Sonntag, 9. Juni 2013

Kopierte Wahrheit



„Im Buch liegt die Wahrheit für Euch bereit“, betonte der alte Hans Wehrmann, ihr Klassenlehrer, mit ernster Stimme, meinte aber nicht die Bibel sondern ihre Schulbücher, die sie gerade vorzuzeigen hatten. Einige Kinder legten verschämt gebrauchte Exemplare mit Eselohren und vielen Spuren der Benutzung durch ihre Vorgänger vor ihm auf den Tisch, andere präsentierten stolz ihre neuen, frisch in der Buchhandlung gekauften Exemplare.
Der Lehrer ließ sie einzeln vortreten zum Pult und kontrollierte, ob die Bücher dem gewünschten Stand und Auflage Jahr entsprächen.
Der „wilde Thomas“, Sohn vom Molkereimeister Armsen, meldete sich. Der Lehrer ignorierte ihn erst, nahm ihn aber dann doch dran, in der Hoffnung, der Junge wolle nur auf die Toilette.
„Ja, was ist denn Armsen?“
„Herr Wehrmann. Sie kontrollieren doch jetzt, ob unsere Bücher auch aktuell sind?“
„Ja. Das siehst Du doch.“
„Heißt das, dass die Wahrheit in den Büchern veraltet?“
Hans Wehrmann sah seinen Schüler nachdenklich an.
„Ja, Wahrheit kann veralten. Beziehungsweise überholt sein. Durch neue Erkenntnisse.“
„Dann ist die Wahrheit, Herr Wehrmann, also immer nur in den neuesten Büchern enthalten?“
Der Lehrer sah sich seinen Schüler genauer an, der nicht zufällig nur der „wilde Thomas“ genannt wurde. Was führte der Bengel im Schilde?
„Ja! Das heißt auch nein! Denkt an Goethe oder Schiller, die veralten natürlich nicht, eher umgekehrt. Sie werden immer wieder neu aktuell und helfen uns auch morgen der Wahrheit näher zu kommen.“
Er spürte wie jetzt alle Kinder neugierig ihn ansahen und gespannt zuhörten.
„Das heißt sie kontrollieren, ob unsere Bücher noch der Wahrheit entsprechen?“
„So könnte man es auch sehen, Armsen, richtig.“
„Und unsere Eltern müssen deswegen das Geld ausgeben, ein „Schweinegeld“ wie mein Vater sagt, damit wir die richtige Wahrheit finden können?“
Hans Wehrmann hatte genug, die Unterrichtsstunde verging viel zu schnell und er musste noch die Bücher der halben Klasse nach sehen. Deswegen sagte er jetzt nichts, nickte nur.
„Und warum, Herr Wehrmann, geben Sie uns dann nur schlechte Kopien, will mein Vater wissen, und warum sollen wir aus denen lernen und benutzen die Bücher so wenig?“
Darauf also lief es hinaus. Wehrmann sah die Kinder feixen. Seine ganze 6. Klasse feixte und strahlte, sah teils bewundernd, teils nur vergnügt zum „wilden Thomas“ hin.
„Wenn es Deinen Vater so interessiert, soll er das beim nächsten Elternabend ansprechen. Sag‘ ihm das, Armsen.“
„Uns interessiert es aber auch, Herr Wehrmann! Warum gehen Sie nicht nach den Büchern vor, wenn doch die Bücher die Wahrheit enthalten, die wir lernen sollen?“
„Ja, weil es eben auch andere Bücher und Texte gibt, die zum Teil noch besser sind!“
„Und warum kaufen wir dann diese Bücher und die anderen nicht?“
Es kam kein Klingelton, der Hans Wehrmann aus der Fragerei befreit hätte. Er verfluchte bereits innerlich seinen offensichtlich ungeschickten Versuch, den Kindern die wahre Bedeutung ihrer Bücher näher zu bringen.
„Weil sie vorgeschrieben werden, von den Politikern. Und die Kopien mache ich Euch, damit ihr es besser verstehen könnt.“
„Dann wäre es doch viel sinnvoller und billiger, wenn diese Bücher hier einmal als unsere Bibliothek der Wahrheit stehen und sie uns das, was wir davon benutzen sollen, als Kopien geben, wie die anderen auch! Sagt mein Vater!“
„So, so, sagt Dein Vater. Der Staat sagt aber etwas anderes und damit Schluss jetzt Thomas. Wir müssen fertig werden.“
Hans Wehrmann ärgerte sich über sich selbst. Natürlich hatte der Vater vom „wilden Thomas“ aus seiner Sicht recht. Aber wen interessierte das in diesem Land, wohin könnte er sich mit dieser Kritik wenden? Wie so oft in solchen Situationen zählte er im Stillen seine letzten Jahre bis zur Pensionierung.
Der „wilde Thomas“ gab aber noch nicht auf. „Kann ich meinem Vater sagen, dass wir die Bücher brauchen um die Wahrheit zu haben, die aktuelle und was wir davon lernen sollen, eben Kopien der Wahrheit sind, wenn auch schlecht kopiert, die besser zum Lernen sind als die Wahrheit in den Büchern?“
„Meinetwegen, aber lass doch mal das Wort Wahrheit weg! Das habe ich doch ganz anders gemeint. Was meinst Du eigentlich dauernd mit „schlechten Kopien“?“
„Na, die sind doch oft krumm und schief, sagt mein Vater und zum Teil kaum zu lesen.“
„Das liegt an unserem alten Kopierer.“
„Der kopiert krumm und schief? Und wieso sind die genauso krumm und schief, wie die, die unsere Geschwister in den Jahren zuvor erhalten haben?“
Jetzt lachten die Kinder, wussten sie doch alle, dass die Lehrer nicht aufpassten beim Kopieren und zu hastig waren, sie oft die Kopien aus den Vorjahren einfach weiter benutzten und deshalb diese unschönen Zettel aus dem Kopierer kamen. Hans Wehrmann sah ein, dass er diese Schlacht verloren hatte, egal, eine von vielen, darauf kam es auch nicht mehr an. Trotzdem achtete er bei den nächsten Kopien darauf und ließ alle alten Kopien verschwinden. Den Kindern fiel es nicht weiter auf, hatten sie doch längst mit anderen Problemen zu kämpfen.

(c) Karrikatur Anja Rieger 2007, Text Jörn Laue-Weltring 2013

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