Donnerstag, 29. August 2013

Alles für den Tatzelwurm



Von der Bank aus ließ sich wunderbar in das Tal mit seiner weiß leuchtenden Kirche und alten Bauerngehöften heruntersehen, bisweilen blinzelte sogar der ruhige Wellenschlag des Inns zu ihm hinauf. Der alte Mann saß jeden Tag auf ihr und genoss zumeist auf diese Weise sein langes Leben und das Glück, das seine Eltern ihn gerade hier, zwischen diesen Bergen in die Welt gebracht hatten. In der Ferne konnte er von hier bequem die Kaisergebirge sehen, je nach Licht und Witterung, mal näher, mal kaum bis gar nicht. Über diesen Wechselanblick freute er sich am meisten und er war jeden Morgen neugierig und freudig erregt, wie er sie heute wohl sehen würde. Vor allem der "Wilde Kaiser" hatte es ihm angetan, wirkte der doch an manchen Tagen wirklich schroff und wild und anderen, besonders wenn er näher gekommen schien, sanft und altersmild.
Nie hatte er diese Welt verlassen, nicht einen Tag, alles hier gefunden: Freunde, Arbeit, Frau, schließlich das Rentnerdasein.
Und so saß er da, rauchte in stündlichen Abständen, aß mitgebrachtes Brot, Käse und Wurst der Region, saß bis zur Abenddämmerung, ging und kam gleich mit der Morgenröte wieder. Ab und zu begleitete ihn eines seiner Kinder und verbrachte mit ihm hier den Tag. Sogar seine Geburtstage feierte er hier und an Heiligabend brachte er einen kleinen, geschmückten Tannenbaum mit, zündete Kerzen an, grummelte Weihnachtslieder.
Er hatte für jede Jahreszeit die richtige Kleidung, fror nie, schwitzte nie, bewegte sich, wenn es kalt war etwas öfter, wenn es heiß war wenig bis gar nicht. Die Bäume über ihm spendeten wohltuenden Schatten und meist kühlte ein leichter Wind. Bei Regen spannte er einen großen, alten Schirm auf und nur ein Sturm oder Gewitter vertrieb ihn gelegentlich oder hinderte ihn am Aufstieg.
Im Dorf war er genügend bekannt, so dass keiner sich über diese Einseitigkeit seiner Lebensgestaltung wundern mochte. So war er eben. Punkt.
Es gab sogar Überlegungen im Gemeinderat, nach seinem Tode ein Schild bei der Bank, seiner Bank, auf zu stellen mit einem schönen Bild von ihm, dass seine Kinder bereits heimlich ausgesucht hatten, eines, wie er auf der Bank saß, beschienen von der Abendsonne. Dazu sollten seine Lebensdaten geschrieben werden und so Besuchern das alles die besondere Heimatliebe der Talbewohner beweisen.
Allein,. dazu kam es nicht. Denn es trafen eines Tages durch einen besonders hartnäckigen Kommissar aus der Kreisstadt Sachen zusammen, die sich keiner je hätte vorstellen können, jedenfalls nicht so und auf keinem Fall mit diesem alten Mann.
Seit einigen Jahren, tatsächlich seit Beginn des Rentenstatusses des alten Mannes, verschwanden einzelne Touristen spurlos in den Bergen. Natürlich hatte nie jemand auch nur einen Gedanken über eine solche Parallelität verschwendet. Nur der Kommissar, erfahren, aus langjähriger Gewohnheit besonders hartnäckig, mochte nicht an Abstürze in irgendwelche tiefen Felsspalten glauben, schon gar nicht, da einige dieser Touristen sich in einem Alter oder gesundheitlichem Zustand befunden hatten, die größere Bergtouren für ihn jedenfalls völlig ausschlossen.
Sie mussten in der Nähe des Dorfes verschwunden sein. Und da oben saß jeden Tag ein alter Mann und sah hinunter. Er könnte, ja er müsste etwas gesehen haben, auch wenn er dem Gesehenen vielleicht selber keine Bedeutung beimessen mochte.
Aus diesem Grund begab sich der Kommissar mehrere Tage hintereinander hinauf zu dem Alten, der ihn von der ersten Sekunde an grimmig angeschaut und nur spärlich geantwortet hatte.
„Sie möchten lieber alleine hier sitzen?“
„Ja!“
„Ich brauche aber Auskünfte von Ihnen.“
„Ja.“
„Sie haben von den Vermissten gehört, diesen Touristen?“
„Nein.“
„Wieso nicht. Das ganze Dorf spricht doch darüber. Schließlich schädigt es den Ruf als Erholungsort, wenn jedes Jahr zwei bis drei Besucher auf unerklärliche Weise verschwinden.“
„Der Tatzelwurm!“
„Wie bitte?“
„Der Tatzelwurm. Den gab es schon früher hier. Nahm erst Vieh, dann kleine Mädchen. War dann wieder weg. Nun ist er wohl wieder da.“
„Der Tatzelwurm?“
„Ja.“
Der Kommissar kannte natürlich das Märchen vom bösen Drachen, dem Tatzelwurm, der hier und da aufgetaucht sein soll, Vieh und Mädchen zu rauben und zu fressen. Er hatte immer den Verdacht gehabt, diese Geschichte hätten sich Eltern in grauer Vorzeit ausgedacht, um ihre Kinder davon ab zu halten, alleine in den Wald zu gehen, denn von dort pflegte dieser Wurm stets zu kommen. Er hoffte nur, dass es ihm besser gelingen würde seinen Täter zu fassen als den Leuten im Märchen, die den Tatzelwurm nie fangen konnten, wie das tapfere Schneiderlein das Einhorn oder gar töten, wie einst Siegfried, der Drachentöter.
„Und sie interessiert das alles nicht?“
„Nein.“
„Auch nicht dieser Tatzelwurm?“
„Nein, solange er sich an die Touristen hält. Meine Kinder kriegt er nicht.“
„Ach so, bei ihren Kindern hört auch bei Ihnen der Spaß auf?“
„Ja!“
„Und die Touristen sind ihnen egal?“
„Nein.“
„Also tun sie Ihnen doch leid.“
„Nein.“
„Sie mögen keine Touristen?“
„Ja. War schließlich selber auch nie Tourist und bin anderen auf den Geist gegangen. Jeder dahin wohin er gehört.“
„So?“
„Ja, so!“
So und ähnlich lief das Gespräch, soweit man es als solches bezeichnen mag, stets und der Kommissar kam trotzdem wieder und wieder. Er hatte einfach das Gefühl, der Alte hätte etwas gesehen und gäbe nur aus seiner Abneigung gegen Touristen nichts preis.
Nach vier Wochen erwartete der Alte ihn stehend vor der Bank.
„Sie geben ja doch keine Ruhe.“
„Das geht auch nicht. Mein Beruf ist es nun mal solche Fälle auf zu klären.“
„Verstehe ich nicht. Egal. Kommen sie!“
Der Alte ging einfach vor ihm in den Wald hinter der Bank. Der Kommissar folgte ihm bis der Alte mit einem Ruck stehenblieb und mit seinem Stock nach vorne zeigte.
„Da!“
„Was ist da?“
„Was suchen sie denn?“
Kopfschüttelnd umrundete der Kommissar den Alten und ging in die Richtung, die der Stock so gebieterisch ihm wies.
Nach ein paar Schritten gab die Erde plötzlich unter ihm nach. Er befand sich gerade zwischen zwei kleinen Birken, die sich zwischen die Kiefern und Eichen hier geschmuggelt hatten. Vergeblich streckte er seine Hände nach ihnen aus und fiel, wie es ihm vorkam, ein paar Meter bis er auf etwas fiel, was weich war und unter dem etwas knackte.
Gut durchtrainiert und Kampfsport erfahren hatte er sich noch im Aufprallen abgerollt und so die Wucht aufgefangen. Trotzdem taten ihm sofort mehrere Körperpartien äußerst unangenehm weh. Er konnte aber alles weiter bewegen.
„Wo sind sie?“
„Hier, aber ich gehe jetzt. Sie haben was sie suchten. Viel Spaß damit!“
„Wie bitte?!“
Er bekam trotz mehrerer Rufe keine Antwort mehr, stattdessen wurde es dunkler über ihm. Offensichtlich baute der Alte die Falle wieder zu. Der Kommissar verhielt sich ruhig, sagte nichts mehr, musste erstmal verdauen, was hier geschah und die Erkenntnis, was der Alte offensichtlich war.
Ein Mörder. Ein Massenmörder würden die Zeitungen schreiben. Ein Touristenhasser.
Aber erstmal musste er hier raus. Er sah erst gar nicht nach, worauf er stand, wusste es auch so: wahrscheinlich 23 tote Touristen, vor allem Alte, Kinder, Gehbehinderte. Er zog das Handy hervor, rief die Wache im Dorf an, beschrieb ihnen wo er war und in welcher Lage, aber noch nicht, wie er dorthin gelangt war. Wer weiß, wahrscheinlich hätten die das ganze sonst für einen üblen Scherz seinerseits aufgefasst oder steckten vielleicht sogar mit dem Alten unter einer Decke. Nach diesem Erlebnis hier konnte er nichts mehr ausschließen.
Nach seiner Befreiung verhafteten sie den Alten, bestellten die Spurensicherung und transportierten ihren Gefangenen in das Kommissariat in der Kreisstadt.
Dort begann der Kommissar sofort, zusammen mit einer Kollegin, die Befragung. In deren Verlauf trafen erste Nachrichten aus dem Wald bei ihnen ein. Die ersten Toten konnten identifiziert werden.
Der Kollegin begann ,wie vorher zwischen ihnen abgesprochen, mit der Frage: „Warum?“
„Wieso lässt man mich nicht allein auf der Bank? Habe ich mir das nicht verdient?“
„Und deswegen haben sie all die Leute getötet?“
„Ich? Ich habe niemanden getötet. Sind doch selbst dahin gegangen, genau wie Sie. Neugierige Leute, nervige Leute, stören, machen sich breit, ohne jeden Respekt!„
„Aber sie haben doch das Loch jedes Mal danach wieder versteckt, damit eine neue Falle aufgebaut?!“
„Von einer Falle weiß ich nichts. Das Loch konnte doch nicht so bleiben, sieht nicht schön aus im Wald, so ein Loch.“
„Und wieso sind die Leute dann gestorben?“
„War der Tatzelwurm, sagte ich Ihnen doch schon. Der ist nie satt. Besser er holt die Touristen als unsere Kinder, so wie früher.“
„Wollen Sie damit sagen, das Loch war so etwas wie ein Futtertrog für ihren Tatzelwurm?“
„Ist nicht mein Tatzelwurm!“
Der Alte wurde gegen seinen ab da nie mehr endenden Protest in die Psychiatrie eingewiesen, das ganze Dorf war entsprechend entsetzt, zu einem Schild an der Bank ist es aber kurz darauf trotzdem gekommen, nur dass die nun über einen Mörder erzählt, der im ganzen Land für Aufregung und Schauder gesorgt hatte und mit dieser zweifelhaften Berühmtheit warb man nun und das sehr erfolgreich. Tausende von Touristen kamen zu der Bank des Alten, ließen sich dort und an der zum Gedächtnisort umgestalteten Lochstelle fotografieren. Hätte er es gesehen, hätte der Alte vielleicht laut aufgeschrien und sich vor Wut, wie einst das Rumpelstilzchen, ein Bein ausgerissen.
Von da an, wenn einer das alte Alpenmärchen vom Tatzelwurm irgendwo zum Besten gab, folgte gleich darauf und stets die Geschichte vom Alten auf seiner Bank hoch über dem Tal und dem tiefen, tödlichen Loch zwischen zwei jungen Birken.

(c) Text und Bild: Jörn Laue-Weltring, Lingen 2013

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