Wieso
ausgerechnet hierhin?
Wieso
wieder an diesem Garten vorbei, durch den freien Raum in der immer noch
wildwuchernden Hecke, durch diese mit grauen Platten belegte Lücke, zu den drei
breiten Stufen, die in den zuletzt hingestellten Klinker-Anbau führten, zu den
Garderobehaken, rechts die große Turnhalle mit den kältedurchlässigen großen
Scheiben und den stumpfen Dielenbrettern, links die Klasse, in der Burmester
stand, mit dem Stock auf den hellen Schreibtisch schlug und alle 5 Minuten
"Zuhören!" schrie.
Hätte
es nicht wenigstens einer der umliegenden Höfe sein können, der von Bauer Harm
zum Beispiel mit seinem fetten Traktorhintern und der blauen Wilma, die den
Korn zu Hause alleine aussoff, während Harm zur Dorfgaudi am Tresen hing und
sich veräppeln ließ?
Auch
das Spritzenhaus vorne an der Abzweigung mit dem Dorftelefon wäre noch ganz
witzig gewesen, wenn auch ein wenig zu klein für son Psychokasten.
Aber
ausgerechnet die seit langem aufgelöste Schule in Bannsdorf.
Seine
Schule. Die Burmesterschule.
Nicht
weit von der alten Wohnung, zu der er ganz bestimmt nicht hingehen wird. Und
wenn ihn einer erkennt? Alle hatten es doch gewusst und geschwiegen, Harm,
Wilma und die anderen. Burmester hatte dafür gesorgt.
Wenn
die ihm das vor dem Urteilsspruch gesagt hätten, Jan hätte den kahlen Schädel
geschüttelt, die drei Ringe am linken Ohr zum Klimpern gebracht.
"Nein,
hochverehrter Richter, nicht dorthin, wo ich herkam, wo alles anfing." Was
denn dort angefangen habe?
Alles,
hätte er gesagt, die ganze Scheiße eben, die ganze beknackte bundesdeutsche
Scheiße.
Hätten
sie nicht kapiert. Wie auch.
Diese
Saftärsche. Die mit ihren Streichholzmuttis, deren Titten so aufregend wie
Garderobehaken sein mussten.
Diese
PS-Kotzer. Gesichter, wie zehnmal durch die Scheiße gezogen. Nazi-Scheiße. K.Z-Wärter.
Wie
sollten die das verstehen.
Fanden
doch alles gut hier. Lief doch alles für sie. Für sie.
Nicht
für die Jans. Für die lief nix, nur so'ne Scheiße wie diese Schule.
Ob
das Bild noch hängt? Das mit dem runden Kindergesicht und den ergrauten
Backentaschen? Der soll Bundespräsident gewesen sein, stolz darauf, dass er in
so einer Schule was hätte lernen dürfen.
Ja,
so sah der auch aus. Dem war zu glauben.
Auch
wenn es Burmester war, der den immer wieder hochlobte.
Von diesen Bauten, erfuhr Jan erst später. Durch
Zufall auf einer Bank. Da hatte er'n
Typen um was Rauchbares angemacht. Warn Linker. Hatte ihm dann sogar seine
Zeitung geschenkt. War irgend so ein neumodisches Witzblatt.
Da
hatte er sein Vorbild, sein 4 Jahre vor ihm hängendes Bild, als Comicfigur
entdeckt. Vor flachen Bauten. KZs. Soll der Opa entworfen haben und dann
vergessen. Die Typen, die in diese Dinger reinkamen, konntest auch vergessen.
Nee, nicht vergessen. So 'n paar Millionen vergessen? Sonst merken sie sich auch
jeden Pfurz. Was hatten sie ihm nicht alles vorgerechnet:
Drogenbesitz.
Illegal. Klar. Steuerhinterziehung. Klar. Wer Drogen illegal besitzt, muss
wenigstens Steuern zahlen.
Zollvergehen.
Klar. Wer Drogen illegal besitzt, muss sie aus dem Ausland haben, weil hier
soviel nicht wächst. Klar. Der Knast geht ja. Rein. Ein paar Jahre, wieder
raus. Vorbei. Aber die Schulden beim Zoll und beim Finanzamt. Wie die abzahlen?
Wer
KZ-Bauten errichtet hat diese Probleme nicht. Soviel war klar.
Sein
Verteidiger hatte dem Gericht gesagt, Jan wäre doch nur ein User, ein kleiner
Fisch.
Von wegen Fisch, du Sackratte
mit Bügelfalte. Mensch. Jan Mensch!
10 Mark kostete so ein
Zwischenruf.
Ob das Vorbild ein großer
Fisch war? Ein großer vergesslicher
Fisch in einem schmalen hellen Holzrahmen?
Wer KZs entwirft und wieder
vergisst, kann Bundespräsident und Vorbild in Schulzimmern für kleine Jans
werden.
Wer Drogen missbraucht, kann
da wieder hin zurückkommen, wo Alpträume anfingen: hierhin, Zwergschule für Zwerge
und Vorbilder mit kurzem Gedächtnis und Burmesters mit selbstgeschnitzten
Stöcken.
Jan war nie ein Zwerg. Also
gehörte er doch wohl auch nie hierhin. Oder hieß das so, weil die Zwerge darin
machten?
Egal. Burmester hatte ihn auf
die Doofenpenne schlagen können, aber nicht zum Zwerg. Zum Zwerg hatte er sich
selber gemacht.
Mit Berliner Tinke und viel
Speed.
Und John Reed.
Dipdedipdedippdedipp.
Und dann dieser Scheiß hier.
Klar war das besser, wieder
sauber zu sein. Das Zeug zerfetzt einen. Frisst einen auf. Die Junkie-Szene ist
auf Dauer auch zum Kotzen. Jeder bescheißt jeden.
Aber, wie soll man in dieser
Schule sauber bleiben? Hier sich das Drücken abgewöhnen? Da muss man ja
hochkarätig zugepolstert und verblödet sein.
Immerhin, der Garten ist
nicht mehr so pieke. Das ist schon mal gut.
Die wohnten wohl auch nicht
mehr hier, die Burmesters.
"Sieh zu, du
Zigeuner! Heute Abend will ich kein
Unkraut mehr sehen. Ist das klar? Ob das klar ist?!“'
Wie soll ein Jan so was
vergessen, die beiden Beine über ihm, diese gebügelten grauen Hosen mit dem
muffigen Geruch, die nasse Erde in den Händen, in der Nase, in den Knochen?
Der Stock lag zufällig
zwischen den Erdbeerbüschen. Jan wusste wirklich nicht, wie der da hingekommen
sein konnte.
Aber der gezielte Schlag
damit, daran war Jan schuld. Es ging sehr schnell. Der graue Stoff gab nicht
mal viel nach dort, wo die beiden Beine ineinander übergingen. Die gebräunte
Burmester-Hand war zu langsam da, wo der Stock schon nicht mehr war. Die andere
Burmester-Hand wollte Jan packen. Einen Jan, der bereits weglief und schrie:
"Ich sag's meiner Mutter, dass Sie mich unsittlich machen wollten. Ich
sag's meiner Mutter."
Den Stock konnte er noch
zwischen den Lehrerbeinen liegen sehen. Kein Ton war aus Burmester gekommen. Nur
kreidebleich hatte der ausgesehen. Die Alte von ihm schien weggewesen zu sein. Kam
jedenfalls nicht raus.
Dann war Jan zur Doofenschule
gekommen. Heißt jetzt Sonderschule. War ganz nett. Jan schaffte gute Zensuren,
hatte Freunde und die Lehrer mochten ihn.
Nur danach gab’s nichts mehr
für Jan. Keine Lehre. Kein Job. Da war’s wieder 'ne Doofenschule. Hätten die
Ärsche den Namen doch auch gleich lassen können.
Dabei hatte der bestusste
Burmester ihn nur deswegen nicht leiden können, weil Jans Mutter den nicht
rangelassen hatte. Jan hatte es doch gesehen. Zuerst war er in die Küche der
Burmesters kommandiert worden. Musste sich auf Burmesters angeschwitzten Bügelfaltenschoß
setzen. „Jan, du machst mir Sorgen. Große Sorgen!“
Augen
konnte der Burmester machen, wie Scheunentore, und ganz ernst gucken, dass es
kleinen Jans kotzübel im Bauch wurde und sie nachts nicht schlafen konnten. „Bitte,
bitte, ich will Ihnen ja keine Sorgen machen, nie mehr.“
Soweit
bringen es solche grauen gebügelten Saftärsche bei kleinen Jans. Aber Jans
werden größer.
Jedenfalls
meldete sich der Herr Burmester immer auf diese Weise zu einem Besuch an. Alle
paar Wochen Schoß von Burmester. Wer weiß, vielleicht war der auch noch auf
Kinder scharf gewesen. Zutrauen würde er ihm das.
Dann
kam der zu ihm nach Hause, brachte Blumen aus dem Schulgarten mit, die sie am
Morgen noch hatten gießen müssen. Schließlich wechselte Burmester seinen
Geruch. Die Rasierwasserdüfte hingen noch an den nächsten Tagen in der Wohnung
rum.
Jan
vergaß, wie sein Vorbild neben der alten Schiebetafel. Er vergaß die
Schulaufgaben. Hatte schlecht geschlafen. Warum, das konnte er nicht sagen,
wollte es auch nicht.
Er
kam in der Burmesterschule jedenfalls nicht so gut durch wie der Bilderrahmen, durfte
nicht zum Klassensprecher gewählt werden. „Jan, Jan!“ Kopfschütteln, Schläge,
Kopfschütteln.
"Ihr
wollt doch nicht diesen Zigeuner! Damit
kommt ihr bei mir nicht durch. Mommsens Meier ist euer Klassensprecher. Keine
Widerrede."
Dabei
hatte Burmester vorher strahlend seiner vierten Klasse mitgeteilt, sie dürften
nun das erstemal in ihrem Leben an der Demokratie teilnehmen.
Was
das sein sollte? Wusste keiner von
ihnen, musste was Typisches für Burmester sein.
Erst
wählten alle den Jan, und dann wurde der Klassenstreber Thomas Klassensprecher.
Jan
war nicht wirklich scharf darauf gewesen. Er wusste auch, dass sie hofften, sie
könnten so seine Stärke und Wut für sich nutzen. Einige hofften bestimmt, dass
er sie dann nicht mehr verprügeln dürfte. Dabei war das Prügeln manchmal noch
das schönste an der Schule. Die meisten Bauernjungs dachten wie Jan.
Jetzt
wussten sie, was Demokratie ist. Ein
Scheißwort. Eine Verarschung.
Am
gleichen Tag rückte Burmester abends mal wieder an. Dieses Mal hatte er sich
auch noch Pomade in das bisschen Haar geklebt. Jan verkroch sich sofort im
Schrank. Die Alte war unglückseligerweise da. Er musste ihr immer Bescheid
geben von Burmester, wenn er kommen wollte. Hatte Jan aber vergessen wegen der
Wahl. Außerdem hatte Burmester zum Schluss noch gesagt: „Jetzt ist es aus Jan.
Für dich ist hier kein Platz mehr!“ Wieso? Jan hatte nicht verstanden, was
Burmester damit sagen wollte. Man musste doch zur Schule gehen. Jan war
schließlich nicht freiwillig hier.
„Hat
Ihr Sohn nicht? Hat er nicht. Na warte, Bengel!“ Setzten sich im Wohnzimmer.
„Gläschen?
Bier habe ich nicht.“
„Aber
gerne. Zigarette?“
„Nein,
rauche nicht mehr seit gestern. Oh, mein seliger Mann hat die gleiche Sorte
geraucht. Hier ist der Aschenbecher.“
Was
für ein Gelaber. Und wieso rauchte sie nicht mehr, hatte doch gerade den
Aschenbecher in die Küche geräumt und ihre Kippen in den Müll gedonnert.
Wann
kommen die endlich zur Sache, zum Jan, zum nervös schwitzenden Jan in Lederhose
und Strullerpfütze. Er hatte zuletzt vor Vaters Tod in die Hosen gemacht.
Damals fast grundsätzlich. Und jedes Mal hatte es Schläge von diesem Alten
gegeben, todkrank und wohl seine letzte Befriedigung, ihn, Jan, kräftig durch
zu prügeln.
Deswegen
war Jan fast glücklich bei der Beerdigung gewesen, genoss mit Begeisterung das
einsetzende Mitleid für den armen Halbwaisen. Trotzdem dachte er, dass er ein
fieser Jan sein müsste, da er nicht eine Träne vergießen konnte und die Alte
soviel, als wenn sie nicht unter ihrem Besteiger gelitten hätte.
Ab
jetzt kein Geschrei mehr, weniger Gestank, weniger Tränen. Dachte er. Aber die
Alte übernahm plötzlich das Schreien und heulte immer noch und stinken konnte
sie auch.
Auf
dem Sofa kam man nicht zu Jan. Der Burmester-Mund brüllte nicht wie sonst im
Klassenzimmer, schlug auch nicht mit dem selbstgeschnitzten Stöckchen rum, warf
kein Schlüsselbund durch die Gegend. Im Gegenteil. War ganz leise und irgendwie
so wie Cary Grant oder Joachim Fuchsberger im Edgar Wallace.
Im
Fernsehen kannte Jan sich aus. Der machte sich nichts aus dem Chaos in der
Wohnung, lief und lief bis Jan das Gefühl hatte, er könne in ihn hineingehen
und woanders wohnen.
Beide
Arme hatte Burmester auf der Lehne ausgebreitet. Das braune, etwas glitzernde
Jackett lag auf der Sessellehne. Der Schlips wurde von Burmesters Händen
gelockert, ohne dass die Burmester-Lippen dabei stillstanden. Jans Mutter hatte
Likörgläser geholt und lachte ein paarmal. Über den Jan im Schrank? War er ein
lächerlicher Zwerg? Dann lachte sie anders, komisch. Durch einen schmalen Spalt
konnte er sie sehen.
Sie
waren beide rot im Gesicht. Dann war nur noch das dicke Haar des
Burmester-Kopfes zu sehen und der weiße Hemdrücken, auf dem Jan einen dunklen
Fleck bemerken konnte. Darunter zappelte es. Nicht es. Nylonbestrumpfte Beine zappelten
da. Der weiße behemdete Rücken fuhr nach oben. Fiel wieder runter.
Irgendwas
wie "Nein!!!" meinte Jan zu hören. War sich aber nicht sicher. Eine
merkwürdige Spannung war in ihn gekrochen.
Damals
konnte er sich nichts vorstellen, was zu dem vor ihm zappelnden keuchenden Bild
gepasst hätte.
Klar
kannte er Worte wie Vergewaltigung. Er hatte es oft genug auf der Bildzeitung
gesehen, die Burmester jeden Morgen in der ersten Pause von einem Schüler holen
ließ.
Dann
hatte er sich furchtbar erschrocken. Es hatte plötzlich einen Knall gegeben. Die
Stehlampe war umgefallen.
„Zier
dich nich so, verdammt. Du alte Hure. Die anderen lässt du doch auch.“
„Du
verdammtes Schwein! Hau ab oder ich sage
es endgültig Deiner Frau.“
„Halts
Maul, geiles Miststück. Dir glaubt hier sowieso keiner!“
„Das
werden wir sehen, Du Scheißkerl.“
„Sei
vorsichtig. Ich kann deinen Jan in die Klapse bringen! Bisher hab ich wegen Dir
alle Augen zugedrückt. Los, mach jetzt.“
„Aua,
bisse zu doof zum ficken! Au!!! Nicht! Nicht! Hilfe! Jan! Hilfe!“
Da
war er aus dem Schrank raus. Sah zu dem weißen Rücken mit dem dunklen Fleck auf
der Mutter, sah schlaffe Brüste mit zwei großen Schrammen, sah sofort von ihrem
käsigen Gesicht weg.
Angeblich
soll er dabei wie am Spieß geschrien und auf Burmester eingetreten und ihn mit
einem Besen, wo hatte er den bloß so schnell gefunden, immer wieder eingeschlagen
haben.
Aber
als der Bauer, der sie im Häuslerhaus wohnen ließ und nervös geworden war wegen
der Schreie und Geräusche, endlich ihnen zu Hilfe eilte und ins Zimmer kam, war
Burmester schon wegstürmt, nicht ohne ihnen leise zischend zu drohen. „Haltet
bloß Eure verdammte Schnauze, das hier wird Euch was kosten!
Jan
hatte das alles dem Bauer erklären wollen aber eine feste Hand auf dem Mund
gespürt. Warum?
Sie
hatte es ihm nie erklären wollen. Nicht einmal danke hatte sie hinterher
gesagt. Nur. „Halt bloß den Mund, hast ja gehört was der gesagt hat.“ Schlimmer
noch war, dass sie manchmal sagte: „Der hat Recht, du gehörst in die Klapse und
ich habe endlich meine Ruhe.“
Eines
Tages fand er sie mit noch schlafferen Brüsten unter dem Küchentisch. Braune
Flecken bedeckten den runzligen Bauch. Gelblicher Schaum verklebte Mund und
Nase. Da hatte sie schon länger die Flasche mit der Spritze getauscht, ihm
waren dafür die ersten Joints in die Hände gefallen. Fand er geil, ließ bald
keine Gelegenheit aus, sie zu beklauen. Das war ein Stoff!
Erst
als der Arzt vor ihrer Leiche ihn böse anstarrte und sagte "Die ist
tot! Die ist doch längst perdü!" Da
begriff er es. Es war vorbei mit Eltern. Endgültig. Und mit heimlichen Joints
auch.
Dann
machten sie ihm Schwierigkeiten, ihren traurigen Rest in Vaters Grab zu bringen.
Die Anatomische hatte diesen Rest irgendwie verloren, verschoben. Keiner wusste
was. Das Jugendamt schaltete sich ein. Ein junger, netter Kerl. Am Anfang
jedenfalls, als sie sich noch nicht so richtig kannten.
Für
die Polizei war der Fall erledigt. Überdosis. Er bekam sie dann doch noch
zurück. Nur Bauer Sonnenschein und der
vom Jugendamt kamen mit zur Beerdigung.
Ob
Burmester aufgeatmet hat, als er davon erfuhr?
Jan
hatte ihn besucht. Er war diese Treppen hoch, durch den Flur, in den
Klassenraum rein ohne anzuklopfen.
„Sie, Herr Schneider?"
„Meine Mutter ist tot."
Burmester war erst bleich geworden, dann aber hatte er gesagt:
„Na und? Was kommen Sie damit zu mir?
Sie sehen doch, dass hier Unterricht ist. Denken Sie an die kleinen
Kinder. Sie bringen sie ganz
durcheinander."
"Ich?"
Das Wort hatte er einen Moment stehen lassen. Burmester hatte
geschwiegen und ihn wütend angestarrt. Hatte er in diesem einen Moment endlich
auch mal Angst verspürt, Angst davor, dass Jan nun alles erzählen würde? Hatte
er dabei geschwitzt? War wieder so ein
dunkler Fleck auf dem Hemd gewesen?
"Sie bringen doch die Menschen durcheinander. Sie schaden
den Kindern. Mir zum Beispiel. Auf Wiedersehen, Herr Lehrer, und noch mal
schöne Grüße von meiner Mutter."
Was hatte Burmester den Kindern als Begründung für dieses
Schauspiel erzählt? Ein Spinner? Jan hätte lauschen können. Wollte aber nicht. Hatte
das Ganze hinterher eigentlich affig gefunden. Mutter wurde nicht wieder
lebendig. Und so sehr hatte er an ihr
auch nicht mehr gehangen. Hatte ihn trotz Burmesters Überfall nicht gegen den
in Schutz genommen.
Was war denn das für eine Mutter gewesen: nachts knarrte meist
ihr altes Bett, und einmal sah er einen Typen mit tierischen Augen und
stinkender Schnapsfahne in sie reinpowern. Stank wie Scheiße das Ganze. Die Alte hatte nur noch gelallt von ihren
Tabletten und Stoff. Der Typ hatte ihn bemerkt.
"Willst auch mal?"
Da war er abgehauen. Nicht für lange. Griffen ihn. Sperrten
ihn ein. Riss er sich zusammen. Hielt durch. Bis sie unter dem Tisch lag. Und
jetzt wollten sie den Eltern mehr Rechte über ihre Kinder geben.
Noch mehr?
Im Flur sprang ihn ein langer, zotteliger Hund an. „Ruhig,
Rufus!"
Die Stimme kam aus der Turnhalle. Von einem kleinen dicken
Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Was machte die hier? Drücken jetzt schon
die Kinder?
Rufus sollte wohl das große Tier sein. Dessen nasse Zunge fuhr
Jan quer über das Gesicht.
"Wo ist hier der Seelendoktor? Ich komm frisch aus der Heile. Bin der Jan. Drücker-Jan."
"Die erwarten dich schon.
Wolltest abhauen?'
"Nee. Ich hab mir nur den Laden hier angeguckt. War meine
alte Penne."
"Das gibst doch nicht."
Dachte Jan auch.
(überarbeitete
Fassung, veröffentlicht 1985 im „Kürbiskern“, Damnitz Verlag,
die ehemalige
Dorfschule als „therapeutische Wohngemeinschaft“ gab es tatsächlich, wir haben
sie dorthin verlegt, nach dem Dorfbewohner unsere erste Einrichtung in einem
Dorf auf der anderen Seite der Stadt angezündet hatten. Die Geschichte entstand
aus meiner Arbeit als „Therapeut“ dort zu Beginn der 70er Jahre) Das Bild zeigt eine andere Schule 1950
© Jörn
Laue-Weltring 2013
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