Sonntag, 20. Oktober 2013

Alles nichts oder Alles alles



Heidi kannte die beiden Stammgäste in ihrem Scene-Lokal „Litfaß“ bestimmt schon seit zwanzig Jahren, gefühlt seit einer Ewigkeit. Beide verteidigten ihre Stammplätze an der Theke seit eben so langer Zeit durch dafür notwendiges frühes Erscheinen und nie gingen sie zusammen aufs Klo. Rauchen taten sie schon länger nicht, so dass sie weder in Heidis gemütlichen Raucherraum oben, noch vor die Türe gehen mussten. Dreimal in der Woche kamen sie. Auch dies seit Jahren.
Sie wusste dass Günter, der stets links sitzende, verheiratet war wie sein Kumpel Hans-Georg neben ihm aber im Gegensatz zu dem drei Kinder stattdessen zwei hatte. Günter war in der Stadt bekannt als erfolgreicher Web-Designer und Werbeprofi, sein Kumpel war Geologe und reiste für eine nach mehreren Übernahmen und Krisen mittlerweile französische Firma in der Welt herum auf der Suche nach fossilen Brennstoffen. Diese Abwesenheiten führten zu einsamen Sitzungen von Günter an der Theke. Er blieb dann nicht so lange.
Meist war es Günter der sprach. So auch an diesem Abend.
„Weißt Du, eigentlich ist ja alles nichts, fast nichts.“
„Ja!“
„Rein gar nichts, weißt Du. Andererseits ist aber auch Alles alles, fast alles, jedenfalls mehr als nichts.“
„Ja!“
„Wie in dem Moment beim Aufwachen nach einem Traum, weißt Du, irgendwie war gerade noch alles real, was im Traum war, dann aber ist das alles plötzlich genau so nichts und der Tag wird real, es sei denn Du wachst in der Nacht auf. Dann ist plötzlich nur noch diese scheiß Nacht real.“
„Ja!“
„Der Traum ist einerseits nur noch nichts. Aber im Traum ist alles genau so real und auf jeden Fall viel mehr als nichts. Weißt Du. Und vom Nichts, also vom Traum, geht nichts rüber und vom Tag alles, in den Traum geht alles. Rein, meine ich, weißt Du, alles, obwohl nichts davon bleibt. So wird Alles zum Nichts und das Nichts wird Alles. “
„Ja, trinken wir noch‘n Bier?“
„Ja. Das ist mehr als nichts.“
„Auf jeden …!“
In dem Moment rutschte Hans-Georg, als er sich am rechten Bein kratzen wollte, unglücklich vom Hocker und konnte sich im Fallen gerade noch rechtzeitig mit der rechten Hand auffangen.
Günter half ihm hoch.
„Ist was?“
„Nee, nichts. Es ist nichts.“
„Wie kam’s?“
„Einfach so. Irgendwie. Prost aufn Schost!“
„Jupp, Prost aufn Schost!“
Diesen Trinkspruch hatten sie vor Jahren für sich selbst kreiert, als sie noch Cognac dazu tranken und dabei vom Aufstieg träumten.
„Aber das hier eben war was, oder?“
„Nee, war nichts. Bin abgerutscht. Die Hocker sind auch zu glatt. Wahrscheinlich gebohnert.“
„Ja, es wird überhaupt zu viel gebohnert heut zu Tage.“
„Ja!“ Erst lachte Hans-Georg und dann auch Günter.
„Habt ihr einen guten Witz?“ Heidi war neugierig geworden. Lachen taten die beiden selten.
„Nee, nichts, nur so.“
„Ja, nur so, nichts, kein Witz.“
„Ach so, und warum lacht Ihr beiden?“
„Nur so. Warum nicht?“
„Ja, warum auch nicht.“
„Auf jeden ist oft alles alles und leider nichts nichts. Dazwischen hängen wir rum wie blöd, als wären auch wir mehr nichts als alles. Geht Dir doch auch so.“
 „Ja!“
Heidi sah ein, dass da nichts zu holen war und wendete sich wieder ihren anderen Gästen zu.
„Letzte Runde?“
„Letzte Runde!“
„Und bei Dir?“
„Ja, wie immer halt, nichts.“
„Du sagst es.“
Wenig später zahlten und gingen sie. Vor der Tür sahen beide in den schmalen Streifen Himmel hoch, den die Straßenschlucht ihren Blicken frei gab.
„Das da ist wirklich alles“
„Ja, absolut.“
„Und doch das große Nichts in dem alles verschwindet.“
„Ja, schwarze Löcher warten da auf uns.“
„Ja, bis dahin, Tschüss!“
„Tschüss“
Sie wohnten in entgegengesetzter Richtung und so trennten sie sich, während der Mond vorsichtig hinter einer Wolke hervorkam, als hätte er auf das Verschwinden der beiden gewartet.

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