Mittwoch, 28. August 2013

Tanz der Schatten



„Ich weiß, dass ich weiß. Sie wissen, dass sie wissen und der da vorne weiß nichts, von nichts, von niemanden.“
Missmutig sah er zu dem Amateurclown, der zwischen den beiden Bodenvasen mit seinen Bewegungen Schattenspiele auf der Leinwand hinter sich verursachte. Die tanzenden Schatten gefielen Hans Knork besser als die Witzchen des dünnen, jungen Mannes in seinen grellbunten Klamotten.
Jeden Mittwoch ab 15 Uhr gab es hier Darbietungen für die Heimbewohner in diesem flach-praktisch-gut Bau im noch hoffnungsfrohen Stil mit viel Stumpfglas drum herum der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ein absoluter „Erbarme-Dich-Unser-Bau“, dachte er und begutachtete zum zigsten Male die merkwürdige Einrichtung, die ihnen gefallen sollte und wirkte wie eine Zusammenstellung, ja Ballung, aus den schäbigen Resten eines Flohmarkstandes. Nichts davon hätte in seiner eigenen Wohnung Aufenthaltsrecht erhalten.
Letzte Woche war hier zu ihnen ein Amateurzauberer gekommen, der mindestens ein dutzendmal entschuldigend darauf hinwies, dass er ja noch Amateur sei, davor ein Vogelkundler, dem wohl schon lange keiner mehr zugehört hatte, davor ein Heimatpoet der Umgebung, der versucht hatte seine schwachsinnigen literarischen Stotterversuche durch Dias auf zu peppen.
Hans Knork musste wie so oft in letzter Zeit an seinen eigenen Großvater denken, wie der in der schummrigen Küche vor ihnen gesessen und erzählt hatte. Und sie alle hatten stumm gelauscht, gelegentlich gab es ein Nicken oder ein Lächeln der Eltern als Applaus.
Ja, wir Alten wissen viel und haben lange dafür gelebt. Und wir können erzählen, weiter geben, die Türen öffnen zu längst vergangenen Welten und auf Zeitreisen schicken, taugen nicht als willfähriges Übungspublikum für Amateure und Halbkönner, viel zu schade dafür, unsinnig verkrümmte Zeit, das. Aber danach fragte hier keiner.
Und dann sonntags dieser lächerliche Tanz-Tee mit Damen- und Herrenwahl. Als hätte so eine Bewegerei noch viel Sinn in ihren Tagen.
Die Anna Murk stieß ihn von der Seite an. Wies mit der Hand auf die tanzenden Schatten hinter dem Clown.
Er nickte. Er und Anna brachten es zusammen auf 170 Jahre, die ganze Gruppe in diesem Aufenthaltsraum bestimmt auf über mehrere tausend Jahre. Und alles für die Katz. Abgeschoben, weggeschlossen, beschäftigt wie in einem schlechten Kindergarten, und abends nach dem Abendessen blieb hier nur der Fernseher oder das Hocken auf dem Zimmer, wenige nur trauten sich noch raus in die Stadt, die sie hier mit Supermärkten, Filialgeschäften und abends ausgestorbenen Fußgängerzonen umgab.
Hans Knork stand auf und schob seinen Rollator langsam nach vorne. Beim Clown angekommen, stellte er sich ruhig mit Blickrichtung zu seinen Mitbewohnern hin und wartete auf das Ende eines Gags, der aber nicht so recht kommen mochte. Schließlich nickte er dem Clown freundlich zu, löste seine Hände vom Rollator und begann zu klatschen. Der Clown sah ihn irritiert und etwas unwillig an, aber dann klatschten alle laut und es wurde unruhig im Raum. Stühle wurden geschoben, Rollstühle setzten sich in Bewegung und erste Stimmen waren zu hören. In diese Unruhe hinein bedankte sich Hans Knork bei dem Clown für seine Unterhaltung und wünschte ihm und allen anderen im Raum einen guten Abend.
Anna Murk hatte in ihrem Rollstuhl auf ihn gewartet. Er ging zu ihr hin, ließ seinen Rollator neben dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, und schob Anna vor sich her, auf den Flur hinaus, durch die große und hohe Eingangshalle mit den Prospektständern und weiter zum überdimensioniert verglasten Ausgang, in dessen Drehtür zwei Rollstühle in jedem Viertel Platz fanden.
„Hans, was war das wieder für eine Kinderkacke!“
„Ja, Anna!“
„Aber die Schatten, die tanzten wirklich witzig auf der Leinwand.“
„Und wie.“
„Ist es nicht bescheuert so seine letzten Tage zu verbringen?“
Hans nickte, sagte nichts und fuhr sie die breite Betonrampe hinunter.
„Sie wollen von uns nichts wissen, Anna. Alles ist angeblich zu neu und was vorher war nicht mehr zu gebrauchen.“
„Und dafür haben wir durchgehalten, gearbeitet, so viel gelernt, Hans, dafür?“
„Anna, nicht nur dafür. Hatten ja auch unseren Spaß. Gelegentlich zumindest.“
Er schob sie an ALDI, dem Schuh-Discounter „Deichmann“ vorbei in die hellrot versteinte Fußgängerzone. Sie murmelte, mehr zu sich als zu ihm:
„Besuchsruinen sind wir geworden, Hans.“
„Besuchsruinen, das ist gut. Das trifft es auf den Punkt, Anna! Nicht mehr mit ihrem Leben verbunden, raus geschafft aus dem Leben, ein hastiger, neugieriger Besuchsanlass , wie bei alten Klosterruinen oder Burgen, zur kurzen Besichtigung frei gegeben, stundenweise.“
„Immerhin kommen sie nie ohne Mitbringe.“
„Woanders zahlen sie ja auch Eintritt.“
Hans knurrte es mehr denn dass er es sprach.
„Und kein Teil mehr von ihnen, von ihren Kindern.“
„Unseren Enkeln!“
„Ja! Sie rauben uns die Familie und sich selber und unseren Enkeln.“
„Anna, sie wissen nicht was sie anrichten! Sie ahnen nicht mal, dass sie ihren Kindern mit unserer Fortschaffung die Zukunft rauben und uns die Vergangenheit, in der wir Kinder und Eltern waren“
„Wahrscheinlich.“
Er schob sie zwischen den kleinen Bäumchen und den Schaufenstern zielstrebig bis zum Ende, bog dann nach rechts ab und ging weiter bis zu einem großen Haus mit noch größerer Fassade, hinter dem ein großer, ehemaliger Viehstall zu einer Veranstaltungshalle umgebaut worden war. Hier machte er halt, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Weste und gab ihr eine, steckte sich selber auch eine an.
Der Eingang war das große, ehemalige Scheunentor mit zwei kleinen Türen, die jetzt ständig auf und zu gingen, denn von allen Seiten schritten gemächlich Leute heran, einige schoben andere in Rollstühlen, so wie Hans, andere kamen mit Rollator oder Gehhilfen. Alle schienen alt zu sein, die meisten von ihnen sehr alt. Wie Schatten an der Wand glitten sie durch die Straße.
„Wann wird es geschehen Hans?“
„Keine Ahnung. Aber es wird geschehen.“
„Und sie wissen nichts?“
„Nein, sie sind ahnungslos. Es liegt ja auch fern ihrer Phantasie und Vorstellungskraft. So wie wir jenseits ihres Lebens sind, nicht mehr als Ausflugseinfälle und lästige Pflichtübungen.“
„Aber es wird sich ändern?“
„Ändern, weiß ich nicht. Aber eine Änderung wird es geben, sicher. Ohne unsere Enkel werden sie sich etwas einfallen lassen müssen.“
Anna lachte leise. „Die Gesichter würde ich gerne sehen: keine Kinder mehr, alle weg und sie stehen da in ihrem sinnlosen Heute, in ihrer gehetzten Umtuerei und kapieren nichts.“
„Ohne Ende kein Anfang, so ist das.“
Er nahm den Rest ihrer Zigarette und seine und drückte sie in den überfüllten Standaschenbecher neben der Tür langsam und zielstrebig aus, als wären es ihre Söhne und Töchter.
„Dann lass uns mal, uns Besuchsruinen zu den anderen Besuchsruinen hinein gehen.“
Und schon verschwanden sie mit den anderen Besuchern hinter der Tür.
Den Clown auf der anderen Straßenseite, immer noch geschminkt und in seinem Kostüm, sahen sie nicht mehr. Der stand dort, am Laternenpfahl angelehnt, rauchte eine dicke Zigarre, die wie eine zweite lange Nase in seinem Gesicht aussah und schüttelte den Kopf.
„Alle bekloppt, diese Alten. Was die da nur veranstalten und vorhaben? Holen sie sich da Hinweise und Tipps, wie sie ihre Kinder um ihr Erbe bringen können?“
Er wusste, dass es drinnen eine Kontrolle gab und offensichtlich nur alte Menschen hinein gelassen wurden. Warum und wozu auch immer.
Er war dicht dran, ging es doch tatsächlich um das Erbe. Aber nicht das in Geld- und Vermögen, viel größer war das Erbe und es ging ihnen um Verteidigung, nicht um Raub. Und er würde nicht betroffen sein, hatte keine Kinder und die Eltern lagen lange schon auf dem Friedhof.
Der Clown nuckelte an seiner Zigarre und ging weiter. Zu gerne würde er einmal in so einer großen Halle auftreten. Das war sein Traum.
In der Halle wurde es gerade ganz still. Hans Knork erhob sich vom Podium und trat, sich an den Tischen abstützend, ruhig und bedächtig an das Rednerpult.

Monate später begriff der Clown und mit ihm eine große Schar auf dieser Welt. Er stand bei ALDI vor dem Zeitungsregal und traute seinen Augen nicht.

„Millionen Kinder entführt von ihren Großeltern.“ stand da und „Über lange Zeit vorbereitet haben die alten Leute alle Inseln aufgekauft vor der Nordseeküste und Schweden, dazu etliche Täler in den Alpen. Jetzt hocken sie dort mit ihren Enkelkindern, toben mit ihnen herum und lassen nur ausgewählte Journalisten in ihr „Zeitreich“, wie sie es nennen.“
Er las den Artikel vor Ort, ließ sich auch durch einige Anstupser von drängelnden Kunden nicht stören. So erfuhr er, dass das Militär und die Polizei Schwierigkeiten hätten, da auch von ihren Leuten Kinder dabei waren, wie auch von ranghohen Politikern, Wirtschaftsvertretern, Juristen und Sportlern. Das lähmte offensichtlich die Energie und den Mut für Befreiungsaktionen. Zwar kurvten Kriegsschiffe vor den Inseln herum, flogen Kampfhubschrauber über die Täler, waren Truppen in die Nähe verlegt worden und auch die Polizei bewegte sich massiv um die „Zeitreiche“ herum.
Es gab keine Forderung der Alten, nur die Aussage, nach einem Jahr könnten alle Eltern ihre Kinder wieder haben, dafür kämen dann neue Kinder zu den Alten. Und so würden sie es künftig mit den Generationen halten.
Der Clown fing an zu lachen, lachte wie lange nicht mehr, lachte bis ihn zwei Verkäufer aus ALDI entfernten und draußen sanft auf einen Fahrradständer neben den Verkaufswagen platzierten. Lachte auch dort weiter und hörte erst auf, als er davon zu starke Kopfschmerzen bekam.
Ein Bild aber sollte er sein Leben lang nicht vergessen, dass von Hans Knork auf der Titelseite der Bild-Zeitung, wie der, in einem Rollstuhl sitzend, beide Arme wie zum Gruß fröhlich lachend nach oben reckte, auf seinen Schultern ein kleines Mädchen, wahrscheinlich seine Enkelin.

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