Sonntag, 31. März 2013

Vitali, der Ziegelsucher



Ab und zu treffe ich mich noch mit Vitali. Meist schreibt er mir, wohin ich kommen kann, um ihn zu treffen. „Das Land ist wieder weit,“ sagt er jedes Mal zur Begrüßung. „Sehr weit,“ antworte ich ihm, während wir untergehakt irgendeine Kopfsteinpflasterstraße entlang gehen, meist entlang von zerfallenden Häusern und geflüchtetem Putz, der schamlos die Wände unseren Blicken aussetzt.
„Verlassen!“ stellt Vitali dann fest und so habe ich Dutzende von kleinen Geisterstädten durch Vitali kennen gelernt. Vitali sammelt rote Ziegel, die Steine der Deutschen. Ostpreußen, Westpreußen, Polen; alle wurden durch die Ziegel mit deutschen Wundmalen verziert. Und überall dort haben wir uns getroffen. Die Menschen waren fort, geblieben sind ihre Häuser, Hütten und Güter, Torbögen wie Triumphbögen Napoleons, Ställe und Brunnen wie Pickel in der vergeblich sich mit Leben mühenden Landschaft.. Deutsche Spuren. Keine Steine, nur gebrannte Ziegel, versteckt unter Putz oder rotzfrech blank und rot, marktschreierisch, als sollten sie allen verkünden: Hier sind wir oder nichts! Nach dem großen Krieg wurde das Land genommen, Polen, Russen und was weis ich, durfte darin hausen, verzehren, umwandeln,. Die Mauern waren zäh, raubten ihnen die Kraft. Da mussten Männer lernen, dass Holzhäuser hier nicht zählen und kalten Stein lieben lernen um am Ende festzustellen, dass es nicht einmal für eine kleine Zärtlichkeit gereicht hat. Zu sehr war der Duft fremd und die Ordnung, die von diesen Mauern im herrischen Ton ausging.
„Deutsche!“ ärgert sich Vitali. „Dietrich, Walter, alles Deutsche geworden und Polen geblieben!“ „Und Du, bist du immer noch Russe?“ „War ich je Russe? War ich Deutscher? War ich Pole? Bin ich der Wind, den sie mit ihren Ziegeln aufhalten wollten, diese Porzellanschlecker? Bin ich Vitali? Der Fürst der Steine? Sag du, was ist einer, der das Land befreit von roten Mauern?“ Vitali dreht sich in seine Jacke, die mit ihm aushält, Jahrzehnte mit ihm durch das Land gezogen ist. Dünner wird er und seine Adern sind jetzt fast so dick wie seine knochigen Finger. Das Haar trägt er wieder lang und den Bart bis zum Bauch. Nur so können die Nase und die Augen das Gesicht beherrschen und den, der hineinsieht. Die Lachfalten sind Sturzbäche geworden, die Haut wie die Steppe, in der er so lange überleben musste. Vitali hat immer noch alle Unterlagen. „Hast du doch?“ Vitali führt mich zu dem Zigeunerwagen. „Hast du keine Angst vor Feuer?“ “Dummkopf! Immer in Kassette.“
Wie Vitali den Wagen bewegt ist mir ein Rätsel. Leiht er sich Pferde dafür aus, einen Trecker? Zieht er ihn gar selber über das Land? Ich weiß nicht, warum ich ihn nie danach frage. Vielleicht möchte ich es nicht, weil es so ein Mythos bleibt, der geheimnisvolle Wagen, der mal hier, mal dort steht, wie von Geisterhänden gezogen. Vitali dagegen ist kein Geist, viel zu rustikal, erdnah und auch körperlich spürbar. Nur im Wagen entspannt er sich, wird zu einem Teil des Raumes, so dass ich ohne Anstrengung mit ihm darin atmen kann. Er ist dann lediglich Zusatz zur Einrichtung, liegt und schweigt oder schweigt und kocht Tee. Unsere Zwiesprache findet nur noch in unseren Köpfen statt. In den Jahren kam es so, dass wir uns nicht einmal mehr in die Augen sehen müssen dabei. Wir liegen, denken, reden miteinander ohne Ton und Blick. Ab und zu nickt Vitali. Dann spüre ich große Zufriedenheit. Was wir denken? Wir sehen! Die Züge von Menschen durch die Ebenen, die hinter den Pflügen, die mit den Sensen, die mit den Gewehren, die auf den Pferden schreien, schlagen, die Kinder mit dem Brot, den Getränken, die heißen Mädchen und Jungs, ihre Blicke, die mit den übervollgepackten Karren, die sich selbst aus dem Bild schieben um in einem anderen und irgendwie selben Bild zu landen, schiebend, stöhnend, ächzend, verzweifelten Blicks. Dann das Krachen der Gewehre, Salven, Kanonen, Panzer, die die Erde aufreißen bis ihr gräuliches Blut sich zwischen die Ketten schiebt und alles zuklebt, alles einsinkt, stillsteht, während über den Köpfen der schiebenden, schimpfenden Gestalten Flieger helle Strahlen auf ihre Haut brennen, tödlich und damit endlich, willkürlich und somit sinnlos. Die, die überleben, den Hut abgenommen haben oder die Tränen verwischt, schieben weiter in den Horizont bis der glutumhaucht über ihnen zusammenbricht. Wir sehen die dünnhäutigen Gerippe, die dem Abend entgegen schwanken, die dünnen Lippen der Frauen unter den tiefen Augenhöhlen, als hätten ihnen die Tränen alles weggeschwemmt. Und wir sehen Fritz, Didi, Walter, Paul, Gustav, Dora, Werner. Wir sehen uns. Zum Schluss machen wir uns auf zu den verbliebenen Mauern, setzen uns zu den Frauen, die den Schutt davor nach Porzellan durchwühlen, alten Einmachgläsern, deren Inhalt stolz jedem präsentiert wird, ebenso wie die verkorkten Weinflaschen. Meistens sind es aber nur zinkenarme Kämme oder Gürtelschnallen an abgenagten Lederriemen die sie hochhalten. Dann nehmen wir die Ziegel ab, für jede Hand einen, gehen damit durch die wiesenartigen Felder bis wir den Sammelanhänger erreichen. Wir gehen unsere Wege ab und unsere Steine, suchen die Horizonte, denen wir begegnet sind, die immer unterschiedlichen Sonnenunter- und –aufgänge, tasten uns vor zu den Schauern, die unsere Haut belebten und die Kehle erstickten, die Schreie im Bauch festhielten. Vitali nickt immer, wenn wir zurückkehren zu den Wänden, unsere Ziegel holen und erstarrt, wenn die Schauer auf unsere Haut kommen und Gesichter sich aus den Massen lösen und ganz nah zu uns herauf schweben. Aber zum Glück gibt es die Gräber, auf deren Steinen unsere Namen fehlen und wenn wir sie abschreiten, dann nickt er bei jedem Stein. Zu Hause könnte ich schreien vor Wut und Tränen verlieren über jeden. Bei Vitali folge ich nur seinem Nicken. Es sollte so sein. Wie schon Hermine immer sagte: “Dann sollte es wohl so sein.“ Hier lehne ich mich nicht mehr auf, versuche das Rad der Geschichte sich selbst zu überlassen, trage sie nur ab mit Vitali, Ziegelstein auf Ziegelstein, entferne sie aus den Ländern des großen Irrtums und fühle mich hinterher wie frisch gebadet. Irgendwann stehen wir auf, immer zum gleichen Zeitpunkt, ohne Absprache, trennen uns. Vitali schläft im Wagen. Ich darunter auf meiner Matte im Schlafsack. Da unten bekomme ich genug Luft und Kraft für den nächsten Tag. Und jeden Morgen nach dem Frühstück dann das gleiche überwältigende Erlebnis: Das Land macht Vitali groß. Es ist nichts unter seinen Füßen, scheint ihm bei jedem Schritt nach vorn mehr zu gehorchen. Er überragt es mit seiner Länge und Vitalität. Das ist kein alter Mann, der durch das Land krebst. Das ist ein Herrscher der Wolken und Winde. Sogar die Sonne macht vor ihm einen Knicks. In seinen überströmenden Haaren, jeden Morgen in einer Zinkwanne frisch gebadet und danach gestriegelt und gebürstet, spiegeln sich Land und Himmel. Dabei ist er nur eine Bohnenstange auf zwei Beinen, dessen Auge ausschließlich rote Ziegel zu suchen scheinen, ohne Blick für die verwilderten Felder, auf denen sich die Urahnen der Wildblumen zurück in die Geschichte trauen, bunt, zackig und zickig, ohne Ordnung, deren Farben manchmal zu bellen scheinen oder zu zischen, die einen anfallen wie junge Hunde und dann wieder zublinzeln, als lohne sich ein Date mit ihnen. Und ab und zu erhält Vitali Konkurrenz am Horizont durch einen einzeln stehenden Baum.
„Ja, die Deutschen. Bei denen gab es Büsche, Bäume, kleine Felder, klare Gebiete, merkwürdige Drehnagen, die das Wasser aus dem Boden hielten. Und immer in der Mitte große Tore, Paläste, Pferdeställe. Und alles abgetragen von mir!“ „Und von den Hungerleidern, die hier nicht wegkommen.“ „Vergiss sie. Sie tun nichts wirklich. Sie können Ziegel nehmen so viel sie wollen. Sie schaffen die Mauern nicht. Du musst den Mauern das Herz herausreißen! Verstehst du, das Herz. Sonst wachsen sie wieder, weigern sich zu verschwinden. Immer zwei nehmen! Nie mehr! Damit machst du sie fertig.“ Vitali verkauft die Ziegel. Davon lebt er. „Von den Deutschen. Wie früher. Nur anders!“ Und dann lacht er.
Wenn ich zu lange nicht bei ihm war, brauche ich ihn, seinen Blick, diese Sätze, das Land, die Gedankenreisen, damit ich wieder daran glauben kann, das Europa eine Geschichte hat, Kriege wirklich waren und Leibeigenschaft, und ich Vorfahren habe die hierher kamen nachdem sie hierhin gezogen wurden von Kreuzen und gierigen Rittern.
Nicht ich, Vitali ist der letzte Erbe, der Überlebende, der Ahasver unserer Geschlechter. Und seine hellblaue Jacke, die inzwischen mehr wie ein Schlafsack auf ihm wirkt, ein Zelt für seine Bewegungen in der Unendlichkeit unserer Geschichte..
Er kennt auch noch im Schlaf unsere Namen, unsere Orte, unsere niederschmetternde Bilanz durch Kinder fort zu leben.
Und natürlich hat Vitali mir den wahren Wurstkosmos eröffnet, der in unseren Familien verborgen lag. Durch ihn habe ich noch mehr Rezepte und Namen gehört, aber ihm versprochen, sie nie zu erzählen. „Es sollte aus sein. Lass es ruhen!“
Und dann gehe ich Ziegel suchen mit ihm. Schweigend. Zwei oder drei Tage. Er trägt tatsächlich immer nur zwei, in jeder Hand einen. Aber wenn Vitali Ziegel zieht, dann sieht die Mauer hinterher kleiner aus, brüchiger, verloren, geopfert dem Land und seinem Behauptungswillen. Die ausgemergelten Männer neben uns nehmen vier bis sechs auf einmal. Die meisten behalten noch ihre selbstgedrehten Zigaretten dabei im Mund. Und jedes Mal warte ich darauf, das einer mal husten muss. Sie husten nicht. Nicht mit den aufgestapelten Ziegeln unter dem Kinn. Sie gehen rauchend, schweigend neben uns und meine Augen suchen das Weite, so wie damals Didi, Walter oder Fritz. Wer hier geht, kann nur das Weite suchen. Das Nahe bietet nichts.
„Du fährst! Ich schreibe Dir!“
Zum Bahnhof gehe ich stets alleine, blicke mich so oft es geht zu ihm um. Es dauert lange bis er zum kleinen Punkt in der Landschaft wird, hinter den Blüten verschwindet. Dann beginne ich zu genießen, die Last der Geschichte fällt wieder von mir ab. Jetzt kann ich es gebrauchen, habe die Angst davor verloren. Wer Wurzeln hat wie ich in Vitali, braucht keine Bücher mehr oder Filme. Nicht einmal das große Gespräch, nur ein paar ständig wiederholte Sätze und die Gewissheit, dass sie auch das nächste Mal wieder da sind.
Und wenn er vor mir stirbt? Das glaube ich nicht, und wenn, werde ich einfach einen unserer Orte besuchen und ihn hören und sehen. Er ist das Land und dieser tragische Irrtum, der uns dorthin brachte, und auch der Wind, den man nicht durch die Ziegel lassen wollte.
Und natürlich heißt er auch nicht Vitali, aber das hat an anderer Stelle Bedeutung. Dann wird er in deinem Land sein und von meiner lieben Tante Dora schaudernd verwaltet. Und ihr Schaudern kommt dann von deinem Land, dem Moor, dessen Geistern. Ja, es ist auch mein Land. Ich weiß. Aber es ist auch Vitalis Land, nur hat er hier braune Ziegel zum Leben verholfen, für die Öfen der Armen und als Dünger für die Weiden. Du wirst sehen.

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