Wahrscheinlich
bin ich in Deinen Augen bald auch nur einer von den schwierigen alten Männern,
die dies Land zum Stillstand und überhaupt runter gebracht haben.
Doch,
doch. Du hast ja recht. Ein wenig haben
wir aber auch Leben in diese Zeiten gebracht, buntes, geiles Leben, Tänze und
Klänge wie nie zuvor gehört, Texte, die kein Himmel je posaunt, unzählige Todesarten
und Spielvarianten.
Verzeih
sie also, unsere zu nehmende Schussel- und Fehlerhaftigkeit.
Gottes
Schöpfung sieht anders aus? Da wäre ich mir nicht so sicher.
Wir
kommen daher und gehen dahin. Verwirrte alte Männer die gerne schwierig sind
und riechen, wie eben das Leben so vor sich hin müffelt.
Ich
weiß nicht, was du brauchst, mein Sohn, für dein bereits losgepreschtes
Jahrhundert? Hat sich zu viel anders ergeben, verändert, zu wenig Steine noch
auf Stein, zu viel Glas ohne wirkliche Durchsicht, zu viel Sonne auf falschen
Plätzen und Münzen.
Berichten
kann ich dir nur von meinem Jahrhundert, unserem, dem Deiner Vorgänger und
Vorgängerinnen, ein Jahrhundert, das ganz zum Schluss Dich noch für uns parat
hatte und in das sich überschlagende, Ereignisse volle Leben warf, pünktlich,
als die Mauer auf ging zwischen Ost und West.
Ich
weiß es wirklich nicht. Nicht, was du dafür brauchst, nicht, wie du sein
müsstest.
Vielleicht
ist es ja wirklich auch ein neues Jahrtausend, das ganz anders seine goldenen
Fäden spinnt über den Schluchten.
Und
so kann ich dir alles erzählen: ohne Nutzen, ohne Leere, ohne Sinn. Einfach so,
weil ich es dir und anderen erzählen will, weil ich von den Erzählern herkomme,
von denen die vielleicht untergegangen sind, wie so mancher einst
hochgeschätzte andere Handwerksberuf. Maschinen übernehmen jetzt soviel.
Wir
erzählten noch, ja, millionenfach waren sie für uns da, die Lagerfeuer,
tausende von Jahren haben sie für uns gebrannt, die Gesichter gemeißelt während
wir erzählten.
Wärme
gab es vom Feuer und bisweilen derbe Hitze von uns.
In
uns spiegelten sich die Welten, die Reiche und die Reichen, die Mächtigen und
die ihnen zur Macht verholfen haben. Wir zogen mit den Soldaten durch die
endlosen Schlachten und mit den Flüchtlingen auf Eselskarren.
Wir
liebten ohne Seil und Steg, verzweifelten ohne Erbarmen, rissen uns die Kleider
vom Leibe, hatten das Kainsmal immer an der Brust.
Ja,
bis in die Schlafkammern sind wir den Liebenden, den Betrügern, den Verlorenen
gefolgt, haben ihr Stöhnen und ihre Worte aufgespießt, den Dolch gehalten, die
Büchse gerichtet, die Adler fliegen sehen.
Wir
haben Rotkäppchen begleitet, mit dem Mädchen in Kopenhagen die Streichhölzer
abgebrannt und gefroren, sind mit Sindbad auf dem Vogel Roch zu dem Magnetberg
geflogen, haben Hannibals Elefanten geführt, die Hexe und ihren Appetit an
Hänsel und Gretel verraten.
Ob
das auch alles wahr war, was wir erzählten?
Mein
Sohn, ich belüge dich jetzt schon. Das Leben musst du schon selber finden.
Wir
erzählen nur, stellen dir Möglichkeiten vor, tun so, als würden wir es glauben,
damit du zu hörst. Nicht, damit du uns blind vertraust.
Vertraue
uns nie, aber genieße uns, unsere Lügen, in denen mehr Wahrheit liegt, als in
den so bieder daherkommenden Wahrheiten, für die meistens doch nur
Schlachtfeste bereitet wurden, Wahrheiten, in denen ganze Völker verbrannten.
Der
Erzähler erzählt. Soviel. So wenig. Und wenn er nicht lügt und spinnt und wie
ein Derwisch um dich herum tanzt, halte ganz still und sei auf der Hut. Wer
nicht zu lügen vorgibt, ist meist zutiefst unehrlich. Vor allem aber will er
etwas von dir, was mehr ist als die kleinen Gaben für unsere Erzählkunst.
Dies
ist für dich und für die anderen, denn warum sollte ich mir so viel Mühe
machen, nur dir etwas zu erzählen, diesen Kosmos noch einmal erschaffen, bevor
er ganz in deinem Jahrhundert unter die Räder kommt? Natürlich ist auch das
gelogen. Natürlich erzähle ich nur dir und für dich und für dich.
Ich könnte jetzt sagen, dass ich schnell alles
dafür getan habe, die Fehler unserer Väter im neuen Gewand zu wiederholen und
keine Sünde dabei gescheut habe. Nein, das sollte ich nicht. Es war schlimmer.
Wie
eine Schnecke habe ich mich hineingleiten lassen in die Katastrophen
menschlicher Schwächen und Fehlentscheidungen, immer in dem Bemühen, sie nicht
zu wiederholen. Also abscheuerlicher war es, ein Abziehbild und das bei
kleinlicheren Anlässen und Tragödien.
Gestorben
wurde trotzdem und zerbrochen, gefoltert und verstümmelt. Wer etwas nicht will,
erhält es. Wer es will, kommt davon.
Oder
auch nicht.
Davon
also will ich erzählen. Und von dem Sumpf, dem großen, dem wir entstammen
sollen. Der großen, grauen Brühe. Dem Nichts. Dem Gestern.
Dabei
standen wir in der Steppe halb aufrecht, ein kleiner Trupp. Da, die Vögel
fliegen, kreisen, stoßen nach unten. Vorsichtig das Gras teilen, vorwärts schleichen,
den krummen Rücken noch krummer biegen. Unsere Speere im Anschlag. Vielleicht
müssen wir uns verteidigen. Später werden sie behaupten, wir wären mit denen
auf Jagd gewesen und hätten uns mit tödlichen Treffern das Fleisch verschafft
für die Sammlerinnen in der Höhle. Sie
werden uns zu Kriegern erzählen, wilden Kerlen, die furchtlos umher ziehen.
Dagegen
groß jetzt unsere Freude. Das Tier ist bereits verlassen von unseren ärgsten
Feinden. Nur die Vögel bedienen sich. Wir schultern den Rest, werden nur die
Vögel nicht los bis zur Höhle, sie verraten unseren Weg hoch oben im Himmel.
Das Tier ist noch frisch. Erst das Feuer wird uns schützen und davor bewahren,
dass wir am Fleisch sterben, wie es vor uns unsere Vorfahren taten.
Das
Feuer, dass wir fanden in unseren Händen gegen die Kälte und den Tod. Das Feuer werden sie an uns rühmen und
zugleich nicht glauben wollen, dass es nur die Rettung vor faulendem Fleisch
war, dass wir vom Aas lebten und keine Helden waren. So wie wir es heute noch
sind: Aasfresser.
Lassen
andere fangen, töten, zerschneiden und uns den kleinen Rest für das Feuer
geben. Kochen, Braten , Grillen wir es und sagen doch nie: Prost du Aasfresser.
Denken es nicht einmal. Müll und Aas verdanken wir doch unsere Kultur, unser
Denken.
Unser
„Wohin mit den Leichen“ führte zu den Weltwundern. Was tun mit alter Nahrung
führte zur größten Kultur der Menschheit: dem Kochen. Einzig darum, nicht
weiter zu leiden und zu krepieren an ungenießbar Gewordenem.
Jäger
waren wir nur durch sehr viel Glück oder großer Dummheit, deren tödlicher
Ausgang dann ein guter Treffer noch einmal abwendete. Stets hatten wir Mörder
und Schlachter für uns im Spiel, andere, die für uns töteten, was wir
brauchten, egal ob Menschen oder Tiere, ob im Wasser oder auf der Erde.
Das
Feuer war nicht wichtig als Wärme. Es war unser Schutz vor Tieren und den
Alpträumen, reinigte unsere Speisen und so konnten wir uns ausbreiten, die
Kontinente mit unseren Feuerstellen überziehen, erst im Freien, dann in Höhlen,
Zelten und schließlich steinummauert.
Und
so treiben wir es heute noch. Die Statistiken zählen Feuerstellen und jede
steht für eine Familie, wie die unsere.
Du glaubst, es habe sich vieles geändert in den Jahrtausenden bis heute.
So
gesehen ist es nicht viel. Die Zubereitung des Aases hat sich verändert,
verfeinert, wenn du willst. Mehr nicht. Unsere Feigheit ist geblieben und die
Fähigkeit, daraus Gewinn zu schlagen und das Feuer zu erfinden. Nackte
Todesangst also und das Fressen: Mehr stand nicht in der Wiege unserer
sogenannten Zivilisation Pate.
Kein
Sumpf. Kein grauer Brei oder Morast und schon gar keine Ursuppe.
Du
siehst: wie alle Väter überkommt dich hier das anzeigende Wesen des
Patriarchen, der dir noch mal seine Weltsicht beibiegen will. Ja muss. Ich
fühle mich dazu berufen. Ich, der Erzähler, muss es dir sagen: der Eintritt in
diese Welt von uns kommt durch diese Scheiße, durch die wir glücklich gekrochen
sind. Feuer sei dank. Wer uns vernichten
will, muss uns das Feuer nehmen. Oder
noch mehr Feuer anzünden.
Ich,
dein Würstchen liebender Vater, der in den Fußgängerzonen herumwandert mit
seinem altem Hunger im Bauch, erzähle dir hier mein Schweigen, dass ich in die
Würste, in die Pommes Frites, in die Mitbringe aus dem Supermarkt packe und auf
dem Küchentisch für Dich und uns ausbreite, genüsslich, schweigend, mit dem
Finger auf die Einkäufe. Sollen die doch quatschen, mal auspacken was los ist
mit ihnen und uns.
Ich
bin der Feuerträger, der noch immer durch die Steppe schleicht mit leicht gekrümmten
Rücken. Und ihnen wird nicht schlecht, sie sterben auch nicht. Sie vergammeln
unsichtbar, waren nie echt, alles Erfindungen von Leuten, die vor allem eins
vermeiden, darüber Geschichten zu erzählen.
Nur
die Vögel malen nicht mehr im Himmel meinen Weg. Aber wie in unseren alten Höhlen
ist es kalt zwischen diesen Wänden und das Feuer meißelt mein Gesicht, lässt
mich spüren, dass ich lebe und erzähle. Der „Schnackebatt“ nennen sie mich. Der
„Verteller“. Ein Kauz.
Für
das „Vertellen“ gibt heute keiner mehr was. Aber für krebsfördernde,
fettgestreckte Reste in Pelle, frisch verbrannt, weil es dann erst richtig
schmeckt. Das Fett muss in den Grill spritzen und räuchern. Dann ist es gut.
Und ich, wir werden mit geräuchert. Das
aber interessiert keinen. Eher schon, ob es Senf und Ketchup umsonst und
unbegrenzt dazu gibt.
Auch
das wirst du noch lernen müssen. In Deutschland gibt dir jeder den Senf umsonst
dazu. Ob er dir schmeckt oder nicht. Für roten Ketchup, rot wie Blut, musst Du
immer bezahlen. In Schweden nicht, nur für das Blut, damit und dafür zahlst Du
überall auf dieser Welt.
Einfaches
Bild, nicht wahr? Abgelutscht, sich aufdrängend. Aber in der Steppe gab es noch
keinen Senf. Die einzige Würze war die verkohlte Oberfläche des Fleisches.
Was
also soll der Senf? Warum bleibt man in Deutschland immer so schnell im Senf
hängen? Das wirst du auch noch erleben. Der Absturz ist immer da und der Mist
der Gedanken, den hast du ungewollt auch schon aufgeladen bekommen. Wie ich den
Senf. Obwohl der ja dem Krebs hinderlich sein soll, ein echter
Widerstandskörper in unserem Leib, also passend zur Bratwurst.
Warum
dieses Wurst-Thema ? Aber, mein Sohn. Du kommst aus dem Land der Bratwürste!
Habe ich dir das nie gebeichtet? Wenn, dann war da mein Schweigen fatal. Oder
auch feige, oder eher nachlässig?
Schlafe
drüber, mache Pause.
So
lange erzähle ich euch anderen weiter, zum Beispiel wie alte Autoreifen,
Holzspäne oder Motoröl in unser Essen gelangt sind und warum, was der
Froschkönig nicht damit zu tun hat, warum Hans im Glück sich ein Ei darauf
pellt und die sieben Zwerge sich schon immer davor und uns gefürchtet haben. Warum
auch immer.
(so schrieb der 48jährige
und trotzdem noch junge Vater kurz nach der Jahrtausendwende seinem armen Sohn,
gerade man stolze 12 Jahre alt, hat es ihm aber bis heute erspart. Und heute
frage ich mich, was und warum schrieb ich so etwas.)
© Jörn Laue-Weltring 2013
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