„Im
Buch liegt die Wahrheit für Euch bereit“, betonte der alte Hans Wehrmann, ihr
Klassenlehrer, mit ernster Stimme, meinte aber nicht die Bibel sondern ihre
Schulbücher, die sie gerade vorzuzeigen hatten. Einige Kinder legten verschämt gebrauchte
Exemplare mit Eselohren und vielen Spuren der Benutzung durch ihre Vorgänger
vor ihm auf den Tisch, andere präsentierten stolz ihre neuen, frisch in der
Buchhandlung gekauften Exemplare.
Der
Lehrer ließ sie einzeln vortreten zum Pult und kontrollierte, ob die Bücher dem
gewünschten Stand und Auflage Jahr entsprächen.
Der
„wilde Thomas“, Sohn vom Molkereimeister Armsen, meldete sich. Der Lehrer
ignorierte ihn erst, nahm ihn aber dann doch dran, in der Hoffnung, der Junge
wolle nur auf die Toilette.
„Ja,
was ist denn Armsen?“
„Herr
Wehrmann. Sie kontrollieren doch jetzt, ob unsere Bücher auch aktuell sind?“
„Ja.
Das siehst Du doch.“
„Heißt
das, dass die Wahrheit in den Büchern veraltet?“
Hans
Wehrmann sah seinen Schüler nachdenklich an.
„Ja,
Wahrheit kann veralten. Beziehungsweise überholt sein. Durch neue
Erkenntnisse.“
„Dann
ist die Wahrheit, Herr Wehrmann, also immer nur in den neuesten Büchern
enthalten?“
Der
Lehrer sah sich seinen Schüler genauer an, der nicht zufällig nur der „wilde
Thomas“ genannt wurde. Was führte der Bengel im Schilde?
„Ja!
Das heißt auch nein! Denkt an Goethe oder Schiller, die veralten natürlich
nicht, eher umgekehrt. Sie werden immer wieder neu aktuell und helfen uns auch
morgen der Wahrheit näher zu kommen.“
Er
spürte wie jetzt alle Kinder neugierig ihn ansahen und gespannt zuhörten.
„Das
heißt sie kontrollieren, ob unsere Bücher noch der Wahrheit entsprechen?“
„So
könnte man es auch sehen, Armsen, richtig.“
„Und
unsere Eltern müssen deswegen das Geld ausgeben, ein „Schweinegeld“ wie mein
Vater sagt, damit wir die richtige Wahrheit finden können?“
Hans
Wehrmann hatte genug, die Unterrichtsstunde verging viel zu schnell und er
musste noch die Bücher der halben Klasse nach sehen. Deswegen sagte er jetzt
nichts, nickte nur.
„Und
warum, Herr Wehrmann, geben Sie uns dann nur schlechte Kopien, will mein Vater
wissen, und warum sollen wir aus denen lernen und benutzen die Bücher so
wenig?“
Darauf
also lief es hinaus. Wehrmann sah die Kinder feixen. Seine ganze 6. Klasse
feixte und strahlte, sah teils bewundernd, teils nur vergnügt zum „wilden
Thomas“ hin.
„Wenn
es Deinen Vater so interessiert, soll er das beim nächsten Elternabend
ansprechen. Sag‘ ihm das, Armsen.“
„Uns
interessiert es aber auch, Herr Wehrmann! Warum gehen Sie nicht nach den
Büchern vor, wenn doch die Bücher die Wahrheit enthalten, die wir lernen
sollen?“
„Ja,
weil es eben auch andere Bücher und Texte gibt, die zum Teil noch besser sind!“
„Und
warum kaufen wir dann diese Bücher und die anderen nicht?“
Es
kam kein Klingelton, der Hans Wehrmann aus der Fragerei befreit hätte. Er
verfluchte bereits innerlich seinen offensichtlich ungeschickten Versuch, den
Kindern die wahre Bedeutung ihrer Bücher näher zu bringen.
„Weil
sie vorgeschrieben werden, von den Politikern. Und die Kopien mache ich Euch,
damit ihr es besser verstehen könnt.“
„Dann
wäre es doch viel sinnvoller und billiger, wenn diese Bücher hier einmal als unsere
Bibliothek der Wahrheit stehen und sie uns das, was wir davon benutzen sollen,
als Kopien geben, wie die anderen auch! Sagt mein Vater!“
„So,
so, sagt Dein Vater. Der Staat sagt aber etwas anderes und damit Schluss jetzt
Thomas. Wir müssen fertig werden.“
Hans
Wehrmann ärgerte sich über sich selbst. Natürlich hatte der Vater vom „wilden
Thomas“ aus seiner Sicht recht. Aber wen interessierte das in diesem Land,
wohin könnte er sich mit dieser Kritik wenden? Wie so oft in solchen
Situationen zählte er im Stillen seine letzten Jahre bis zur Pensionierung.
Der
„wilde Thomas“ gab aber noch nicht auf. „Kann ich meinem Vater sagen, dass wir
die Bücher brauchen um die Wahrheit zu haben, die aktuelle und was wir davon
lernen sollen, eben Kopien der Wahrheit sind, wenn auch schlecht kopiert, die
besser zum Lernen sind als die Wahrheit in den Büchern?“
„Meinetwegen,
aber lass doch mal das Wort Wahrheit weg! Das habe ich doch ganz anders
gemeint. Was meinst Du eigentlich dauernd mit „schlechten Kopien“?“
„Na,
die sind doch oft krumm und schief, sagt mein Vater und zum Teil kaum zu
lesen.“
„Das
liegt an unserem alten Kopierer.“
„Der
kopiert krumm und schief? Und wieso sind die genauso krumm und schief, wie die,
die unsere Geschwister in den Jahren zuvor erhalten haben?“
Jetzt
lachten die Kinder, wussten sie doch alle, dass die Lehrer nicht aufpassten
beim Kopieren und zu hastig waren, sie oft die Kopien aus den Vorjahren einfach
weiter benutzten und deshalb diese unschönen Zettel aus dem Kopierer kamen.
Hans Wehrmann sah ein, dass er diese Schlacht verloren hatte, egal, eine von
vielen, darauf kam es auch nicht mehr an. Trotzdem achtete er bei den nächsten
Kopien darauf und ließ alle alten Kopien verschwinden. Den Kindern fiel es
nicht weiter auf, hatten sie doch längst mit anderen Problemen zu kämpfen.(c) Karrikatur Anja Rieger 2007, Text Jörn Laue-Weltring 2013
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