„Ich
weiß, dass ich weiß. Sie wissen, dass sie wissen und der da vorne weiß nichts,
von nichts, von niemanden.“
Missmutig
sah er zu dem Amateurclown, der zwischen den beiden Bodenvasen mit seinen
Bewegungen Schattenspiele auf der Leinwand hinter sich verursachte. Die
tanzenden Schatten gefielen Hans Knork besser als die Witzchen des dünnen,
jungen Mannes in seinen grellbunten Klamotten.
Jeden
Mittwoch ab 15 Uhr gab es hier Darbietungen für die Heimbewohner in diesem
flach-praktisch-gut Bau im noch hoffnungsfrohen Stil mit viel Stumpfglas drum
herum der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ein absoluter
„Erbarme-Dich-Unser-Bau“, dachte er und begutachtete zum zigsten Male die
merkwürdige Einrichtung, die ihnen gefallen sollte und wirkte wie eine
Zusammenstellung, ja Ballung, aus den schäbigen Resten eines Flohmarkstandes.
Nichts davon hätte in seiner eigenen Wohnung Aufenthaltsrecht erhalten.
Letzte
Woche war hier zu ihnen ein Amateurzauberer gekommen, der mindestens ein
dutzendmal entschuldigend darauf hinwies, dass er ja noch Amateur sei, davor
ein Vogelkundler, dem wohl schon lange keiner mehr zugehört hatte, davor ein
Heimatpoet der Umgebung, der versucht hatte seine schwachsinnigen literarischen
Stotterversuche durch Dias auf zu peppen.
Hans
Knork musste wie so oft in letzter Zeit an seinen eigenen Großvater denken, wie
der in der schummrigen Küche vor ihnen gesessen und erzählt hatte. Und sie alle
hatten stumm gelauscht, gelegentlich gab es ein Nicken oder ein Lächeln der
Eltern als Applaus.
Ja,
wir Alten wissen viel und haben lange dafür gelebt. Und wir können erzählen,
weiter geben, die Türen öffnen zu längst vergangenen Welten und auf Zeitreisen
schicken, taugen nicht als willfähriges Übungspublikum für Amateure und
Halbkönner, viel zu schade dafür, unsinnig verkrümmte Zeit, das. Aber danach
fragte hier keiner.
Und
dann sonntags dieser lächerliche Tanz-Tee mit Damen- und Herrenwahl. Als hätte
so eine Bewegerei noch viel Sinn in ihren Tagen.
Die
Anna Murk stieß ihn von der Seite an. Wies mit der Hand auf die tanzenden
Schatten hinter dem Clown.
Er
nickte. Er und Anna brachten es zusammen auf 170 Jahre, die ganze Gruppe in
diesem Aufenthaltsraum bestimmt auf über mehrere tausend Jahre. Und alles für
die Katz. Abgeschoben, weggeschlossen, beschäftigt wie in einem schlechten
Kindergarten, und abends nach dem Abendessen blieb hier nur der Fernseher oder
das Hocken auf dem Zimmer, wenige nur trauten sich noch raus in die Stadt, die
sie hier mit Supermärkten, Filialgeschäften und abends ausgestorbenen
Fußgängerzonen umgab.
Hans
Knork stand auf und schob seinen Rollator langsam nach vorne. Beim Clown
angekommen, stellte er sich ruhig mit Blickrichtung zu seinen Mitbewohnern hin
und wartete auf das Ende eines Gags, der aber nicht so recht kommen mochte.
Schließlich nickte er dem Clown freundlich zu, löste seine Hände vom Rollator
und begann zu klatschen. Der Clown sah ihn irritiert und etwas unwillig an,
aber dann klatschten alle laut und es wurde unruhig im Raum. Stühle wurden
geschoben, Rollstühle setzten sich in Bewegung und erste Stimmen waren zu
hören. In diese Unruhe hinein bedankte sich Hans Knork bei dem Clown für seine
Unterhaltung und wünschte ihm und allen anderen im Raum einen guten Abend.
Anna
Murk hatte in ihrem Rollstuhl auf ihn gewartet. Er ging zu ihr hin, ließ seinen
Rollator neben dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, und schob Anna vor sich
her, auf den Flur hinaus, durch die große und hohe Eingangshalle mit den
Prospektständern und weiter zum überdimensioniert verglasten Ausgang, in dessen
Drehtür zwei Rollstühle in jedem Viertel Platz fanden.
„Hans,
was war das wieder für eine Kinderkacke!“
„Ja,
Anna!“
„Aber
die Schatten, die tanzten wirklich witzig auf der Leinwand.“
„Und
wie.“
„Ist
es nicht bescheuert so seine letzten Tage zu verbringen?“
Hans
nickte, sagte nichts und fuhr sie die breite Betonrampe hinunter.
„Sie
wollen von uns nichts wissen, Anna. Alles ist angeblich zu neu und was vorher
war nicht mehr zu gebrauchen.“
„Und
dafür haben wir durchgehalten, gearbeitet, so viel gelernt, Hans, dafür?“
„Anna,
nicht nur dafür. Hatten ja auch unseren Spaß. Gelegentlich zumindest.“
Er
schob sie an ALDI, dem Schuh-Discounter „Deichmann“ vorbei in die hellrot
versteinte Fußgängerzone. Sie murmelte, mehr zu sich als zu ihm:
„Besuchsruinen
sind wir geworden, Hans.“
„Besuchsruinen,
das ist gut. Das trifft es auf den Punkt, Anna! Nicht mehr mit ihrem Leben
verbunden, raus geschafft aus dem Leben, ein hastiger, neugieriger Besuchsanlass
, wie bei alten Klosterruinen oder Burgen, zur kurzen Besichtigung frei
gegeben, stundenweise.“
„Immerhin
kommen sie nie ohne Mitbringe.“
„Woanders
zahlen sie ja auch Eintritt.“
Hans
knurrte es mehr denn dass er es sprach.
„Und
kein Teil mehr von ihnen, von ihren Kindern.“
„Unseren
Enkeln!“
„Ja!
Sie rauben uns die Familie und sich selber und unseren Enkeln.“
„Anna,
sie wissen nicht was sie anrichten! Sie ahnen nicht mal, dass sie ihren Kindern
mit unserer Fortschaffung die Zukunft rauben und uns die Vergangenheit, in der
wir Kinder und Eltern waren“
„Wahrscheinlich.“
Er
schob sie zwischen den kleinen Bäumchen und den Schaufenstern zielstrebig bis
zum Ende, bog dann nach rechts ab und ging weiter bis zu einem großen Haus mit
noch größerer Fassade, hinter dem ein großer, ehemaliger Viehstall zu einer
Veranstaltungshalle umgebaut worden war. Hier machte er halt, zog eine
Schachtel Zigaretten aus der Weste und gab ihr eine, steckte sich selber auch
eine an.
Der
Eingang war das große, ehemalige Scheunentor mit zwei kleinen Türen, die jetzt
ständig auf und zu gingen, denn von allen Seiten schritten gemächlich Leute
heran, einige schoben andere in Rollstühlen, so wie Hans, andere kamen mit
Rollator oder Gehhilfen. Alle schienen alt zu sein, die meisten von ihnen sehr
alt. Wie Schatten an der Wand glitten sie durch die Straße.
„Wann
wird es geschehen Hans?“
„Keine
Ahnung. Aber es wird geschehen.“
„Und
sie wissen nichts?“
„Nein,
sie sind ahnungslos. Es liegt ja auch fern ihrer Phantasie und Vorstellungskraft.
So wie wir jenseits ihres Lebens sind, nicht mehr als Ausflugseinfälle und
lästige Pflichtübungen.“
„Aber
es wird sich ändern?“
„Ändern,
weiß ich nicht. Aber eine Änderung wird es geben, sicher. Ohne unsere Enkel
werden sie sich etwas einfallen lassen müssen.“
Anna
lachte leise. „Die Gesichter würde ich gerne sehen: keine Kinder mehr, alle weg
und sie stehen da in ihrem sinnlosen Heute, in ihrer gehetzten Umtuerei und
kapieren nichts.“
„Ohne
Ende kein Anfang, so ist das.“
Er
nahm den Rest ihrer Zigarette und seine und drückte sie in den überfüllten
Standaschenbecher neben der Tür langsam und zielstrebig aus, als wären es ihre
Söhne und Töchter.
„Dann
lass uns mal, uns Besuchsruinen zu den anderen Besuchsruinen hinein gehen.“
Und
schon verschwanden sie mit den anderen Besuchern hinter der Tür.
Den
Clown auf der anderen Straßenseite, immer noch geschminkt und in seinem Kostüm,
sahen sie nicht mehr. Der stand dort, am Laternenpfahl angelehnt, rauchte eine
dicke Zigarre, die wie eine zweite lange Nase in seinem Gesicht aussah und
schüttelte den Kopf.
„Alle
bekloppt, diese Alten. Was die da nur veranstalten und vorhaben? Holen sie sich
da Hinweise und Tipps, wie sie ihre Kinder um ihr Erbe bringen können?“
Er
wusste, dass es drinnen eine Kontrolle gab und offensichtlich nur alte Menschen
hinein gelassen wurden. Warum und wozu auch immer.
Er
war dicht dran, ging es doch tatsächlich um das Erbe. Aber nicht das in Geld-
und Vermögen, viel größer war das Erbe und es ging ihnen um Verteidigung, nicht
um Raub. Und er würde nicht betroffen sein, hatte keine Kinder und die Eltern
lagen lange schon auf dem Friedhof.
Der
Clown nuckelte an seiner Zigarre und ging weiter. Zu gerne würde er einmal in
so einer großen Halle auftreten. Das war sein Traum.
In
der Halle wurde es gerade ganz still. Hans Knork erhob sich vom Podium und
trat, sich an den Tischen abstützend, ruhig und bedächtig an das Rednerpult.
Monate
später begriff der Clown und mit ihm eine große Schar auf dieser Welt. Er stand
bei ALDI vor dem Zeitungsregal und traute seinen Augen nicht.
„Millionen
Kinder entführt von ihren Großeltern.“ stand da und „Über lange Zeit
vorbereitet haben die alten Leute alle Inseln aufgekauft vor der Nordseeküste
und Schweden, dazu etliche Täler in den Alpen. Jetzt hocken sie dort mit ihren Enkelkindern,
toben mit ihnen herum und lassen nur ausgewählte Journalisten in ihr
„Zeitreich“, wie sie es nennen.“
Er
las den Artikel vor Ort, ließ sich auch durch einige Anstupser von drängelnden
Kunden nicht stören. So erfuhr er, dass das Militär und die Polizei
Schwierigkeiten hätten, da auch von ihren Leuten Kinder dabei waren, wie auch
von ranghohen Politikern, Wirtschaftsvertretern, Juristen und Sportlern. Das
lähmte offensichtlich die Energie und den Mut für Befreiungsaktionen. Zwar
kurvten Kriegsschiffe vor den Inseln herum, flogen Kampfhubschrauber über die
Täler, waren Truppen in die Nähe verlegt worden und auch die Polizei bewegte
sich massiv um die „Zeitreiche“ herum.
Es
gab keine Forderung der Alten, nur die Aussage, nach einem Jahr könnten alle
Eltern ihre Kinder wieder haben, dafür kämen dann neue Kinder zu den Alten. Und
so würden sie es künftig mit den Generationen halten.
Der
Clown fing an zu lachen, lachte wie lange nicht mehr, lachte bis ihn zwei
Verkäufer aus ALDI entfernten und draußen sanft auf einen Fahrradständer neben
den Verkaufswagen platzierten. Lachte auch dort weiter und hörte erst auf, als
er davon zu starke Kopfschmerzen bekam.
Ein
Bild aber sollte er sein Leben lang nicht vergessen, dass von Hans Knork auf
der Titelseite der Bild-Zeitung, wie der, in einem Rollstuhl sitzend, beide Arme
wie zum Gruß fröhlich lachend nach oben reckte, auf seinen Schultern ein
kleines Mädchen, wahrscheinlich seine Enkelin.
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