Von
der Bank aus ließ sich wunderbar in das Tal mit seiner weiß leuchtenden Kirche
und alten Bauerngehöften heruntersehen, bisweilen blinzelte sogar der ruhige Wellenschlag des Inns zu ihm hinauf. Der alte Mann saß jeden Tag auf ihr und
genoss zumeist auf diese Weise sein langes Leben und das Glück, das seine
Eltern ihn gerade hier, zwischen diesen Bergen in die Welt gebracht hatten. In
der Ferne konnte er von hier bequem die Kaisergebirge sehen, je nach Licht und
Witterung, mal näher, mal kaum bis gar nicht. Über diesen Wechselanblick freute
er sich am meisten und er war jeden Morgen neugierig und freudig erregt, wie er
sie heute wohl sehen würde. Vor allem der "Wilde Kaiser" hatte es ihm angetan, wirkte der doch an manchen Tagen wirklich schroff und wild und anderen, besonders wenn er näher gekommen schien, sanft und altersmild.
Nie
hatte er diese Welt verlassen, nicht einen Tag, alles hier gefunden: Freunde,
Arbeit, Frau, schließlich das Rentnerdasein.
Und
so saß er da, rauchte in stündlichen Abständen, aß mitgebrachtes Brot, Käse und
Wurst der Region, saß bis zur Abenddämmerung, ging und kam gleich mit der
Morgenröte wieder. Ab und zu begleitete ihn eines seiner Kinder und verbrachte
mit ihm hier den Tag. Sogar seine Geburtstage feierte er hier und an
Heiligabend brachte er einen kleinen, geschmückten Tannenbaum mit, zündete
Kerzen an, grummelte Weihnachtslieder.
Er
hatte für jede Jahreszeit die richtige Kleidung, fror nie, schwitzte nie,
bewegte sich, wenn es kalt war etwas öfter, wenn es heiß war wenig bis gar
nicht. Die Bäume über ihm spendeten wohltuenden Schatten und meist kühlte ein
leichter Wind. Bei Regen spannte er einen großen, alten Schirm auf und nur ein
Sturm oder Gewitter vertrieb ihn gelegentlich oder hinderte ihn am Aufstieg.
Im
Dorf war er genügend bekannt, so dass keiner sich über diese Einseitigkeit
seiner Lebensgestaltung wundern mochte. So war er eben. Punkt.
Es
gab sogar Überlegungen im Gemeinderat, nach seinem Tode ein Schild bei der
Bank, seiner Bank, auf zu stellen mit einem schönen Bild von ihm, dass seine
Kinder bereits heimlich ausgesucht hatten, eines, wie er auf der Bank saß,
beschienen von der Abendsonne. Dazu sollten seine Lebensdaten geschrieben
werden und so Besuchern das alles die besondere Heimatliebe der Talbewohner beweisen.
Allein,.
dazu kam es nicht. Denn es trafen eines Tages durch einen besonders
hartnäckigen Kommissar aus der Kreisstadt Sachen zusammen, die sich keiner je
hätte vorstellen können, jedenfalls nicht so und auf keinem Fall mit diesem
alten Mann.
Seit
einigen Jahren, tatsächlich seit Beginn des Rentenstatusses des alten Mannes,
verschwanden einzelne Touristen spurlos in den Bergen. Natürlich hatte nie
jemand auch nur einen Gedanken über eine solche Parallelität verschwendet. Nur
der Kommissar, erfahren, aus langjähriger Gewohnheit besonders hartnäckig,
mochte nicht an Abstürze in irgendwelche tiefen Felsspalten glauben, schon gar
nicht, da einige dieser Touristen sich in einem Alter oder gesundheitlichem
Zustand befunden hatten, die größere Bergtouren für ihn jedenfalls völlig
ausschlossen.
Sie
mussten in der Nähe des Dorfes verschwunden sein. Und da oben saß jeden Tag ein
alter Mann und sah hinunter. Er könnte, ja er müsste etwas gesehen haben, auch
wenn er dem Gesehenen vielleicht selber keine Bedeutung beimessen mochte.
Aus
diesem Grund begab sich der Kommissar mehrere Tage hintereinander hinauf zu dem
Alten, der ihn von der ersten Sekunde an grimmig angeschaut und nur spärlich
geantwortet hatte.
„Sie
möchten lieber alleine hier sitzen?“
„Ja!“
„Ich
brauche aber Auskünfte von Ihnen.“
„Ja.“
„Sie
haben von den Vermissten gehört, diesen Touristen?“
„Nein.“
„Wieso
nicht. Das ganze Dorf spricht doch darüber. Schließlich schädigt es den Ruf als
Erholungsort, wenn jedes Jahr zwei bis drei Besucher auf unerklärliche Weise
verschwinden.“
„Der
Tatzelwurm!“
„Wie
bitte?“
„Der
Tatzelwurm. Den gab es schon früher hier. Nahm erst Vieh, dann kleine Mädchen.
War dann wieder weg. Nun ist er wohl wieder da.“
„Der
Tatzelwurm?“
„Ja.“
Der
Kommissar kannte natürlich das Märchen vom bösen Drachen, dem Tatzelwurm, der
hier und da aufgetaucht sein soll, Vieh und Mädchen zu rauben und zu fressen.
Er hatte immer den Verdacht gehabt, diese Geschichte hätten sich Eltern in
grauer Vorzeit ausgedacht, um ihre Kinder davon ab zu halten, alleine in den
Wald zu gehen, denn von dort pflegte dieser Wurm stets zu kommen. Er hoffte
nur, dass es ihm besser gelingen würde seinen Täter zu fassen als den Leuten im
Märchen, die den Tatzelwurm nie fangen konnten, wie das tapfere Schneiderlein
das Einhorn oder gar töten, wie einst Siegfried, der Drachentöter.
„Und
sie interessiert das alles nicht?“
„Nein.“
„Auch
nicht dieser Tatzelwurm?“
„Nein,
solange er sich an die Touristen hält. Meine Kinder kriegt er nicht.“
„Ach
so, bei ihren Kindern hört auch bei Ihnen der Spaß auf?“
„Ja!“
„Und
die Touristen sind ihnen egal?“
„Nein.“
„Also
tun sie Ihnen doch leid.“
„Nein.“
„Sie
mögen keine Touristen?“
„Ja.
War schließlich selber auch nie Tourist und bin anderen auf den Geist gegangen.
Jeder dahin wohin er gehört.“
„So?“
„Ja,
so!“
So
und ähnlich lief das Gespräch, soweit man es als solches bezeichnen mag, stets
und der Kommissar kam trotzdem wieder und wieder. Er hatte einfach das Gefühl,
der Alte hätte etwas gesehen und gäbe nur aus seiner Abneigung gegen Touristen
nichts preis.
Nach
vier Wochen erwartete der Alte ihn stehend vor der Bank.
„Sie
geben ja doch keine Ruhe.“
„Das
geht auch nicht. Mein Beruf ist es nun mal solche Fälle auf zu klären.“
„Verstehe
ich nicht. Egal. Kommen sie!“
Der
Alte ging einfach vor ihm in den Wald hinter der Bank. Der Kommissar folgte ihm
bis der Alte mit einem Ruck stehenblieb und mit seinem Stock nach vorne zeigte.
„Da!“
„Was
ist da?“
„Was
suchen sie denn?“
Kopfschüttelnd
umrundete der Kommissar den Alten und ging in die Richtung, die der Stock so
gebieterisch ihm wies.
Nach
ein paar Schritten gab die Erde plötzlich unter ihm nach. Er befand sich gerade
zwischen zwei kleinen Birken, die sich zwischen die Kiefern und Eichen hier
geschmuggelt hatten. Vergeblich streckte er seine Hände nach ihnen aus und
fiel, wie es ihm vorkam, ein paar Meter bis er auf etwas fiel, was weich war
und unter dem etwas knackte.
Gut
durchtrainiert und Kampfsport erfahren hatte er sich noch im Aufprallen
abgerollt und so die Wucht aufgefangen. Trotzdem taten ihm sofort mehrere
Körperpartien äußerst unangenehm weh. Er konnte aber alles weiter bewegen.
„Wo
sind sie?“
„Hier,
aber ich gehe jetzt. Sie haben was sie suchten. Viel Spaß damit!“
„Wie
bitte?!“
Er
bekam trotz mehrerer Rufe keine Antwort mehr, stattdessen wurde es dunkler über
ihm. Offensichtlich baute der Alte die Falle wieder zu. Der Kommissar verhielt
sich ruhig, sagte nichts mehr, musste erstmal verdauen, was hier geschah und
die Erkenntnis, was der Alte offensichtlich war.
Ein
Mörder. Ein Massenmörder würden die Zeitungen schreiben. Ein Touristenhasser.
Aber
erstmal musste er hier raus. Er sah erst gar nicht nach, worauf er stand,
wusste es auch so: wahrscheinlich 23 tote Touristen, vor allem Alte, Kinder,
Gehbehinderte. Er zog das Handy hervor, rief die Wache im Dorf an, beschrieb
ihnen wo er war und in welcher Lage, aber noch nicht, wie er dorthin gelangt
war. Wer weiß, wahrscheinlich hätten die das ganze sonst für einen üblen Scherz
seinerseits aufgefasst oder steckten vielleicht sogar mit dem Alten unter einer
Decke. Nach diesem Erlebnis hier konnte er nichts mehr ausschließen.
Nach
seiner Befreiung verhafteten sie den Alten, bestellten die Spurensicherung und
transportierten ihren Gefangenen in das Kommissariat in der Kreisstadt.
Dort
begann der Kommissar sofort, zusammen mit einer Kollegin, die Befragung. In
deren Verlauf trafen erste Nachrichten aus dem Wald bei ihnen ein. Die ersten
Toten konnten identifiziert werden.
Der
Kollegin begann ,wie vorher zwischen ihnen abgesprochen, mit der Frage:
„Warum?“
„Wieso
lässt man mich nicht allein auf der Bank? Habe ich mir das nicht verdient?“
„Und
deswegen haben sie all die Leute getötet?“
„Ich?
Ich habe niemanden getötet. Sind doch selbst dahin gegangen, genau wie Sie.
Neugierige Leute, nervige Leute, stören, machen sich breit, ohne jeden Respekt!„
„Aber
sie haben doch das Loch jedes Mal danach wieder versteckt, damit eine neue
Falle aufgebaut?!“
„Von
einer Falle weiß ich nichts. Das Loch konnte doch nicht so bleiben, sieht nicht
schön aus im Wald, so ein Loch.“
„Und
wieso sind die Leute dann gestorben?“
„War
der Tatzelwurm, sagte ich Ihnen doch schon. Der ist nie satt. Besser er holt
die Touristen als unsere Kinder, so wie früher.“
„Wollen
Sie damit sagen, das Loch war so etwas wie ein Futtertrog für ihren
Tatzelwurm?“
„Ist
nicht mein Tatzelwurm!“
Der
Alte wurde gegen seinen ab da nie mehr endenden Protest in die Psychiatrie
eingewiesen, das ganze Dorf war entsprechend entsetzt, zu einem Schild an der
Bank ist es aber kurz darauf trotzdem gekommen, nur dass die nun über einen
Mörder erzählt, der im ganzen Land für Aufregung und Schauder gesorgt hatte und
mit dieser zweifelhaften Berühmtheit warb man nun und das sehr erfolgreich.
Tausende von Touristen kamen zu der Bank des Alten, ließen sich dort und an der
zum Gedächtnisort umgestalteten Lochstelle fotografieren. Hätte er es gesehen,
hätte der Alte vielleicht laut aufgeschrien und sich vor Wut, wie einst das
Rumpelstilzchen, ein Bein ausgerissen.
Von
da an, wenn einer das alte Alpenmärchen vom Tatzelwurm irgendwo zum Besten gab,
folgte gleich darauf und stets die Geschichte vom Alten auf seiner Bank hoch
über dem Tal und dem tiefen, tödlichen Loch zwischen zwei jungen Birken.(c) Text und Bild: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013
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