An-fahrt
Februar 2014
Rheine bis
Hannover
Kein
gleichmäßiges Rattern des Zuges mehr auf den Schienen, dafür schleifende
Singstimmen durchbrochen von Stößen ohne Gefühl für Rhythmus und Jamben.
…
Umsteigen.
Hannover:
…
Natürlich war
der Fahrstuhl auf dem Bahnsteig defekt.
Natürlich fuhr die Rolltreppe nur rauf, nicht runter, auf beiden
Seiten. Natürlich ist mein Koffer viel
zu schwer für die Treppe, natürlich ist sie zu hoch mit viel zu vielen Stufen.
. Natürlich schleppe ich mich mit ihm hinunter, statt mich vergeblich auf die
Suche nach einer uniformierten Hilfe des Bahnpersonals zu begeben. Natürlich beschweren sich Beine, Gelenke und
Rücken.
…
Auf dem
Bahnhofsvorplatz einer der letzten Asylplätze für Raucher vor hohen Türen aus
der Glastürenzeit, die geduldig auf und zu gleiten. Ob Eingang oder Ausgang entscheiden hier die,
die kommen und die, die gehen. Auf jeden
Fall für mich ein lohnenswertes Zwischenziel. Zwei Zigaretten schaffe ich.
…
Auf dem
Vorplatz im Angesicht des Pferdearsches unter dem Abbild des einstigen Königs
von Hannover und England eine Schulklasse, plötzlich Kurzgebell: „Auf geht’s!
Alles folgt mir! Zusammenbleiben!“
So ein
Tonfall hätten den König da oben und seine Offiziere und Schulmeister wohl
erfreut.
Wild
gestikulierend oder die Handys eifrig weiter mit Lauten und Zeichen bestückend
und wie das Kurzschwert eines Römers vor sich hinhaltend zerteilt der
Klassenverband ohne auf unseren Protest und Unwillen zu achten uns Raucher vor
der Tür.
Ihr Lehrer
läuft nicht einfach vor ihnen her, mir scheint eher, er läuft vor ihnen weg,
als hätten seine markigen Kommandos ihn seine letzte Kraft gekostet im Kampf
gegen ihre Handys, permanente Unlust einerseits, und Lust auf Chaos
andererseits.
…
Natürlich bin
ich pünktlich, dieses Mal mildtätig beglückt vom Bahnhof und einer mich und
meinen Koffer nach oben fahrenden Rolltreppe.
Natürlich ist der Zug laut Anzeige „5 Minuten später“, was eine
weibliche Stimme über Lautsprecher bestätigt.
Etwas
aufgebrachter bin ich dann schon, als die gleiche Stimme plötzlich verkündet,
der Zug fahre heute auf einem anderen Gleis ein. Und schon schimpfen wir alle
über die deutsche Bundesbahn, als hätten wir nur darauf gewartet. Ungelogen,
bei mir und den anderen Klang Befriedigung mit und endlich befreites Knurren,
Murren und Gejammere. So waren wir uns doch sicher uns in Deutschland zu
befinden, seinen unpünktlichen Zügen und unmöglichen Bahnsteigen, nur gebaut
und so geplant, damit der Wind uns dort mal so richtig durchblasen kann und dem
Gefrierpunkt näher bringen. So genossen wir es uns als Deutsche aufzuführen.
Natürlich
kommen wir alle rechtzeitig, wenn auch knapp, am anderen Bahnsteig an,
erschöpft vom Schimpfen und Hasten.
…
Aber der
Sitzplatz, den ich danach im Abteil für mich einfordere, erbost auf meine
Sitzplatzkarte zeigend, der steht mir wirklich nicht zu. Da hatte ich mich
vertan bei den Karten und aus Versehen die für die Rückreise gezückt.
…
Bis ich mich
wieder beruhigt hatte, erreichten wir schon das Leinetal, das behäbig in seiner
Breite und seinen Hügeln neben uns her glitt, als traue es sich nicht Ecken und
Kanten zu zeigen, als wäre ihm die Erde sicherer als der Himmel, das karge
Leben näher als irgendein Paradies, Mut oder Phantasie.
…
Wie das Tal
so die Menschen? Ich weiß es nicht. Aber es heißt so, man sagt es. Es hätten
die frühen Reisekaiser, die Ottonen und Heinrichs, sie zu sehr zu Diensten gezwungen und die Köpfe
geduckt, als dass sich die nächsten Jahrtausende noch viel hätte erheben könnten.
Und so hätten sie vergessen, dass sie Mensch geworden waren, als sie die Köpfe
über die hohen Gräser gehoben und mutig hierhin vorgestoßen waren mit ihrem
Feuersteinutensilien für Jagd, Feuer und Fischzubereitung.
Das näher
kommende Göttingen sei keine Ausnahme, es ducke sich mit seinen Überresten aus Mittelalter und Nachkriegsbaracken dicht
in das Leinetal, ärgerlich über die Kirchturmspitzen die die Frömmlichen hier
hochgezogen hatten, duckt es sich nah an das Plätscherchen von Flüsschen, das
weder hier, noch vor- oder nachher sich selbst als Wässerchen darüber zu trüben
scheint.
…
Dann sehe ich
es, an den Hängen über Göttingen, das uralte Geismar, erkenne es an seinen
verzweifelten in Beton gegossenen Bemühungen, auf sich aufmerksam zu machen, mit
seinen Bettenburgen noch immer bitter klagend, dass dieses Fachwerkgerümpel im
Tal zum Namen geworden war, obwohl viel jünger und unreifer, und nicht die
Siedlung, in die sich die Bewohner einst aus dem Tal geflüchtet hatten vor den
Raubrittern und Vagabunden, vorchristlich, aber nicht unchristlich, keineswegs
das Geismar mit der gefällten Eiche des Iren Boni, nicht Irren, anderswie zum
Kreuz gekommen und doch darunter geraten, eingevogtet vom fernen Kaiser und in
Knechtschaft eines Vasallen, der als Fürst alle so drangsalierte, dass selbst
die Göttinger die Nase voll bekamen und seine Burg schleiften. Ein
unzuverlässiges Gesindel in den Augen der Geismararaner, zwar später Mitglied
der Hanse und doch nur auf Händel und Streit aus mit allen, die sich nicht
schnell genug aus dem Staub machten. Und dies bis heute, betonen einige
Altgeismaraner. Heinrich Heine und die Märchenbrüder wussten bereits ihr
jeweiliges Lied davon zu singen.
…
Mich
verbindet mit Geismar das Endgültige, der so rasch mögliche Wechsel vom Spiel
in den Ernst des Lebens in seiner härtesten, klarsten Form: dem Tod.
Es war in
unserem ersten Semester, in dem wir noch alle kulturellen und politischen
Ereignisse in unsere Biographien reinzwängen wollten.
Der Tod kam
auf die Bühne in Geismar, in ein Antikriegsstück des Trotztheaters. Er kam mit
schnellerem Atem mitten im Kriegsgetöse vom Tonband hinter der Bühne. Dann
atmete er schwer. Wir sahen im Fastdunkel nur noch schemenhafte Schatten hin
und herlaufen, fallen, sich krümmen, darunter der Schauspieler Uwe Voth. Sahen wenig, hörten trotz des Lärms ihre
Bewegungen und diesen Atem, der immer heftiger kam, kaum noch durch die Brust
zu kommen schien, ja, fast gar nicht mehr. Dann rief eine Stimme um Hilfe, um
einen Arzt.
Wir saßen
fasziniert ob der Echtheit der Szene stocksteif, betroffen einerseits und
erwartungsfroh auf den Fortgang andererseits, dachten alle nur: „Ja, so ist
Krieg!“ Und waren mit dem Theater mehr als zufrieden, schließlich versprachen
wir uns von ihnen ja etwas Packendes, Gelungenes gegen den Krieg, für den Frieden,
für den wir damals besonders waren unter der Bedrohung von Pershings, Cruise
Missiles und weit von uns entfernter Präsidenten Stare-Wars-Phrasen-tasien.
Alles war
gut, alles prima und anschließend bräuchten wir nur noch eine Pizzeria mit
Preisen für Baföghaushaltskassen finden und der Abend würde mehr als gelungen
für uns sein.
Aber das
Licht ging an, Uwe Voth atmete wirklich nicht mehr, es wurde wirklich ein Arzt
gebraucht, weniger um ihn zu retten als die Todesursache festzustellen.
Schweigend
saßen wir noch eine Weile da, erschüttert, einige weinten, andere starrten nur
ungläubig auf die Bühne. Das am nächsten Tag der Schauspieler Uwe Voth auf der
ersten Seite der Bildzeitung landete, machte die Sache für ihn und uns auch
nicht besser.
An Pizza,
schönen Vino oder kühles Bier war auch nicht mehr zu denken.
Wie wir aus
dem kleinen Theater herausgingen, Geismar verließen um in unsere
Studentenbuzzen zu gelangen, wusste wohl keiner von uns hinterher.
Uns blieben
für den Rest unseres Lebens Uwe Voths letzte verzweifelte Atemzüge auf dem Weg
in seinen Tod auf einer Theaterbühne in Geismar.
…
Auf meinem
Weg in die Reha-Klinik, in der auch Traumata-Patienten behandelt werden, frage
ich mich nun, hier im Zug, während Geismar langsam hinter mir verschwindet, ob
dies eines meiner Traumata sein könnte, eines dieser Ereignisse, die mir die
schwarze Seele füllten, dieses schwarze Loch ohne fassbare Ecken und Kanten, ohne
Gesichter und mögliche Verortungen, ohne genaue Erinnerung?
Haben wir es
verarbeitet? Wie lange war sein Tod, unser Dabei-Sein noch Bestandteil unserer
Gespräche, unseres Denkens?
Ach, wir
waren so jung und so herrlich vergesslich, so wahnsinnig nach vorne orientiert.
Wie sollten wir uns damit lange aufhalten, was hätte es ändern können? Ja, was?
Vielleicht uns?
…
In Göttingen
wurde uns der Sohn geboren, ungeplant, fast nicht mehr auf unserer
Lebensplanliste, Nicht für das Kreuz, für das Leben haben wir ihn dort die
ersten Jahre unterstützt beim Wachsen und Erwachen. Das Kreuz hatte seinen
Sohn. Wir brauchen von unserem keine Vergebung, nur die für uns so spannende Teilhabe
an einem Leben, dass zwar durch uns in Gang gebracht wurde, aber doch nicht das
unsere ist.
…
Während
Friedland mit seiner Glocke vorbeifliegt, ebenso die längst abgeklungene
Euphorie über die dort Ankommenden, frage ich mich, warum auch immer, was es
bewirkt haben mag im Leinetal, dass weder Geismar noch Göttingen je Kaiserpfalz
waren, stattdessen dieses zum verrandeten Dorf mit neuzeitlichem
Pendersiedlungscharakter Grone, Pfalz Grona, und schon gar nicht dieses Grone
zwischen Autobahn und Bahnstrecke, nein, es war dieses bisschen Ge-Steine oben
auf dem Kamm des Hügels entlang der Leine, längst geschliffen, abgetragen,
woanders verbaut, was einst des Kaisers war.
Ja, was? Was
Grona war, wurde verschart, was Nichts war weltberühmt, zumindest die hier begonnenen
Grimmsmärchen, geräucherten Würste und wissenschaftlichen Ergebnisse (ja, siehe
Heine, noch immer unschlagbar, nicht nur in Bezug auf Göttingen).
…
Das Große
wird klein nur, was Klein ist zu groß, oder wie?
…
Rosdorf ist
vorbei. Dort war unsere Bronzezeit, unsere Steinzeit. Dort fingen unsere
Urahnen Fische, entwickelten die Angeln und vor allem die Netze. Und ich
rutsche mehr, denn dass dieser Zug mich rollend fährt, an ihren Wirkstätten
vorbei, nur ihre Faustkeile im Kopf und ihren Muschelschmuck.
…
Soll ich ihn
verraten? Ja, ich verrate ihn, wenn auch nicht mit Namen, den kenne ich auch
gar nicht. Auch nicht seine Herkunft. Sein Alter aber kann ich schätzen. Seine
in die Jahre gekommene Bürgerlichkeit zwischen gut versorgt und Altersarmut im
Pflegefall. Zur Zeit noch in der Auslaufzone, gerade um die 60 geworden.
Er sitzt
zwischen mir und dem Gang des ICEs, das rechte Bein über das Linke geschlagen. Seine
Kleidung habe ich schon vor 50 Jahren an Männern seines Alters und Standes
gesehen: dicke Cordhose, dicke Tweedjacke, Typ englisches Fabrikat, Rolli,
dunkelbraunes Schuhleder in Frachtkähneformat, auf keinen Fall italienisch,
dafür mit dicken Sohlen und Streifensocken, wahrscheinlich an der Ferse frisch
gestopft.
Ich liebe
meine Vorurteile, je älter ich werde umso mehr und da er in ein paar von diesen
Vorurteilen passt, liebe ich auch ihn, in diesen leider mit ICE-Trasse viel zu
stark verkürzten und vertunnelten Minuten zwischen Hannover und Kassel.
Er wirkt
müde, aber bemüht konzentriert. In seiner rechten Hand führt er einen noch
länger tauglichen Bleistift, in der linken Hand eine Kladde, wie ich sie,
ebenfalls in meinen Kinderjahren, oft bei Lehrern sah, aufgeschlagen bei einem
wohl mit diesem Bleistift geschriebenen Gedicht in erkennbaren Strophen und
wahrscheinlich Reimen.
Er dreht den
Bleistift ständig um, da dieser am Ende ein Radiergummi festhält.
Er beginnt
damit ein Wort auszuradieren, dreht den Bleistift, schreibt ein neues Wort. Findet
ein anderes Wort, radiert es aus, schreibt ein neues. So radiert und schreibt
er, schreibt er und radiert bis wir kurz vor Kassel sind.
Natürlich bin
ich neugierig, was für einen Text er so umgräbt und umgräbt wie der Maulwurf
letztes Jahr unseren Garten.
Ich kann mich
des Eindrucks nicht erwehren, dass er den Text, vielleicht ein Gedicht, vor
allem genießt und braucht für das Wegradieren und neu Einsetzen von Worten,
denke, dass er enttäuscht sein wird, wenn ihm kein Wort mehr radierfähig
erscheint und Platz machen kann für ein neues.
Er liest seinen
Text nicht. Er sucht darin. Tut dies so ruhig und entspannt wie die Frau zwei
Sitze weiter vor uns ihren Schal weiter strickt.
….
Paco Lucia
ist tot. Leider keine CD von ihm zur Hand. Nur auf Youtube. Aber das stottert
hier und das will ich ihm zu Ehren und mir zum Genuss nicht antun. Bleibt die Erinnerung
seines Spiels in meinem Kopf und damit nicke ich kurz ein.
…
Was würde
Heine heute schreiben? Zum Beispiel über diese Landschaft mit ihren
Asphaltbändern, Betonklecksen und fassadengrauen Flecken mal gewürfelt, mal vereinzelt,
die nicht nur hier das Land „bestücken“?
Haben sie
deswegen so viele Tunnel in die Kasseler Berge gegraben für die Züge, damit wir
das gesprenkelte Elend draußen nicht mehr sehen?
Vielleicht
schießen sie uns ja morgen nur noch durch solche Röhren? Konzepte dafür gibt es
bereits. Als Alternative zum Autofahren!
Vorher gibt
es dann beim Fahrkartenkauf „Happy-Trial-Pillen“, mit denen wir uns während der
Schussfahrt fortträumen in die Züge der Vergangenheit, ihr Rattern zu hören, am
Fenster vorbeiziehen, nicht fliegen, eine Landschaft wie sie nur noch die
Kinderbuchillustratoren zeichnen, damit die Kinder nicht schon am Anfang nur
noch bebaute Ungeheuerlichkeiten als Natur ansehen. Und dann träumen wir auch
Kühe auf Weiden, goldgelbes Getreide statt grünen Mais, träumen Schweine und
Hühner im Freigehege, träumen Weidenhügel und Eichen-, Birken- und
Buchenwälder, träumen Weiden an Bächen die wie schlangen sich durch die Täler
winden, richtige Weiden träumen wir, die noch Himmel anbieten für die
Verliebten. Aber es ist zu befürchten, dass es diese Kapseln nur als
Sonderzuschlag mit entsprechendem Zuschlagspreis gibt und der Rest, dem das zu
teuer ist, darf sich während seines Schussfluges in „Flugmeditation“ üben.
…
Natürlich
gibt es ab Kassel keinen Zug mehr für mich. Umsteigen in einen Bus oder zwei
Stunden warten, heißt es. Der Bus sei aber mit der Fahrkarte nutzbar.
Also Bus. Der
erste, der uns bis Fritzlar mitnimmt, sieht die Sache so wie die Bahn. Der
zweite, der uns nach Bad Wildungen bringen soll, natürlich nicht. Sein Bus
gehöre nicht zur Bahn und darum müssten wir zahlen. Ihn interessiere nicht was
die Bahn sage und seine Firma rufe er deswegen auch nicht an. Wir müssten ja nicht mit ihm fahren, könnten doch auch zum
Bahnhof gehen und dort den nächsten zug abwarten. Alle meckern, schimpfen,
protestieren. Es hilft nichts. Wir müssen abdrücken. Eine ältere Türkin neben
mir lächelt und sagt: „Ist doch auch schön, so merken wir dass wir in
Deutschland sind.“ Daraufhin wäre ich am liebsten sofort der Deutsch-Türkischen
Freundschaft beigetreten. Genau dieser Gedanke war mir heute doch schon mal
begegnet. In diesem Sinne: es lebe die deutsche Engstirnigkeit und Bürokratie.
(c) bild + text jörn laue-weltring bad wildungen 2014
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