Mittwoch, 15. Mai 2013

Abschied von der Straße



Als wir das erste Mal die Straße hinuntergingen hatte sie noch kein Licht, das heißt keine Straßenlaternen und nur wenig Glühbirnen beleuchteten innen den Abendbrottisch.

Auch waren ihre Reihen noch nicht geschlossen, wie das Gebiss eines Kindes, das die zweiten Zähne bekommt.

Und wie bei dem Kind fiel es uns kaum auf, wie die Lücken geschlossen wurden. Dann kam der Krieg und es wurde wieder dunkel, verdunkelt. Obwohl im Hafenbereich, fielen nur wenige Bomben hier auf die Häuser. Dafür umso mehr Brandbomben auf dem Kopfsteinpflaster und darin verbrannten Menschen, Nachbarn, Kollegen und Freunde. Wir trauerten zusammen, halfen uns, wo es ging, auch mit Licht.

Als wir endlich Frieden hatten und die Werften wieder aufbauen konnten, kam auch wieder Licht in die Straße. Nicht nur die Laternen brannten bis in die Nacht.

Alles wurde freundlicher, heller und neue Farben kamen an. Durch die Vorgärten, Zäune, Gardinen, Jalousien und Häuserwände, vor allem aber durch die Autos, die bald schon vor jedem Gartenzaun standen.

Über den Eingangstüren brannten Lichter und später, besonders im Advent, jede Menge Weihnachtsbeleuchtung. Hier wurde geliebt, gelebt, geboren und was unsere Generation anging, auch gestorben.

Als wir jetzt das letztemal die Straße hinuntergingen, da brannte kaum noch ein Licht und manche Häuser sahen aus, als wollten sie sich mit der Dunkelheit verkriechen. Wir waren die letzten der Alten, wie wir schon länger nur noch genannt wurden. Die Alten!

Und jetzt war auch das vorbei, die Jungen, wie wir sie nannten, waren längst in die Vororte und Dörfer der Umgebung geflüchtet. Die Werften, Lagerhäuser und Kaianlagen waren beschäftigungslos, wurden in phantasievollen Hochglanzbroschüren als Investitionsobjekte angeboten.

Dort wie hier waren die Lichter lange schon ausgegangen. Unsere Trauer sah und interessierte niemand mehr. Auch nicht das Schicksal von unseren Straßen, dies langgestreckte Stück Heimat mit ihrer intensiv gepflegten Nachbarschaft. Jetzt hieß das „Parkbuchten“, „Zufahrt“, „Nebenstraße“ und die in den einzeln stehenden Häusern der von hier Geflüchteten kannten sich so wenig wie ihre Vorgänger in den Hochhäusern der Neuen Heimat an der Autobahn.

Jetzt erinnerte die Straße uns an unser eigenes altes Gebiss. Zu oft repariert und gefüllt, der Beseitigung näher als einer neuen Füllung. Und so ließen wir unsere Straße hinter uns, Schritt für Schritt mehr in der Dunkelheit des Vergessens zurück.

Keine Kommentare: