden können.

Entsprechend nervös begann Dimitri. Er hatte, da war er sich sicher, einige bisher unbeachtete, seiner Meinung nach exemplarische Phänomene aufgedeckt, die ihm schlußendlich eine Lösung geradezu aufgedrängt hatten. Würden sich aber die anderen davon überzeugen lassen, würden sie gleich ihm die Tragweite erahnen? Erschwerend für ihn war die deutschkritische Haltung N’quandis, wenn der auch Dimitri damit bisher verschonte, da Dimitri russischer Abstammung und somit Teil einer Gruppe war, die noch zu den intelligenteren und leistungswilligeren seines Volkes zählte. Ansonsten galten die Deutschen allgemein als ungebildet, roh und lethargisch.

Auf allen Bildschirmen leuchtete groß das Jahr „1999“ und darunter der Name eines Bundeslandes auf:

Der Fall Niedersachsen.
Vorbemerkungen von Dimitri Wassili.

Sie finden im Folgenden aufhellende Beispiele, nicht den einzigen wahren Anfang der deutschen Misere. Der Fall Niedersachsen ist vielleicht nur die erkennbare Spitze eines Eisberges, besonders einfach nachzuvollziehen, warum dieses einst für sein „Volk der Dichter und Denker“ gepriesene Land innerhalb weniger Jahrzehnte geistigen Konkurs anmelden mußte. Ich schreibe mußte, und hoffe dies anhand meiner Funde zumindest ansatzweise belegen zu können.

Alle schwiegen und lasen. Dimitri kam es so vor, als wenn eisige Lüftchen den stickigen Atem Nairobis im Raum durchschnitten. Wollte ihnen Dimitri allen Ernstes sagen, er hätte geschafft, was allen anderen bisher verwehrt blieb: eine Lösung zu finden? Auch Professor N’quandi starrte kalt auf Dimitris Sätze. Er kannte Dimitris Ehrgeiz. Er verstand auch, zumindest meinte er das, seine Motive. Vielleicht hätte er ihm doch lieber ein Thema geben sollen, das weniger mit ihm und seiner tragischen Situation als deutscher Gaststudent zu tun hatte. Er hoffte für Dimitri, daß der in seiner Betroffenheit nicht über seine studentischen Anfängerfähigkeiten hinausgeschossen war.

1999 fand ein von den damaligen Medien fast unbeachtetes Ereignis statt. Es war eine Schulreform. Sie betraf die Klassen 1 – 4 der 1800 Grundschulen des Landes. Viele, aber noch längst nicht alle, hatten sich bis zu dieser Reform in einem jahrelangen Prozeß zu Halbtagsschulen entwickelt, die auf eine neue Art auf die veränderten Umweltbedingungen der Kinder mehr Rücksicht nehmen sollten. Seit den 50er Jahren hatte die Bedeutung der Schulen als Lernort ständig abgenommen und betrug in den 90er Jahren gerade noch 10 %. Die technologische Aufrüstung in den Kinderzimmern mit einem Überangebot an Medien und die Dominanz derselben im Familienleben stattete die Kinder bereits vor Eintritt in das Schulleben mit Erfahrungen und Wissen aus, wie sie in den 50er Jahren vielleicht gerade mal nach 8 – 9 Schuljahren erreicht worden waren. Gleichzeitig gingen Erfahrungen im sozialen und handwerklichspielerischen Bereich drastisch zurück. Darauf hatte das Konzept der Halbtagsschulen mit AG-Angeboten, Spiel- und Lesemöglichkeiten reagiert. Gegenüber der schnellen Außenentwicklung stellte diese Schule den Kindern Kontinuität zur Verfügung. KlassenlehrerInnen wurden neben den Eltern zu wichtigen Bezugspersonen der Kinder. Phantasie, Kreativität und Lust auf eigenes Handeln wurden gestärkt oder überhaupt erst ermöglicht. Die Kinder erhielten so eine Chance zur Emanzipation von der alles und jeden Bereich bestimmenden Medienhoheit. Nicht zuletzt war es sogar gelungen, Eltern in diesen Prozeß als aktive, verständige Partner miteinzubeziehen.

Dieser Weg sollte nun plötzlich aufgegeben werden. Statt dessen begann die „verläßliche Grundschule“, ein Konzept, das im wesentlichen darauf basierte, daß die Eltern ihre Kinder verläßlich von 8 Uhr morgens bis 13 Uhr mittags außer Haus hatten. Um dies zu finanzieren, wurden Lehrkräfte gestrichen und „pädagogisch nicht ausgebildete aber interessierte“ Teilzeitkräfte eingestellt. Diese sollten vor allem die soziale Betreuung der Kinder gewährleisten. Wurden Lehrer krank, so übernahmen diese interessierten Laien die Vertretungsstunden. Die Bevölkerung des Landes fühlte sich aber davon nicht negativ betroffen, da kaum jemand die Folgen erahnte, oder erahnen konnte ? Sie verstand nicht, was sich hinter diesem Umschwung verbarg.

„Ich auch nicht,“ tippte der Kommilitone aus Vietnam in den PC. Dimitri reagierte nicht, ließ den Bericht weiter ablaufen:

Hintergrund dieser Reform war die Finanzknappheit der Länder. In Wirklichkeit hatten die Landesregierungen, die in Deutschland für die Bildung zuständig waren, pädagogisch kapituliert. Nach dem Motto „rette sich, wer kann“, wurden überall Konzepte aus dem Boden gestampft, in hübschen Broschüren eilig unter das Volk gestreut, die nach außen Fortschritt, in Wirklichkeit aber weniger Ausgaben brachten. Das wäre vielleicht weniger tragisch ausgegangen, wäre das Land nicht so stark von seiner Bildung abhängig gewesen. Außer dieser nämlich besaß es so gut wie keine „Rohstoffe“. In Jahrhunderten gewachsene Bildungsstrukturen hatten dem Land sogar nach seiner bis dahin größten Katastrophe, dem Zweiten Weltkrieg, schnell wieder zu Wettbewerbsvorteilen und einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg verholfen. 1999 nun fand der Wechsel zum Primat der Ökonomie statt.

Jetzt schüttelte N’quandi doch den Kopf. Er sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Dimitri schien dilettantischen Phantastereien aufgesessen zu sein. Eigentlich müßte er jetzt eingreifen, bevor Dimitri sich vor den anderen völlig bloßstellte. Aber als er Dimitri ganz entspannt dasitzen sah, ließ er ihn weitermachen.

Das Neue sah so aus: die Schulen bekamen eigene Mittel in die Hand, ungefähr 5% ihres Haushaltes, die sie selbst verwalten durften. Das sah nach mehr Autonomie und Handlungsfreiheit aus. In der Folge wurden aber nur weiter die Ausgaben für qualifiziertes Lehrpersonal reduziert und das mit einem steigendem, wenn auch nur leichten, Anstieg der „frei“ zu verwaltenden Gelder übertüncht. Die Schulleiter, zuerst begeistert über ihren größeren Handlungsfreiraum und die neuen Aufgaben, gerieten in die Rolle von mittelständischen Betriebsleitern, die statt hochqualitativer Menüs am Ende Fast-Food produzieren ließen. Sie dachten bald nur noch in Marktsegmenten und fanden heraus, daß ihre Schulen finanziell am besten überlebten, wenn sie wie Billigmärkte das Niedrigpreissegment bedienten. Hatten die Grundschulen, ihrem Namen gemäß, bis dahin die Grundlagen des Lernens und der Allgemeinbildung gelegt, gingen sie nun dazu über, die außerhalb aufgesammelten Wissens- und Erfahrungstrümmer, bzw. Splitter, der Kinder zu verwalten, sie sich also sich selbst und einer nur auf Ordnung bedachten Betreuung zu überlassen. Es kam in der Folge zu lautstarken Kämpfen in der Schule zwischen pädagogischem und anderem Personal. Die Betreuer warfen den Lehrern vor, nur noch Schreckgespenster für die Kinder mit ihrem Anspruch der Wissensvermittlung zu sein. Computer könnten ihre Aufgaben ebenso gut erfüllen. Es dauerte nicht lange und die Landesregierungen griffen diesen Vorschlag auf. Die Aus- und Weiterbildungseinrichtungen des Landes für Lehrer wurden alle geschlossen. Die Schulen erhielten elektronische Einrichtungen und als letzter Schritt wurde, offiziell wegen Ausgewogenheit, auch das Betreuerpersonal auf Null reduziert. Dafür wurden jetzt mehr Hausmeister beschäftigt, die gleichzeitig auch die Elektronik bedienen konnten. Diese kontrollierten in unregelmäßigen Abständen die Klassenräume, riefen bei zu lautstarken oder handfesten Erscheinungen die Polizei und wurden am Ende ebenfalls ersetzt, durch Fremdfirmen. Der Schulleiter blieb als letzte feste Kraft in der Schule zurück. Wach- und Schließgesellschaften patrouillierten, ein Service-Dienst kam für die Geräte. So blieb den Regierungen nur noch eine Sparmöglichkeit: die Schulen ganz abzuschaffen. Auch dieses geschah wieder durch eine Reform. Da die Arbeitslosigkeit inzwischen so groß geworden war, daß in den meisten Familien ein Elternteil den ganzen Tag zur Verfügung stand, nannte man die Reform: „die verläßliche Elternschule“. PCs standen in den Haushalten sowieso zur Verfügung, Unterrichtsinhalte konnten über das Internet abgerufen werden und Polizei und PC-Service erübrigten sich wieder. Der Schulleiter wurde ersetzt durch eine Bürokraft, die lediglich die Buchführung übernahm, welche Kinder offiziell in welchen Lernstufen zu sein hatten.

Professor N’quandi sprang auf. „Thesen, Behauptungen, wirres Zeug!“ Sein Ausbruch kam nur für Dimitri völlig überraschend. Einige Kommilitonen hatten bereits länger zu N’quandi gesehen, wie er wohl reagieren würde. „Fast-Food!" brüllte N’quandi zornig. "Und so etwas will Wissenschaftler werden. Ein Volk, das durch eine Schulreform planmäßig in den Untergang zieht! Ich sage Ihnen, lieber Dimitri, glauben Sie es oder nicht: kein Volk ist so dämlich, so völlig bescheuert, seine Kinder aus der öffentlichen Bildung herauszunehmen, nicht einmal die Deutschen!“ Alle nickten, nur Dimitri sah den Professor erstaunt an.
Ich kann es belegen, jeden Satz. Mit der Bildung ging es aber auch dadurch bergab, daß sich immer mehr der Eindruck verbreitete, Bildung lohne sich nicht, da ja immer mehr arbeitslos würden. Für die Anbieter von Software und Medien war es einige Jahre ein großartiges Geschäft. Warum sollte sich also großer Widerstand geregt haben?

N’quandi beruhigte sich. Wie kam er dazu sich über einen jungen Studenten so aufzuregen? Am Abend ging er noch einmal alleine Dimitris Arbeit durch. Je mehr er die Quellen studierte, um so unruhiger wurde er und er konnte sich nicht länger des Eindrucks erwehren, daß diese Deutschen vielleicht tatsächlich doch so ........!

Ps.:

Orginalunterschrift zum Bild:
„Bild 102-11038

Die Körperhaltung bei der Arbeit!
Die Erkenntnis, dass die richtige Körperhaltung bei der Arbeit eine wichtige Rolle spielt, hat zu einer einzigartigen Ausstellung im Arbeiterschutz-Museum in Berlin geführt. Da durch die Not die deutsche Wirtschaft immer mehr rationalisiert wird, setzt man alles daran, die Körperhaltung bei der Arbeit den Forderungen der Neuzeit anzupassen.
Richtiges und falsches Sitzen auf der Schulbank. Im Hintergrund falsches Sitzen. Der Ellbogen darf nicht auf die Bank gestützt werden. Bundesarchiv

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