Dienstag, 24. September 2013

Ein Mann im Raum


Meine Mutter mochte Männer, besonders wenn sie gut rochen. Und der roch gut. Zumindest meinte sie das. Ich fand der stank, nach Rasierwasser oder Eau de Cologne oder wie das Zeug hieß. Ich brauchte so etwas damals noch nicht. Der Bartwuchs hatte noch nicht eingesetzt bei mir.
Aber der Mann blieb. Er zog ins Souterrain, in das Zimmer zur Straße in dem vor der Scheidung meiner Eltern unsere hässlich graue Küche war. Hier kam kaum Licht durch das nur halbhohe Fenster, gestört noch durch die Blätter der Blumen im Vorgarten und den Lattenzaun.
War ich schon vorher nur ungern nach dort unten gegangen, war doch auch der Flur mit einer merkwürdig grau porösen Farbe gestrichen und alles stets feucht, muffig und mit dem schwächsten Licht, das eine dicke Butzenscheibe der Tür zum Garten hin zu geben vermag.
Leider war da noch unser Bad mit Wanne und Waschbecken, dazu der große Wasserbeuler, dessen Emaille wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, das alles ganz ohne Fenster, so dass meine Mutter die Tür aufließ für den Dampf, wenn sie mich dort in der Wanne wusch. Habe ich das gehasst.
Und jetzt auch noch dieser Mann. Mit der Zeit roch es immer stärker aus seinem Zimmer, auch zog er nie mehr den guten Anzug vom Tag seiner Vorstellung in unserem Wohnzimmer an. Meiner Mutter fiel das erst nicht weiter auf, da sie sich zwar für Männer jedes Mal beim Kennenlernen sehr interessierte, aber rasch selbiges Interesse verlor, wenn bei dem für sie nichts zu holen war, menschlich und finanziell.
Mit der Zeit aber stank es regelrecht im Souterrain und man hörte den Mann auch am Tag laut schnarchen, ab und zu fluchen, etwas umstoßen, oder er stolperte über etwas.
Schließlich rümpfte auch meine Mutter die Nase und stellte kurz und böse fest: „Der säuft!“
Aber er zahlte Miete und das konnten wir nach der Scheidung gut gebrauchen, zahlten wir mit dem Unterhaltsgeld von meinem Vater doch noch einen Kredit aus der Ehe und deren Träumen ab.
Dann aber zahlte der Mann nicht mehr. Es blieb meiner Mutter nichts anderes übrig, als bei ihm zu klopfen. Ich musste mit ihr gehen. Sie bräuchte dabei einen Mann. Was mich natürlich stolz machte, andererseits hatte ich dadurch noch mehr Angst. Was mochte der Kerl mit uns anstellen?
Der Kerl machte gar nichts. Er war schon auf und davon. Meine Mutter bat mich vorsichtig beim Bahnhof nach ihm Ausschau zu halten, da wüsste sie, dass die Schluckspechte, so nannte sie die Alkoholiker, sich häufig aufhielten auch fänden sie Platz zum Schlafen in dem unterirdischen Kriegsbunker davor.
Also fuhr ich mit der Linie Drei durch die Stadt über die Brücke zum Bahnhof. Natürlich sah und roch ich zwar jede Menge Gestalten wie ihn, aber ihn selber nicht, worüber ich, ehrlich gesagt, eher beruhigt war als unzufrieden, wenn ich auch gerne als Held zu meiner Mutter zurückgekommen wäre, zusammen mit dem Mann.
Da der sich nach vier Wochen immer noch nicht wieder blicken ließ, rief sie ihren damaligen Freund an, einen junger Elektriker, Sohn einer entfernten Cousine, damit der mit uns die Wohnung aufbrach. Da war ich ihr als Held allein nicht gut genug, was mich etwas wurmte. Hätte ich den Kerl doch bloß doch am Bahnhof aufgegabelt und zurück gebracht. Dabei war mir schon klar, dass mir dafür noch sämtliche Kräfte und Fähigkeiten fehlten.
Ihr Freund brach die Tür auf und aus brach der Gestank. Der Mann lag unterhalb seines Waschbeckens, zwischen seinem fettigen dunklen Kopfhaar sahen wir trockenes Blut und Fliegen dran kleben.
Mir wurde schlecht und ich durfte auch sofort erst das Badezimmer aufsuchen und dann ins Wohnzimmer, sogar den Fernseher anstellen obwohl es noch nicht Abend war.
Später kamen Freund und Mutter hoch, beide mit wenig Farbe im Gesicht und sehr leise sich unterhaltend. Kurz darauf erschien die Polizei mit Leichenwagen.
Ich bekam von dem Rest der Vorgänge nicht mehr viel mit, da ich längst gefangen war von „Cartouche der Bandit“, den zeigten sie jeden Nachmittag an diesen Samstagen als Test für die Einführung des Farbfernsehens. Ich sah ihn in schwarz-weiß, was mir aber ziemlich egal war. Belmondo war mein Mann, mein Held!
Eine Woche danach aber musste ich doch wieder mit runter. Sie wollte, dass ich ihr beim Ausräumen und Saubermachen helfe. Es war, kurz gesagt, widerlich  Alles klebte vom Schmutz und stank. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so geekelt. Und es dauerte mir schier eine Ewigkeit bis wir endlich seine Habe in seiner dreckigen Bettwäsche verstaut hatten und diese nach draußen auf die Treppe dort stellen konnten. Hinweise auf Verwandte oder Freunde fanden wir nicht, suchten aber auch nicht wirklich danach. So brauchten wir niemanden informieren. "Wer weiß, was uns da noch ins Haus geschneit gekommen wäre," hatte meine Mutter dazu bemerkt. Das Wort Einsamkeit kannte ich noch nicht wirklich. Ich hätte es aber riechen können damals.
Dann bestellte meine Mutter einen Maler, aber trotz der chemisch kräftigen Ausdünstungen der frischen Farbe meinte ich den Gestank von Tod, Alkohol und Dreck weiter riechen zu müssen.
Mitleid mit dem Toten? Auf die Idee kamen wir beide nicht. Im Gegenteil.
Was aber viel schlimmer noch war, seit dem Tag wusste ich, das das Leben gewaltig schief gehen kann und so verlor ich mit diesem Mann das Gefühl von Sicherheit für mein Leben, oft noch träumte ich von ihm, dem Geruch, dem Aussehen seines Zimmers. Etwas krallte sich in meine Brust und ließ mich lange nicht los.
So lebte er in mir weiter auf mehr als unangenehme Art.
Gesprochen haben meine Mutter und ich so gut wie gar nicht darüber, nur einmal kurz nach dem Polizei und Leiche aus dem Haus waren.
Sie sagte nur: „Dass Ihr Männer solche Schweine werden könnt, das verstehe ich nicht!“
Und da war es, dass dieser kleine giftige Schmerz mich packte und nicht mehr losließ. Auf keinen Fall wollte ich so ein Schwein werden, auch wenn ich ein Mann war, beziehungsweise wurde.
Jedenfalls, das Zimmer war nicht mehr zu vermieten. Mutter räumte an dessen Stelle den Raum mit Blick zum Garten, worin bis dahin unsere Gerätschaften standen.
Dort zog dann eine Köchin ein, dick, freundlich, immer zu Scherzen aufgelegt, obwohl alle ihre Kinder im Heim waren und sie von allen deren Vätern längst getrennt.
Ihr Zimmer geriet freundlich und bekam auch Licht, es hat wenn überhaupt dann mal nach Frau gerochen und einmal, da war die älteste Tochter zu Besuch, lag ich mit der im Bett der Köchin, uns nackt an zu schauen und zu streicheln. Das versöhnte mich mit „da unten“, ist aber schon eine ganz andere Geschichte, wenn auch genau so kurz.
Heute denke ich: „Möge er in Frieden ruhen.“
Wer weiß was ihn zerbrochen hat und ob wir ihm nicht hätten helfen können. Wahrscheinlich nicht und trotzdem bleibt mir ein kleines schlechtes Gewissen wenn ich an den entsetzlichen Raum heute denke, den wir ihm zugemutet haben. Seit seinem Tod weiß ich, seit damals, dass ich in solch einem Raum auch nicht überlebt hätte oder es heute überleben könnte.
Nie wieder bekam ich solch große Einsamkeit in meine Nase.

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