Donnerstag, 23. Januar 2014

verhexter Winterzauber



Es war nicht der Winter, es war der Frühling der ihr Kummer bereitete. Aber noch war ja Dezember, bestand die Hoffnung auf Schnee und Winterspaß in ihren Bergen zusammen mit Thomas, ihrem diesjährigen Favoriten auf ein Leben zu zweit bis das der Tod sie scheidet, der Tod und nur der Tod.
Im Winter hatte sie sich noch nie getrennt. Im Winter war stets die Zukunft voller Geigen, schon als Kind. Trennungen folgten im Frühjahr, pünktlich mit der Schneeschmelze, obwohl das eine nie etwas mit dem anderen zu tun hatte. Zu tun hatte es mit dem Beisammensein in der alten Hütte der Familie hoch oben in den Bergen.
Und es hatte damit zu tun, dass sie es nicht glauben mochte, sich nicht vorstellen konnte und wollte, dass alle so waren, alle es tun würden. Aber dieses Jahr war etwas anders. Alle waren an der Reihe gewesen, hatten sich bedient. Nun blieb keiner mehr für den beschissenen Frühling.
Rita kaufte also Geschenke ein, für ihn viel, groß, teuer, dann noch ein paar kleine, preiswert nicht billig, darauf achtete sie stets. Letztere waren für die Eltern, den Bruder und die drei Schwestern. Alle vier Geschwister und die Mutter sollten dieses Jahr etwas anderes, ganz besonderes bekommen und dazu noch äußerst preiswert. Preiswert für die Schenkende und wirkungsvoll für Beschenkten.
Um 9 Uhr holte sie Thomas von seiner Wohnung in München ab und fuhr mit ihm froh plaudernd bis zur Abfahrt nach Kufstein / Oberaudorf. Dort bog sie von der Autobahn ab und erzählte ihm, während sie mit dem Wagen durch die Dörfer und Hügel auf und niedertauchte, was sich in den Jahren zuvor auf der Hütte zugetragen hatte.
Thomas, ein, wie er sich selbst gern nannte, Selfmademan der Event-Emotion-Scene, hörte ihr überwiegend stumm zu, nickte oder schüttelte den Kopf, mal hin und her zu beiden Seiten, dann wieder von oben nach unten und zurück.
Er trug nicht wenig eitel die Bräune des Sonnenstudios um die Ecke in seinem Gesicht spazieren und genoss die Vorstellung der munter plaudernden Fahrerin schon in der Heiligen Nacht den Rest der monatlichen Bräunungserfolge auf seinem Fitness-Studio-Körper präsentieren zu können. Seine mittlerweile 43 Jahre Leben wären so kaum zu entdecken, dachte er, allenfalls deren 30 Jahre.
Für die Fahrt zu ihrer Hütte hatte er sich für ein Edel-T-Shirt und einen Designeranzug in modern-schwarz entschieden. Falls es kälter werden sollte, lagen entsprechend passende Pullover in seinem Koffer hinten im Kofferraum ihres Wagens für ihn bereit. Insofern konnte nichts schief gehen bei diesem Ausflug, hatte er doch auch noch ein angenehm funkelndes Schmuckstück für sie als Geschenk in einen kleinen Karton, den wiederum in allerlei weitere, jeweils größere Kartons verpackt, dazu einen Flugschein für die Dominikanische Republik.
Was sie mit ihrer für ihn äußerst angenehmen Sing-Sang-Stimme erzählte klang traurig, schien ihm aber zu ihr zu passen.
Sie war in seinen Augen ein äußerst attraktives Karriereweib, schlank, fit, goldbraun belockt auf den Kopf mit kräftigen und genau richtig matt glänzenden Haaren. Ihre Proportionen schienen ihm wie von einem Künstler modelliert und ihre Art zu gehen, das Steuer zu bedienen, den Kopf zu halten, erinnerte ihn an faszinierende Hollywoodszenen.
Sie war jedes Mal im Frühling verlassen worden. Umso besser. Der Frühling war noch weit und er hätte ohne dieses für ihn nicht nachvollziehbare Fehlverhalten seiner Vorgänger heute nicht ihr Lover sein können. Also gut für ihn.
Es hätte immer bereits in der Hütte angefangen. Nun ja. Was interessierte ihn das. Warum auch immer. Er konnte darin keinen Sinn erkennen. War sie doch nur mit ihrer Familie dort gewesen. Was konnte diese Idioten vor ihm da schon auf fremdgängerische Gedanken gebracht haben können.
Viel mehr Sorgen bereitete ihm ihr Fahrstil. Sie schien weder Geschwindigkeitsbeschränkungen noch zu enge Straßenschluchten zu kennen oder zu fürchten.
Sie fuhr so rasant, so aggressiv, dass er sich nicht traute seine Hand auf ihren Arm zu legen oder sie mündlich zu vorsichtigerem Fahren zu ermutigen. Letzteres schien ihm auch wenig geeignet seiner Rolle hier Pluspunkte zu verschaffen.
Umso erleichterter war er, als sie hinter Oberaudorf endlich oben auf einer Alm das Fahrzeug unbeschädigt anhielt und leise, fast flüsternd sagte:
„Wir sind da, Liebling.“
Er sah vor sich eine Bilderbuchhütte und ihn freundlich anlächelnd eine Horrorgruppe in schrillfarbenen Klamotten, zum Teil auf Gehhilfen gestützt, zum Teil mit rotleuchtenden Narben in den Gesichtern unter wilden Haarfrisuren.
„Na, wen bringst Du uns dieses Mal?“ Das fragte der dem äußeren nach älteste der Gruppe, wohl der Vater.
Der Gebrachte sah zu seiner rasanten Fahrererin. Die grinste nur und stellte ihn mit knappen Worten vor.
Der ältere Mann, als einziger ohne sichtbare Blessuren, kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Herzlich willkommen bei den Raunachts.“
Man begab sich, einander munter vorstellend, zusammen mit dem Gepäck in die Hütte.
Bald schon wurde es jahreszeitgemäß dunkel auf der Alm und den Bergen und ein scharfer Wind begann an den Holzschindeln auf dem Dach zu zerren. Die ersten Schneeflocken wirbelten umher und verklebten die Fenster.
Im Kamin verwandelte sich der Wind in ein seufzendes Orchester mit immer wieder überaschenden Tönen.
Trotzdem überredete die Familie ihn, mit nach draußen zu kommen, sich dort das Schauspiel an zu sehen. Sie hakten ihn unter und zeigten ihm die Kaiser, den wilden und den zahmen. Das eigentliche Ziel seiner Fahrt hierher blieb in der Hütte um sich frisch zu machen. Sie hatte keine Angst um ihn. Noch nicht. Noch war es ja nur der Abend, nicht die Nacht.
Schritt für Schritt wurde er von der Hütte fortgezogen zum Waldrand. Dort versammelten sie sich um ihn und wollten wissen, was ihre Tochter erzählt hätte über ihre Familie. Er wurde verlegen, dann aber einer Antwort enthoben indem sie ihm genau das sagten, was er auch schon auf der Fahrt zu hören bekommen hatte. Nur mit einem Unterschied: sie bestanden darauf, dass kein Wort davon wahr wäre, im Gegenteil das Ungeheuerliche stets von ihr, der Tochter und Schwester ausgegangen wäre.
Ihm wurde trotz seiner High-Teck-Ummantelung kalt, aber nicht mehr nur von Wind und Schneetreiben.
Der Reihe nach schilderten ihm alle, wie sie zu ihren Blessuren gekommen waren. Jedes Jahr Weihnachten hätte ihre Schwester und Tochter rasend vor Eifersucht einen von ihnen überfallen, angegriffen oder anders verletzt. Dabei wären ihre Typen alle von alleine davon geeilt, als sie erfahren hatten, dass sie mit der Tatzelwurmin zusammen gekommen waren. Keiner aber wäre ihr entkommen, alle habe sie im Wald verschlungen.
Als moderner, nüchterner und geldgieriger Mann kam ihm das alles dann doch absurd vor. Auch, dass diese Truppe hier ihm glauben zu machen versuchte, ihr Familienmitglied wolle diesmal alle vergiften, um für immer vor ihnen ihre Ruhe zu haben und ungestört Männer hierher zu bringen.
„Tatzelwurmin! Was soll das sein?“
Er hatte es kaum ausgesprochen, da kam seine Fahrerin und erotische Sehnsucht für die Nacht den Hang hochgeschossen und erhob sich über ihm in die Lüfte, nicht ohne ihre plötzlich erscheinenden Klauen in ihn hinein zu krallen und ihn so vom Waldboden zu entfernen.
Im gleichen Moment knallte es und er landete wieder auf dem Boden, bedeckt nun mit einem Vogeldrachen, einem fliegenden Dinosauerier nicht unähnlich.
„Die Tatzelwurmin!“
Man befreite ihn, untersuchte ihn auf eventuelle Schäden und führte ihn zurück zur Hütte.
Der Vater fragte ihn: „Raunächte, kennen sie wohl nicht?“
„Ja, jetzt, sie, sie sind die Raunachts.“
„Nein, die Raunächte. Wer sich da draußen rum treibt kommt selten ohne Schock oder auch gar nicht zurück.“
Nach ein paar stark alkoholischen Getränken war er froh, sich endlich schlafen legen zu können.
Am nächsten Morgen weckten ihn die durch den Neuschnee verstärkten Sonnenstrahlen. Vor ihm saß seine Begleiterin und reichte ihm einen Espresso.
„Was war los mit Dir gestern? Du bist plötzlich umgefallen und warst nicht mehr wach zu kriegen.“
„Umgefallen? Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, wie Deine komische Familie, entschuldige bitte, mich zum Wald entführt hat und allerlei Abstruses von sich gab bis Du gekommen bist, Dich in einen Flugsaurier verwandelt hast oder so etwas ähnliches und abgeschossen wurdest.“
„Träumst Du öfter so wild, davon habe ich ja noch gar nichts bemerkt.“
„Geträumt? Umso besser. Und wo ist Deine Sippe heute Morgen?“
„Weg! Endgültig. Wir haben die Hütte nur für uns.“
„Wieso weg?“
„Sie haben ihr Geschenk schon erhalten und das reichte ihnen.“
„Und wo sind sie hin?“
„Weg. Kann Dir doch egal sein.“
Sie lächelte ihn an und verließ den Raum. Die Gelegenheit nutzte er, um seinen Körper auf eventuelle Spuren zu untersuchen. Tatsächlich fand er kleine Verletzungen an den Stellen, an denen ihre Krallen ihn gepackt hatten.
Sofort verfiel er in Panik, suchte seine Sachen und rannte aus der Hütte. Irgendwo da unten war das Tal mit seinem Dorf. Dorthin müsste er es doch schaffen können. Im Wald hörte er über sich ein verdächtiges Rauschen. Vor sich hörte er einen alten Traktor und rannte auf ihn zu. Der Landwirt nahm ihn tatsächlich mit und das Rauschen über ihm verstummte. In Oberaudorf suchte er gleich die Polizei auf, um ihnen zu berichten. Die zeigten sich nicht verwundert. Korrigierten nur, „es heißt der Tatzelwurm, ein er, keine sie!“. Fragten ein wenig hin und her und meinten dann:
„Typisch Raunächte. Da geschieht das schon mal. Immerhin sind sie heil runter gekommen. In den letzten Jahren sind viele junge Männer dort oben geblieben.“
„Dort oben geblieben?“
„Ja, verschwunden halt. Auf nimmer Wiedersehen.“
Ob die Polizei ihn begleiten könne, seine Sachen dort zu holen und nach zu sehen, was mit der Familie geschehen sei?
Sie nahmen ihn im Fahrzeug mit, fuhren hinauf, suchten lange, aber fanden die Hütte nicht. Gegen Abend gaben sie auf. Er nahm den nächsten Zug nach Hause und beschloss nie wieder in die Berge zu fahren, schon gar nicht zu Zeiten der Raunächte.
Erleichtert betrat er nach vielen Stunden Fahrt seine Wohnung, sah dann aber mit Entsetzen einen großen, schwarzen Vogel, der tot auf seinem Balkon lag. Er sah in etwa so aus wie die Tatzelwurmin in der Nacht bei der Hütte. Er beschloss dieses Tier auf keinen Fall an zu rühren sondern am nächsten Morgen einen Studenten beim Arbeitsamt zu bestellen, für den Abtransport.
Dieser Sorge wurde er jedoch enthoben, denn am nächsten Morgen war der Vogel fort bis auf eine weiß ein gesprenkelte Feder. Als er diese aufhob ertönte über ihm ein fürchterliches Krächzen. Er warf sie hastig über die Brüstung des Balkons, von wo sie langsam nach oben davon segelte im Morgenwind. Da hörte das Gekrächze auf.
Er packte seine Tasche aus, froh ihre Geschenke nicht mit eingepackt zu haben. Aber sie waren in der Tasche. Er konnte es nicht fassen. Alles war da. Und ein Bild von ihr. Das sah aus, als wäre eine dicke Träne darauf gefallen.


*Tatzelwurm, Sagengestalt in Oberaudorf, sucht junge Mädchen und Raunächte werden die Nächte zwischen Heiligabend und Heilige-Drei-Könige genannt. In diesen Nächten sollen die Geisterreiche offen sein, die „Wilde Jagd“ über die Berge ziehen und die Seelen Verstorbener Ausgang haben. 

(c) bild + text jörn laue-weltring lingen 2014

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